Wer ist der Schuldige? (2. Fortsetzung.) „Dann riß Marie das Gewehr von Onkel Max von der Wand. Piff, paff, und der Hund lag lang da und war mausetodt." „Gott sei Dank" brach es ihm, wie befreit von schwerem Alp, aus innerster Brust hervor. „Lassen Sie uns zuerst mal in den Stall gehen, Sie verstehen sich jawohl auf Thierbehandlung", bat er. Und ohne viel Redensarten führte «r mich, an der Veranda vorüber, über goldgelbe Kiessteige durch den gut ge pflegten Garten rings um das Haus zu den Wirtschaftsgebäuden. Die Thür zum Kuhstall stand offen. Das helle, goldene Mittagslicht fluthete Aber die rothmangige, robuste Magd, die, de» RnnkelrUbeiistößer unthätig in der Hand, in den Stall glotzte, über den ganzen sauber gehaltenen Raum hin. Ein ängstliches Gebrüll drang uns entgegen. Neben der schweisschlagen deii, init dem Hinterfuße ausstoßenden Kuh stand eine Frau und streichelte mit beruhigendem Zuspruch über das atlaS glänzende. schwcißbcdcckte Fell des Thiere», das mit jämmerlichem Muhe» großäugig de» Kopf der freundlichen Trösterin zuwandte, als wollte es dort sein Leid klagen. „Ja, du arnies Thier, du armes Thier," tröstete die Frau, die uns den Rücken zugekehrt hatte, und hob einen Arm voll Grünfutter vom Boden auf, daß das fchmerzgcqnälte Thier um sich verstreut hatte. „Kinder, kommt nicht zu nahe, die Liese ist rabiat", mahnte sie dann und nickte traulich einem Kleinchen zu, das auf der Futterkiste mit zappelnden Beinchen stand »nd die Aermchen verlangend ihr zustreckte. „Schluchzen Sie doch nicht so, Fräu lein, es wird ja nicht viel zu sagen ha ben, der Thierarzt wird wohl auch gleich mit dem Johann da sein", wandle sie sich einem ältlichen, sehr lan gen, sehr hageren Frauenzimmer zu. das ganz außer Fassung schien. Nun traten wir ein. Der geistliche Herr rief die Frau aus dem Abschlag durch ein „Marie" herbei. Ein ganz besonderer Ausdruck, war's Beforgniß, Wärme oder Furcht? lag in dem Ton. Nun trat sie in's volle Licht. Ich wun dere mich heute noch, daß ich so viel Be herrschung hatte.nicht laut aufzuschreien. Der heiße Mittagsstrahl lag über ihrem rothgoldigen Wellenhaar, dem edlen römischen Prosil, der herrlich prangen den Gestalt. Von milchweißen, wun derbar geformten Armen waren die Aermcl zurückgeschlagen bis zum tiefen Grübchen im Ellenbogen. Im Arbeits eifer waren die Haken eines verwasche nen Leincnsähnchens, das ausgewachsen und zu knapp geworden, um die üppi gen Formen bequem zu umspannen, am Halse aufgegangen und ließen ein wenig die schlanke, marmorgleiche Säule frei, an der kein Knöchelchen oder Fältchen in ebenmäßiger Rundung sichtbar wurde. Welch ein Prachtge fchöpf! O mein Herr Pastor, Sie sind doch wohl nicht ganz der Gottmensch, den Ihre idealen Augen künde». Ein Stich der Eifersucht durchfuhr mich, ein häßlicher Argwohn, und ich deutete mir das leise Zittern in seiner, als er besorgt danach forschte, ob ihr auch nichts ge schehen sei. Ihr? Er fragte zuerst uach ihr, dann erst, nach erleichtertem Ausblick, nach seinen Kindern. Die hatten sich alle um die Gruppe gedrängt, und eines überschrie das ändere im ErzählungSeiser, mit dem sie Marie als Heldin und Erretterin priesen. „So danke ich Ihnen also die Erhal tung der Meinen, Marie," sagte Pastor Trost tief bewegt und reichte ihr die Hand. Die altjüngferliche Schwester des Pastors kam jetzt auch aus ihrem Win kel und ließ die Schürze, in die sie krampf haft hineingeweint, einen Augenblick vom Munde. „Heut' bitt' ich's ihr ab, daß ich sie immer zum Hause hinaus haben wollte," rief sie mit Eifer. „Wäre sie nicht gewesen mit ihrer Msolutheit und Geistesgegenwart —, o mein Gott, mein Gott, was ans mir und den Kindern geworden wäre!" jammerte sie auf. „Ich darf nicht daran denken, Gott l>old, dann wird mir schwarz vor Au gen. Tu mußt Dir die Bestie ansehen, Schaum vorm Maul, Feuer in den Augen, und den Schwanz eingeklemmt, so kam sie geradewegs auf uns losge schossen. Ja Kind," kopsnickte sie „Sie haben heute Alles wieder gut gemacht, und mir soll noch Einer was gegen Sie sagen. Jetzt haben Sie Eine, die für Sie durchs Fener geht." Marie (wie wenig paßte der alltäg liche Name zu dem wundervollen Ge schöpf) hatte den Sturm der Begei sterung, wie auch die Lobrede der Tante, ruhig über sich ergehen lassen nnd zog bescheiden ihre Hand aus der des Geist lichen. „Ich hoffe," sagte sie mit sonorer Stimme. „Sie werden »rein schnelles Handcln bei der Kuh nicht tadeln, Herr Pastor (sie legte gege» die LandeSgc wohnheit die Betonung aus die zweite Silbe) ich brannte die leichte Bißwunde gleich ans, damit das Gift nicht ins