Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, December 29, 1893, Page 3, Image 3

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    Der schwarze Koffer.
(4. Fortsetzung.)
Harvey schon al! richtig bezeichnet
hotte, und aus dieser Mittheilung ging
hervor, daß die Verwechselung eine
zufällige und keine absichtlich herbeige
führte gewesen. Wie wunderlich loch die
Wege der Vorsehung zuweilen sind, zu
das genügt, und ein kunstvoll entwor
fener und sorgfältig ausgefllhrterPlan
ist zu Schanden gemacht.
Geheimnisses inHLuden zu haben, wäh
rend ich in Wirklichkeit der Wahrheit
so fern war, als je.
Der Eigenthümer deZ KofferS hieß
alfoPhilipp. Ich suchte in meinerßrief
dem ich die zwei Buchstaben von der
Kofferaufschrift „Greenwich nach
Southend" nachgebildet hatte, und
legte ihn neben den Brief, um das P
c-,uf'S Sorgfältigste mit der Unterschrift
zu vergleichen. „P", Philipp. Wenn ich
die Schriftzüge so ansah, wie sie unmit
telbar nebeneinander lagen, hatte ich
Philipp des Briefes und das P des
Kofferzeitels ein und derselben Hand
entstammten. Ich suchte nun auch nach
einem großen H und fand eines im
Worte „Himmel", ich legte die neben
einander. „H"Himmel. Nach
liennamen brauchte ich nicht zu suchen;
Verfasser deS Briefes hieß Philipp
Hardev, der Besitzer des schwarzin Ko
ffers war Philipp Harvey, ein naher
Verwandter Austin Harveys, und al
ler Wahrscheinlichkeit nach der Mörder
Wahrhaftig, ich hatte alle Ursache,
mit d«n Fortschritten, die ich seit vorge
stern gemacht hatte, zufrieben zu sein.
DaS Verbrechen war offenbar in der
Nacht vom Sonntag auf Montag be
gangen worden; Montag Abend halb
sieben Uhr hatte ich die erste Kunde oa
von erhalten. Jetzt war eS Mittwoch
früh; es waren also kaum achtundvier
zig Stunden verzengen, seit ich damit
in Berührung gekommen war. Damals
hatte ich gar nichts gewußt, jetzt kannte
ich den Namen d-S Opfers, den Ort der
That, viele einzelne Umstände, die un
mittelbar daraus hervorgegangen wa
nn, und sogar den Namen und zeit
weiligen Aufenthalt des mutmaßli
chen Mörders.
chen erst Kenntniß erhalten hatte, als
der Koffer, den ste irrthümlich für den
ihrigen hielt, auf dem Zollamt eröff
ne! worden war. In diesem Augenblick
mußt« sie sofort «plannt habin, daß der
Koffer nicht ihr gehörte, oder daß ir
gend etwas mit ihm vorgegangen war.
Welche Gründe st- hatte, um so frag
los den wahren Schuldigen zu ahnen,
konnte ich natürlich nicht wissen, aber
DaS Mädchen befaß Muth und Gei
lich: „Wie und weshalb ist die That
'SenlenS. Dieser Philipp! Ich mußte
>iym erfahren, und zwar mußte das
geschehen, ehe sein Bruder Zeit und
<Selegenheit hatte, ihn zur Flucht zu
veranlassen. Großer Gott konnte er
sas denn nicht schon jetzt gethan ha
ten?
Ich reiste im Fluge nach England,
pber nie war mir ein Bahnzuq so »ner
-11. C a P i t e l.
Sobald ich in London war und mit
sinnen Vorgesetzten Rücksprache genom
men hatte, dtgann ich d«m „Schwarzen
'Loffermork" zu Leib« zu gehen. Die
Entdeckung auf "dem Norddahnhofe in
'?ar!s hatte am Montag Abend stattge
sündcH ich reist« Donnerstag Nacht von
"dort ab. nachdem mit d«m Nachtschiff
com Mittwoch einErsatzmann herüber-
Aor der Abreise hatte ich in Parts
noch mit der Post folgend«? Billet von
Äustin Harvey erholten:
.Geehrt» H«rr!