Blnt übergeht, habe aber auch sofort zum Thierarzt geschickt." Der kam in diesem Augenblick und trat dadurch in den Bordergrund des Interesses. „Kinder, Marie," rief der Hausherr, „führt unser» lieben Gast da ins Haus, ich komme gleich nach." Und sich zu sei ner noch immer fasfungsloscn Schwester wendend, griff er zn dem besten Mittel, ihr das seelische Gleichgewicht zurückzu geben, indem er sie aufforderte, ihr Extragcricht sür den Mittagstisch zu de sorgen. „Kinder, pflückt schnell Himbeeren und Johannisbeeren und Sie ein paar Glaskirschcn, Marie," beorderte Fräu lein Trost, ganz wieder in ihrer Küchen feldherrnrolle, und man führte mich, als ich mich bereit erklärte, zu helfen, im Triumph in den ausgedehnten Obst- und Küchcngarten. Die Kinder duckten sich unter die dichten, grünen Büsche, in denen üppige Traubeubsischel in rubin rothem und weißem Krystall leuchteten. Ich sah's, wie manche Faust voll Früchte an die naschhaften Mäuler ge drückt wurde, ehe andere in das Sam melkörbchcn kamen. Ein wenig half ich anfangs, aber das ungewohnte Bücken und Herumkriechen ward mir sauer. Zudem sah ich, wie in einiger Entfernung auf dem Rasen platz sich zwei Arme oft vergeblich nach den immer wieder emporschnellenden Zweige« hochstreckten, die die Finger spitzen an einem Blättchen glücklich er wischt hatten. Natürlich mußte ich da beispringen, wo meine Hilfe mehr benöthigt war, und ich schlenderte auf den einsam ste henden Kirschbaum zu. Das Sonnenlicht brannte auf dem unbedeckten Haupt und ließ es wie ge sponnenes Altgold aufsprühen. Aus dem ängstlich glatt gehaltenen Scheitel hatten die Zweige einzelne rebellische Löckchen losgehackt, die neckisch um eine klassische Stirn schaukelten. Der üp pige Knoten an, Hinterhaupt war auch -ausgegangen, und goldige Wogen schaukelten bei jeder Bewegung bis i>? die Kniekehle chi». Wie sie mit hochge streckten Armen den Oberkörper straff gebogen, »ach den Kirschen langte, ver rieth sie »lir ahnungslos die ganze kraftvolle Pracht ihrer Gestalt. Kein Mieder, kein Fischbein engte die idealen Formen ein. Mich überrieselte schaudernd ein un heimlich süßes Erschrecken. Das Weib, ich fühlte es deutlich, war das Fatum meines Lebens. Zum dritten Male, wo ich am Wendepunkt desselben stand, trat es bedeutungsvoll in meine Exi stenz: bcim Abschied, als erster Willkom mensgruß, jetzt wieder, wo ich uueins mit mir von meiner zukünftigen Braut kam. Eine trutzige Kraft brach im heißen Strom aus ihren merkwürdigen Augen (großen, wie von innen erleuchteten Pupillen mit ganz schmal-lichtem Ring), als der Ast unter ihren Händen weichen wollte. Die geblähten Nasenflügel vi brirten leidenschaftlich, und die ge schwellten Lippen schloffen sich fest. „Ich zwinge Dich doch," sprach die zusammengeraffte Widerstandskraft in Haltung und Ausdruck. Das Weib (es hatte, trotz aller Ju zendfrifche durch feine strotzende Blüthe, kaum was Mädchenhaftes mehr) gefiel mir mit jeden« Augenblicke bester. Hhre nnbezähmte Leidenschaftlichkeit impoiiirte mir. Den geleckten Scha blonenmenschen im lieben Vatcrlsnde gegenüber erschien sie von urwüchsiger Originalität. Jetzt hielt ich ihr den Zwe ig, und sie pflückte eifrig. Ein Ausdruck hohen Staunens war iiber ihr Gesicht gegangen, dann hatte sie dankend ein Wort gestammelt und jetzt sammeltcu wir eiuträgtiglich die durchsichtigen Glastirschen in den Korb, den sie in den Ast eingegabelt hatte, flls dann die unteren Zweige unloh iiende Ernte boten, versnchte ich mich mit Glück in meinen Knabenkünsten; klomm mit miklasfternden Beinen und Armen den Stamm empor, ritt auf zem kräftige» Ast, der unter meiner Last leise schwänkte, und reichte Marie von dort die gebrochenen Früchte zu. Nieine Hände und ihre begegneten sich. Obschou sie ungeschont und verarbeitet lvaren, hatte die edle Form sich er halten. „Danke bestens, es wird genug sein," rief sie nach einer Weile hinauf und nahm, ohne mein Herabsteigen abzu warten, den Korb vom Rasen auf und zing schnell den Gartensteig entlang. Ersichtlich war sie nicht gewöhnt, hier wie eine Dame behandelt zu werden, lind fühlte sich nicht berechtigt, die Rück sichten einer solchen gegen Gäste zu äben. Mit einem Satz war ich vom Baum, mit schnellem Schritt neben ihr. „Wollen Sie mir erlauben, Ihnen )en Korb in'S Haus zu tragen, mein Kräulein?" „Danke." gab sie.freundlich zurück, .ich bin an schwere Lasten gewöhnt," and die Frage nach ihrem Namen erra lhend: „Man nennt mich hier im Hause Marie." „Was sagen will, daß Sie eigentlich üncn andere» Namen führen." „Ja, Romana," entgegnete sie ruhig, »hnc die leiseste Verlegenheit. „So sind Sie nicht deutschen Ur sprungs? Sie sehen doch germanisch aus?" „Ja und nein. Germanisch von Zeiten des Vaters bin ich allerdings. Meine Mutter stammte sreilich aus Manischer Familie, und nach der Groß mutter ward ich getauft." Der Pastor kreuzte jetzt unfern Weg. ind seine Stirn runzelte sich unmuthig, ils er »»S in so vertraulichem Gespräch iaud. „Gehen Sie zu meiner Schwester und zelsen Sie ihr in der Küche," sagte er in einer so dürren Knappheit, wie ich sie diesem milde» Munde kaum zuge traut. Marie ging in dcmüthigem Gehorsam mit schnellen Schritten, um im Hiiiter zebaudc zu verschwinden.' „Erlauben Sie mir, verehrter Herr," sagte Pastor Trost mit etwas vibriren l>er Stimme, „Sie auf etwas aufmerk sam zu machen. Sie behandeln das Mädchen da wie (er suchte augenschein lich nach einem passenden Ausdruck) wie :ine Gleichgestellte...." „Sie macht mir doch den Eindruck,' fiel ich eifrig ein. „Ich will auch nicht ganz in Abrede stellen, daß sie ihrer Abkunft nach zu unserer Gesellschaftsklasse der Gebilde ten z» zähle» wäre", meinte er etwas verlegen. „Aber sie selbst hat sich wieder in das Anrecht gebracht. Kurz und gut, lieler Herr, fie istMine Straf entlassene, die ich aus Gnade und Barmherzigkeit in mein Hans aufge nommen, weil sie nirgends sonst ein Unterkommen fand. Sie dürfen also nicht viel Umstände mit ihr machen." Und dann, als reue ihn schon die scharfe Auslassung, setzte er begütigend hinzu: „Sie hat mir den damaligen Entschluß zwar tausendmal gclohnt. Sie ist mciuer kranken Frau während ihr»s langen SiechthumS und Sterbe lagers ein wahrer Engel der Barmher zigkeit geworden, hat das Neugeborene mit unermüdlicher Geduld und Liebe aus einem fast lebensunfähigen zu einem kräftigen Pflänzlein herange päppelt, meine mutterlosen anderen Drei behütet, versorgt, erzogen, wie's nur die eigene Mutter tonnte,voll liebe voller Nachsicht und doch mit Eonse quenz nnd vernünftiger Einsicht. Sie trägt die Laune» und Ungerechtigkeiten meiner, sonst braven Schwester bis zu diesem Tage mit der Lammsgeduld, die wohl der geistigen Ucbcrlegcuheit ent springt. Ich muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie meinem ver waisten Hause der wahre Schutzgeist ge worden, den» meine Schwester mciiit'S gut, weiß aber mit Kindern gar nicht umzugehen und ruft immer Rebellion durch widersprechendste Anordnungen bei diesem und dem Gesinde hervor, und Marie muß Ales wieder schlich ten." „Was hat sie verbrochen?" sorschte ich mit sieberischem Interesse, einem Interesse, das all meine Pulse beflü gelte und mich auf der Hut gegen mich selbst hätte fein lasten inüffe». Der Geistliche sah nur die gewöhn lichste Neugier darin und antwortete orglos: „Ich möchte es nicht in dürren Wor ten aussprechen, weshalb sie vcrur theilt wurde. Man müßte gleich die volle Erklärung dabei abgebe» können, damit das Haarsträubende der That verständlich und entschuldigt ist. Viel leicht lernen wir uns noch näher ken nen während Ihres hiesigen Anfent haltes, mein lieber Herr Jbelius, und ich erzähle Ihnen dann die traurige Geschichte des arme» Geschöpfes. Eines dürfen Sie aber unbedingt glauben, wenn man Jene als cine Verbrechen» behandelt, dann gibt es unter uns nur wenige Schuldlose, und auch das nur, weil wir mehr Glück hatten als die Un glückselige!" Ich glaubte es ohne diese feierliche Rechtfertigung, weil es mir Bedürfniß war, sie nicht für schlecht zu halten. Bei Tische, mein Wirth hatte übri gens seine Küche nicht zu viel gelobt, und sie machte der trefflichen Justine Trost alle Ehre, saß Marie bescheiden zwischen den Kindern an einer Seiten tafel und bediente diese, das Nestküchlein aus ihren Knieen haltend uud dieses fütternd. Sie betheiligte sich nicht an der Unterhaltung, hatte aber ein auf merksames Auge für die Bedürfnisse aller Hausgenossen und sprang, das Kleinste in feinen hohen Stuhl fetzend, diensteifrig, zu, als dem Pastor die Serviette HU Boden fiel, und Fräulein Justine sich nach Brod am Tische um sah. Also die Stellung zwischen Magd und Hausfräulein, sagte ich mir und wußte nicht, ob ich ihr wie den anderen Tifch gcnosjen nach dem Tischgebet die Hand zur gesegneten Mahlzeit bieten solle oder nicht. Sie »lachte, mich erra thend, dein Zandern mit sicherm Takt ein Ende dnrch eine leichte Verbeugung gegen uusereu Tisch hin, da sie das Sichcrheitsbrett von Nesthäkchens Kin derstuhl abhakte und das watschelnde, krähende Geschöpschen zum Kuß dem Papa zuhob. Mir wollte scheinen, als ruhte der gottselige Blick wohlgefälliger als nö thig auf dem arglosen Mädchen, wäh rend der geistliche Herr sein zappelndes Kind ihr von den Armen nahm. Es »lochte aber auch nur der warme Strom allgemeiner Menschenliebe sein, der von ihm sich auf die ganzen leiden den Menschen, im Speciellen diese arme Kreatur, ergoß, und ich that ihm viel leicht mit meinem Mißtraue» bitteres > n 'cht. Las Verhältniß war jedenfalls ein sehr sörmliches und von ihrer Seite das dienstgemohnter Unterordnung. Es ging aus der Form der Anrede ja deut lich hervor, als sie gleich nachher beschei den sragte: „Wünschen der Herr Pastor den Kasfee hier oder auf der Beranda?" „Machen Sie ihn immerhin im Gar tenzimmer, liebesKind," sagte er freund lich. „wir setzen uns auf die Veranda, da können Sie mit anhören, was dieser Herr, der aus fernen Landen kommt, mir davon erzählen will. Ich weiß ja, wie Sie dafür schwärmen." Sie lächelte, dankbar erfreut, und blitzschnell war das Kaffeegeschirr in zierlicher Sauberkeit zur Stelle, wäh rend wir in angeregtem Plaudern auf der Beranda Platz nahmen, und Frage und Antwort sich bei gemüthlicher Ci garke folgten. Ich kramte denn auch all meine Weisheit, die langjährigen Erfahrun gen über Land und Leute, die eigenen Betrachtungen des letzten Jahrzehnts aus und mag da schön in Wärme ge rathen sein, daß ich darüber Zeit und Ort der Unterredung vergaß und mich hinreißen ließ zu begeisterten Natur schilderungen. Das instinktive Empfinde» konzcntrir ten AngeblicktmerdenS rief mich in die Wirklichkeit zurück und zog mein Auge maguetisch an. Ich sah durch die offene Thür gerade in ein Augenpaar von so beherrschend mächtiger Glnth, daß ich fast davor erschrak, Die Augen hingen sörmlich an meinen Lippen, sie schienen die Worte mit Extase. mit Heißhunger einzusaugen, wie wohl die erste Christen heit in Fanatismus die OsscnbarunHS lehre. Es war gleichsam, als predige ich ihr ein neues Evangelium, eine neue Erlösungsgeschichte, mit so heili gem Eiser verschlang sie jeden Laut, der von meinem Munde kam. Mallv battc dabei beute srüb diskret hinter der Hand gegähnt, und mein Paradies und die Bufch gefunde», und diese da begrüßte es er sichtlich wie das gelobte Land. ES reizte mich, doch zu erfahren, was sie dabei so augenscheinlich gefesselt hatte, nnd als der Pastor einen Augen blick die Stufen in den Garten hinab stieg, um feinem Aeltesten zu zeigen, wie man die Heckenschecre handhaben mnßte, trat ich zu ihr in daSlGarten,zimmer, das leichte zierliche Korbmöbel zu gar sreundlichem Aufenthalt gestalteten. „Verführen Sie meine wildwuchern den Fuchsien, groß wie die Bäume un seres Waldes?" Sie goß eben den Kaffee ein, und etwas eigen Traumverlorenes lag über den Zügen. Das innerliche, gleichsam phosphoreszirende Fener, das diesen eigenthümlich geschnittenen Augen etwas soUngewöhnlicheg gab,leuchtete mir aus den große» Pupillen entgegen, als sie bei meiner Anrede schreckhaft zusam menfuhr und kopfschüttelnd zu mir auf blickte. „Was fesselt Sie denn in meinen Schilderungen?" fragte ich wieder. „Was mich darin fesselt?" wieder holte sie nachdenklich, und dann brach es leidenschaftlich aus ihr hervor wie ein Strom, der gährend plötzlich die Eisdecke durchbricht, die ihn gewaltsam im Bann gehalten. „Die Freiheit, die persönliche, die geistliche, die bürgerliche; das LoSgelöst sein vom Althergebrachten, Herkömm lichen, von all dem GesellschastS- und GewohnheitSzwang, die köstliche Frei heit. sich ausleben zu.können nach Ei genart und Neigung!" „Sie scheinen hier unter dem Druck der Unfreiheit zu leiden?" fragte ich höchlichst interessirt. Sie seufzte leise auf. „Man ist sehr gut zu mir, über Verdienst hinaus. Ich wäre undankbar, mich zu beklagen." sagte sie sanst. Ich verstand, verstand sie nur zu gut. Auch die VelowS behandelten mich ja freundlich auf ihre Art. Nur daß ihre nicht meine war, und mir die Unfreiheit dort den Athem versetzte. Nu» begriff ich die nächtliche Sonne im Sumpssee. Dort tobte sich diese in der moralischen Gefangenschaft schmach tende Seele körperlich und geistig aus. Da schüttelte sie die Pastorale Zwangs jacke von Ton und Geberde ab. Da raste sie, die Ueberfülle von Lebens- und Geisteskraft in der Verborgenheit, von Keinem gesehen oder geahnt, minu tenlang aus. Das waren Augenblicke ihrer geistigen Erlösung. Die uuhcimliche Sphinx ward mir dadurch menschlich näher gebracht »nd in unseren Naturen begegnete sich hierin der wahlverwandte Zng. Ich freilich harte nicht Dunkel und Geheim niß der Nacht zu suchen, wie dies ge fangene Geschöpf hier, um der über schüssige» Kräste ledig zu werde». Ich arbeitete sie tüchtig in nutzbringender Thätigkeit seit Jahren aus. Auch hiervon sprach ich ihr nun, ohne mit einem Ton ihr und mein Geheim niß nur zu streifen, und immer wärmer leuchteten die Augen auf. und ein lei ses Roth särbte flüchtig die ebenmäßig durchsichtige Blässe des edlen Gesichtes. „Wie glücklich müssen die Menschen sein, denen es vergönnt ist, nutzbrin gend in absoluter, persönlicher Freiheit zu wirken," wiederholte sie sast schwär merisch. Ich mußte unwillkürlich lächeln. „Sie veranschlagen diese sehr hoch. Die Rückseite der Medaille heißt aber: gänz liches Vcrzichtleisten auf all jene Ver wöhnung modernen Coinsorts, den man hier glaube ich schon als unent behrliches Lebensbedürfniß ansehen würde." Nun lächelte sie auch. Welch ein stolz verachtend»-» Lächeln über all de» Tand, die Nichtigkeiten, die das Leben anderer Frauen ausfüllen. Und als sie den Blick an ihrem verwachsenen Kattun kleidchen hinstreifen ließ, sprach das hochmüthige Zusammenziehen der kühn geschwungenen Brauen, das wegwer fende Zucken des üppig geschwungenen Mundes und dieser sarkastische Blick über ihre Kleidung hin. den energischsten Protest aus, ohne daß ein Laut über die Lippen kam. „Kommen Sie doch mit in mein ge lobtes Land, wir können Menschen da gebrauchen, die sich nicht vor Arbeit und Entbehrung scheuen,' rief ich unbe dacht. und an dem aufstrahlenden Blick sah ich erschreckt, was ich angerichtet hatte, und begrüßte es nicht ungern, daß des Pastors Rückkehr unser Gespräch unterbrach und ich mich nachdem Kaffee pflichtschuldigst empfehlen mußte. 111. Kapitel. Nun war ich in aller Form erklärter Bräutigam des Fräulein v, Below, meiner Zukünftigen aber dadurch nicht um ein lota näher gerückt. Und merkwürdig genug nichts trieb mich an, die Mauer sittsam» Zurückhaltung zwischen dem gnädigen Fräulein und mir mit bäuerischem Ungestüm nieder reißen zu wollen. Wir nannten uns vor aller Welt „Du." Ich halte, wenn ich gewollt, de» Arm vertraulich um die festgeschnürte Wespentaille legen dür- und manchmal sah ich, die hellen, nichtssagenden Augen auch wohl ver wundert auf mein Antlitz streisen, daß ich so wenig bräutliche Anrechte gel tend machte. Dann mochte man sich :S auch wohl mit dem scheuen Respekt .rklären, den mir meines ehemaligen Patrons Tochter noch immer abnöthigen könnte. UnsereßerlobnngZanzeigen mit gold zedrucktem verschlungenem Monogramm waren in die Welt geflogen, aber noch hatten meine Lippen nicht die dünnen blutlosen meiner Braut berührt. Der eine Borderzahn, den ich als eine sehr gelungene Imitation erkannte, die Goldplomben der schadhasten Nachbarn flößten mir nämlich eine heilige Scheu vor naher Berührung ein. Nochmals in aller Form geworben hatte ich freilich mich nichk. Aber Je der hier kannte den Zweck ineines Kom mens. Jeder wußte das Ziel meiner Reise übers Weltmeer nnd meines Ausenthaltcs in dem weltvergessenen Städtchen. Jeder sah mich neugierig prüfend mit vielsagendem Lächelr. an, wenn ich durch die stillen Straßen zu Feinliebchens verwunschenem Schloß am Mittag pilgerte, um mich weidlich in lHesellschast des feudalen Junkers und feiner Damei? zu langweilen. Bei Tische sprachen der Barou und ich Politik, oder vielmehr ich ließ ihn ununterbrochen seine ultra-reaktionär« Weisheit anSkramen, die sür mich wie eine Sprache aus unbekanntem „Wöl kenkuckucksheim" war. Nack) Tische, wo er sein Schläschen hi.'kt, beglückte mich Mally mit der Offenbarung ihrer schönen Seele, die ihre volle Enlsaltung in de» landesüblichen Kasseeklatschen, MissioiiSversainmlungen, Licderkrünz chen und last, »ot lskst, gegenseitigen ComniiSabsütterungen mit dem vorneh men Regiment des Nachbarstädtchens fanden. Auch das war meiner Bau erneinfalt ein verschlossenes Paradies »nd auch der Abendandacht, die Miß Judith Sampson uns erst privatim abhielt, um uns auf die allgemeine große würdig vorzubereiten, konnte ich kein« weihevolle Stimmung entgegen bringen. Schlicht und recht hatte ich zu mei nem (Vott im Gebet so ost ties in der Wildinß den Weg gesunden, auf die Knie geworfen von irgend einem über wältigenden Eindruck in seiner großen Natur, einem Elenieutarercigniß, einer Schöpsergröße, die meiner ahnungs vollen Seele urplötzlich als überzeu gende Weltweisheit der allmächtigen Geister über den Wolken sich offenbar ten. Mechanisch nachplärren, was die Ander» vorbeteten, vermochte ich nicht. Ich war wohl ein unverbesserlicher De mokral da im Busch geworden, der in die übersirnißte Welt nicht mehr hinein paßte. Der Zustand war ein uner träglicher. Uni mich zu prüfe» auf den Gehalt meiner Gefühle hin, schlug ich eines Tages vor, ich wollte aus kurze Zeit zu meinem Mütterlein. „Nachher," sagte der Baron mit ge heiniiiißvollem Lächeln und jenem gön nerhafte» Wohlwolle», gegen das ich mich innerlich jetzt immer stark empörte. Und als hab.' er mir die beglückendste Nachricht der Welt zu gewähren, löste er die gekreuzten Bindfaden von einem Packet, das eben die Post abgegeben, und reichte mir mit olympischer Gnade eine der glacirte» Doppelkarten, zwischen der das schützende Seidenpapier kni sterte. Mit stockendem Athem schlug ich das elegante Karlenbüchlcin auf. Baron Malte Ernst August von Below beehrte sich darin, „die Verlobung seiner einzi gen Tochter Malvina Angusta mit d.in australischen Grundbesitzer Mr. Fran cis Jbelikis anzuzeigen", und damit mir an meiner Glückseligkeit auch nicht der leiseste Zweifel blieb, stand aus der an dern Seite unter dem goldenen, eng verschluiigenciiMonogramin noch pomp hast wiederholt: „Freiin Malvina Au gnsta von Below", und dann zu Füßen mein bescheidener, anglisirter Bürgers name. Mally erröthete tüchtig und stammelte ihr mädchenhaftes „O Papa!" Miß Judith weinte, als wollte ich ihr weißes Unschuldslamm mit dem kindlichen Halsbandchen zum Frühstück verspeisen, und unser großmüthiger Wohlthäter gerieth auch in gelinde Rührung, be tupfte sich mit dem seidenen Taschen tuch leicht die Augenwinkel und erlaubte dann r it pompöser Herablassung: „Sie können mich jetzt Papa nennen und meine Tochter umarmen." Nichtsehr Überseurig habe ich von dieser Erlaub niß Gebrauch gemacht und dazu Mally erst deu umklammernden Armen ihrer Duenna abringen müssen, die sie hin und her wiegte und über sie hin weinte und stöhnte, als ginge es mit dem "poor otiil6" direkt zur Schlachtbank. Nun fand ein Familienrath statt. Mich fragte natürlich kein Mensch, auf welche Weise man das große Ercigniß der Welt, der kleinen hier ein paar Meilen in der Runde, am würdigsten protlamiren wollte: Ob durch eine Ge sellschaft hier im Hause oder bei der längst verabredeten Landpartie in der nächsten Woche. Mally und die Samv son stimmten begeistert dasür: „Es sei so romantisch," schwärmte die alte Jungser. Der Baron kämmte mit den langen weißen Fingern bedächtig das spärliche Haar, »i»i> das Resultat seines ange strengten Nachdenkens war: „Er müsse für eine Gesellschaft zu Hause entschieden noch Markobrunner nachbestellen! beim Picknick reichte der Moselwein vollkommen zur Bowle aus, wen» man ein oder zwei Flaschen deut schen Sekt darunter thäte." Eine verschwenderische Hausfrau ward mir Mally entschieden nicht. Ich hätte eigentlich meine Freude daran ha ben müssen, wie wirthschastlich, ja kleinlich sparsam sie jetzt mit dem Vater die Vorbereitungen für das Picknick be rechnete und ihm vorhielt, er sei viel zu großartig und für die Anderen initbe dacht, die schließlich nur harte Eier und gewöhnlichen Aufschnitt austausch ten. Man rechnete mich jetzt ersichtlich zur Familie uud genirte sich nicht die vor mir. Auch beim Pfarrer rechnete man mich augenscheinlich dazu. Ich kam und zing zu jeder Stunde, und da ich deren viele hatte, mit denen ich nichts anzufan gen wußte, suchte ich eifrigst die pur so synipatischcn Leute, den menschen freundlichen Pastor, die hausbackene, chrliche Schwester und die reizenden Kinder auf, die sich zu mir längst ein herz gefaßt und kameradschaftlich mit mir umgingen. Den großen Jungen «ar ich ein Gegenstand lebhaftesten Interesses und ewigen Ausfragebedürf »isseS. Das Kleinchen, als echte Eva -5 iochtcr. wendete alle VerführungSkünste an, mich um die erwartete Düte zu er schmeicheln. Es watschelte mir jetzt schon zutraulich entgegen, starrte mich aus großen, blauen Wachspuppenaugen erwartungsvoll an, kreischte mir ein hellfreudiges „Du Mann, Du Mann," „Fänzchen schön macht", neues Teid!" entgegen und ließ sich von mir haschen, necken, abküssen, aufgreifen und in die Luft heben, wobei mich immer Mariens still beobachtender Blick wie in ruhiger Verwunderung begleitete. „Wundern Sie sich, daß ich Kinder gern habe?" fragte ich sie mal. „Ja." sagte sie. „Finden Sie tx?s fo befremdend?" fetzte ich meine Nachforschung sort. Ich hatte ein Bedürfniß, einzudringen in die innere Welt dieses seltsam ver schlossenen Wesens. „Nur, daß sie sich so mit ihnen be schästigen, so ganz auf ihren Jdeengakg eingehen könne» und dabei so viel eige nes Genüge finden. Der Herr Pastor liebt seine Kinder ja sosehr, aber be schäftigen kann er sich nicht mit ihnen wie ihr Spielgefährte. Mein Vater vergötterte mich sörmlich, und doch er innere ich mich keiner Zeit, wo er sich zu mir herabgelassen. Im Gegentheil, er zog mich im zarten Alter schon zu seinen Interessen, seinen Beschäftigun gen heran und deshalb —" Sie brach seufzend ab, u»d ich wagte nicht weiter mit Fragen nach ihrer Vergangenheit zu dringen, da die Erinnerun daran sie ersichtlich trübc stimmte. Wir sprachen überhaupt nicht viel mit einander, da ich bemerkte, daß der Pastor es nicht gerne sah. Aber ich konnte meinen Augen nicht immer weh ren, daß sie dem herrlichen Geschöpf nachfolgten, wenn es so still, selbstver ständlich etwas gedrückt, Mutter- und Hausfrauenpflichten erfüllte, ohne die geringste Beachtung für sich zu fordern, mein Ohr nicht verschließen für die Musik dieses tiefen, klangvollen Or gans, das ungeschult war. aber in reich ster Naturbeanlagnng die schlichten Kir chenlieder der Kinder leitete; meine Ge danken nicht fortzwingen, daß sie dem räthselhasten Wesen dieses so originellen Geschöpfes auf den Grund zu kommen suchten, das der mystische Reiz des Ge heimnißvollen außerdem verführerisch verschleierte. Sie war nicht alltäglich, so schlicht und einfach sie sich gab. Darin liegt vielleicht des Räthsels Lösung, daß sie auf mich eine fast unheimliche Anzie hungskraft zu üben anfing, so wenig ich mir dieselbe noch klar machte, geschweige denn mir eingestand. Natürlich suchte ich nur den hochge bildeten Geistlichen; der Gedaukenaus tauffh mit ihm war mir Bedürfniß ge worden, und ihm, so schien's, gleichfalls cine liebe Gewohnheit, mit mir da aus der mondbeglänzsen Veranda zn sitzen und Alles durchzusprechen, was zwi schen Himmel und Erde webt und ties verborgen im Grunde der Menschcn seele. So lange wir da allein waren, wogte in mir dann wohl eine seltsame Un ruhe, und nur mit halber Aufmerksam keit lauschte ich und gab Antwort. Aber wenn da, nach geschehenem Tagewerk, uns zu Füßen auf den Treppenstufen eine weibliche Gestalt saß, die Arme und die Kniee beschränkt, das mondbeglänzte Gesicht im weltvergessenen Lausche» uns andachtsvoll zugehoben, dann kam Ruhe, köstliche zufriedene Ruhe über mich, unk ich fühlte mich wunschlos glücklich. Pastor Trost schien von dem Allen nichts zu bemerken, weil er unter ganz denselben Einwirkungen stand wie ich selbst. Nervös unruhig, auf jedes Thüröffnen lauschend, jedes Geräusch im Hause verfolgend, so lauge wir bei dem „unter uns" unsere Cigarre im Sonnendämmern qualmten, ruhig auf merksamer Zuhörer und Plauderer, so bald der stumme Zuhörer uns da zu Füßen hockte, von dem wir übrigens nicht die geringste Notiz nahmeil, vor dem »vir ungeniert alle Höhe« und Tiefen des menschlichen Daseins erör terten, als wäre sie so leblos wie der Holzpfeiler, gegen den sie ihr wunder schönes Haupt lehnte. Welch' köstliche Nächte! Welch' stumme Po'esie im tiefen feierlichen Schweigen allüberall. Dann und wann, wenn wir gedan kenvoll verstummten, schluchzte die Nach tigall auf, und das flim merte in bläulich-geisterhafter Helle über den reglosen Pappclkronen, daß sie schwarz wie Silhouette» gege» den leichten Nachthimmel ausstiegen. Durch die Blattlucken flirrten Silberfäden und gaukelten in leuchtenden Ringen um Mariens Kleidersaum. Phanta stisch erhellte die magifcheNachthelle das weiße Gesicht, daß es wie aus Marmor geschnitten schien, in dem nur die über-' irdisch strahlenden Augen lebten. „O Stunde, stehe still!" hätte ichJo» suas leidenschaftliche Bitte variiren mö gen. Aber die Parzen ruften nicht, sie spinnen unerbittlich die feinen Binde gewebe stiller Genügsamkeit.> Sie peitschen das wuuschlose Men schenherz mit der Geißel begehrlicher Leidenschaften aus der Ruhe auf und rühren in der Brust des armen Sterb lichen fein bedürfnißlofeS Wünschen zu. wildem Wogenschlage stürmenden Ber» langenS. Auch für mich wie wenig fühlt ich's an diesem heitern Julitage voraus sollte die Stunde der Entscheidung schlagen. (Fortsetzung folgt.) Hervorragend. Himmel, hast Du Dir aber einen langen Bräu ligam ausgesucht! Das that ich des halb, damit ich ihn gleich wieder finde, wenn ich ihn einmal im Ge dränge verliere. Verschieden. Onkel: Da muß ich Dir eine Geschichte erzählen. Vor zehn Jahren hatte ich einen Kater.... Neffe: O, das kenne ich. ich habe ieden Morgen einen! D-»- »ervholz. MwaS auf dem Kerbholz haben" ist eine sehr verbreitete Redensart, aber Wenigen wird es bekannt sein, daß das Geräth, auf weiches sie Bezug nimmt, noch heute hie und da im Gebrauch ist. In der „Zeitschrift des Vereins für Volkskunde" beschreibt Herr Voiksschul lehrer F. Kunze in SuhldaS Kerbholz, das in mehreren Exemplaren »och ge genwärtig im Gasthofe „Zum goldene» Hirsq" in Neuendorf bei Suhl V«r wc id'iing findet. Es besteht aus zwei vierkantigen, genau an einander paf fenden, meist aus Buchenholz gefertig ten Stäben, deren einer am Ende einen seitlichen Ansatz hat, so daß sich der zweite (das Ergänzungsholz) schnell und fest mit der Längsseite an den Hauptstab anfügen läßt. Das Geräth ist etwa 32 Zentimeter lang und (wenn beide Theile zusammengelegt sind) 4 Zentimeter breit. Mittels einer drei kantigen Stahlfeile wird in die glatte Breitseite der dicht zusammen gepaßten Büchenhölzer für jede Maß Bier, die der zeitweilige Inhaber des Kerbholzes auf Kredit entnimmt, eine Kerbe eingeritzt. Nach erfolgter Ein kimmung, die sich auf beide Hölzer er streckt, erhält der Bierempfänger da? ihm als zeitweiliges Eigenthum über lassene Ergänzungsholz zurück und nimmt es aus der Schenke mit nach Hau se, um es beim nächste» Bierbezuge wieder zur Stelle zu bringen. Zur ern tefetten Zeit des Nachherbstes etnes je den Jahres erfolgt gewöhnlich die Ab rechnung. Ward im Laufe des Jahres die angefangene Breitseite des Kerb holzes völlig mit Kimmes versehen, so dreht man das Geräth einfach herum, um die ferneren Kerben auf die noch freie Seite aufzutragen. Nach Be gleichung der Jahresrechnung wird das Doppelholz abgehobelt, so daß es von Neuem benutzt werden kann. Die in den Händen des Wirthes befindlichen Hölzer sind mit den Namen der zustän digen Kunden versehen und wie cine Schlüffelfamilie an einen umfangrei chen Drahtring gefesselt. Das Kerbholz war das ganze Mittel alter hindurch in Deutschland im Ge brauch und fand bis in's 17. Jahr hundert hinein bei der Zählung des Viehs und der Garben, besonders bei der Entrichtung des Zehnten, allgemei ne Verwendung. Bei Krämern, Schankwirthen und Kaufleuten vertrat das Kerbholz die Stell? des Kontobuches, in welches säumige Zahler ein- oder aufgetragen wurden. In der Regel waren die Hölzer zur größeren Sicher heit aus einem Stück geschnitten ja die deutlich sichtbaren Jahresringe mußten mit ihren Merkmalen die erforderliche Genauigkeit erhöhen helfen. Eine Ul mer Gerichtsordnung erkennt darum auch den Kerbhölzern gerichtliche Beweis kraft zu. Aehnlich wie heute in Neuen dorf schnitt man, wenn das Kerbholz voll war, behulfS erneuter Benutzung die Kerben weg, ein Gebrauch, den einst Dr. Martin Luther bei der lange auf geschobenen Beantwortung eines Brie ses mit folgenden Worten bildlich be- MUtzte: „Ich muß einmal das Kerbholz losschncide», denn ich lange uicht geant wortet habe." > Vielfach diente das Kerbholz auch zur Unterstützung des Gedächtnisses. So bezeichneten in Hessen oft die Hirten des Dorfes jedes Stück ihrer Heerde durch einen Einschnitt am Kerbstocke. Von diesem Brauche, das Bich nach Kerben zu zählen, rührt es her, daß man iir Oberhesscn den Viehstand und die Grö ße der Güter nach Kerben bestimmte. „Ein Gut mit vier Kerben" ist dort eiir mit vier Ochsen oder zwei Pflügen aus gestattetes Grundstück. „Der Schul lehrer hat eine Kerbe frei" bedeutet, er hat das Recht, ein Stück Rindvieh oder zwei Schweine unentgeltlich mit auf die' Weide gehen, zu lassen. Auch in der Schweiz wurde bis in die Gegenwart hinein auf den Almen der Betrag der gelieferten Milch in Holzstäbe unter dem Kennzeichen der einzelnen Lieferanten eingekerbt. Diese Hölzer heißen noch Milchbeile. Ebenso hat man Brotbeileu. s. w., und Bäcker, Senner und Metzger haben diefs Beth noch als Bcrcchnumgsmittcl für sich und ihre Kunden. Im bayrischen Walde vermerken die Bauern die Arbeitstage der Holzhauer auf einem Doppelholz, von dem jeder der beiden Becheiligten eine Hälfte in Verwahrung hat. j Die Kerbhölzer im Goldenen Hirsch zu Neuendorf werden außer von einigen „Geschirrhaltern" (neuerer Name für Fuhrleute) noch von mehreren Mter thumsverehrern Suhls benutzt, welche die alte, gute Sitte nicht völlig ver» schwinden, lassen wollen. Neu»» Leb«». Hoch droben singt das Lercherl froh ; Am Stöckei blüah'n die ersten Rosen; Der Gigerl schält die Wadeln fcho' und Buxkinhosent Do» Mtterl auf der Alma kracht Voll Sehnsucht scho' m alle Bretta : iommt ja d' Sennin ah, die Pracht, De es is a' Dir»' Kreuzdonna wetta! Der Wilderer Bchaugt sei' Büchs'» Ob's no' genau hingeht auf's Tüpfei; I' aber sigst, da hast es scho'l Mach' halt fcho' wieder Schnadahüpfel! Ben Akiba. Studiosus Schwamm (zu einem Comilitonen, ihn zu'trösten sucht): Alle? schon daae, wesen? Seit Jahr und Tag warte ich nun schon auf den Geldbriesträger, und ich sage' Dir: „Der Kerl ist noch nicht dvgcwcscn!" Wie in manchem Ande ren, ist die Frau dem Manne auch im Denken überlegen, denn sie denkt viel früher wie der Mann an's Hei» 3
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