Ich war heut« früh außer mir und
iiade mich betragen wie «in Tollhäus
ler. Di« «inzig« Erklärung und Ent
schuldigung für m«in Benehmen liegt
in d«r entsetzlichen Lage, in di« ich so
unversehens versetzt worden bin. Sie
«UÄc» d«m Recknuya tiaaen undNack-
IM uven. Ich muß Ste bitten, trotz
meiner Ungezogenheit, Jhre»Bemühun
gen fortzusetzen! alles ist ja besser, als
diese qualvolle Ungewißheit. Ich bleibe
bis auf weiteres hier, im Hotel de la
Paix. Ihr u.s.w. Austin Harvey."
Armer Kerl! Ehrlicher und anstän
diger konnte man wahrhaftig nichtAb
bitte thun, und es kostete mir keine
Ueberwindung, ihm das bischen Un
recht. das er, mir gethan hatte, zu ver
zeihen, denn wenn meine Vermuthun
gen stimmten, war seine Lage wirklich
gräßlich.
Am Freitag begab ich mich zu früher
Stund«, zu der noch keine Käufer anzu
treffen waren, nach dem Gechäfte der
Herren Brown <!: Elder, Reifeartikel,
Nr. 117 Cheapside. Ich verlangte einen
der Geschäftsinhaber zu sprechen und
schickte meine Karte hinein. Ehe ich an
dere Schritte thun konnte, mußte ich
mich vergewissern, daß der PhilippHar
vey, den ich mir auS dem „Philipp" je
nes Brieses an Austin construirt hatte,
auch eine wirklich existirende Persönlich
keit war.
Ich wurde in ein kleines Comptoir
gewiesen, wo mich Herr Elder, ein be
häbiger, wohlwollender Geschäfts
mann in mittleren Jahren, empfing.
Offenbar nährten die Reiseartikel ih
ren Mann, und daS war mir um so lie
ber, denn je größer das Geschäft, desto
pünktlicher die Buchführung, und desto
großer also meine Aussicht auf gründ
liche Auskunft.
Ich hatte unterwegs noch geschwankt,
ob ich mich als einen Kauflustigen vor
stellen solle, dem die Firma durchHerrn
Harvey empfohlen sei, oder ob ich mir
geradezu die Hilfe erbitten solle, die ich
in meiner Eigenschaft als Fahnder
brauchte./ Schließlich wählte ich den letz
teren Weg, weil er der einfachste war,
und daß man auf dem einfachsten Weg
stets am ehesten zum Ziel gelangt, hatte
ich in meinem Beruf oft erfahren.
Ich beschrieb den schwarzen »offer,
den ich in Paris gesehen halte, so ge
nau als möglich, und Herr Elder war
sofort im Klaren über den Artikel.
„Diese Koffer sind eine Specialität
von uns," sagte er. „Wir s!>>d darin ei
nem entschiedenen Bedürfniß entgegen
gekommen. Sie sind sehr stark, sehr ein
fach und ungemein preiswürdig. Zur
Aufnahme von Kleidungsstücken wären
sie natürlich auch zu verwenden, ihre
Hauptbestimmung ist es aber nicht. Sie
sind besonders geeignet, Bücher, Waf
fen, Fischgeräthe und derlei Dinge, die
sich sonst nirgends unterbringen las
sen, aufzunehmen. Vieleßeifende hah:n
etwas Derartiges längst vermißt, und
unsere Koffer traten mit Erfolg in dic
Lücke, besonders da !oir imstande sind,
sie so billig zu liefern. Der Absatz ist
sehr bedeutend."
„Das freut mich zu hören," versi>
cherte ich höflich, „obwohl die Erfül
lung meiner Bitte Sie darum mehr
Mühe kosten wird. Darf ich fragen, ob
Sie die Koffer in verschiedenen Grö
ßen '"stellen lassen?"
Wir begaben uns in den Verkaufs
raum, wo sehr i? die Augen fallend
drei Koffer in Reih' und Glied stand
den, die alle dre>, bis auf die Größe,
haarklein dem glichen, den ich in Fran
cas Düberts Bureau untersucht hatte.
Ich bezeichnete sofort die Mittelgröße,
„Das ist der Koffer, um den eS sich
handelt, und alles, waZ ich zu wissen
brauche, ist, ob Sie kürzlich einen fol
nen Herrn Harvey?"
„Den ersten Theil Ihrer Frage kann
ich Ihnen sofort auS dem Gedächtnisse
beantworten," sagte Herr Elder, ohne
sich zu besinnen. „Vor etwa einerWoche
verkauften wir an eine Dame diefeSNa
nieni in Southend einen Koffer, ?ich
erinnere mich, daß sie an uns schrieb,
uns auseinandersetzte, was sie brauche,
und dabei bemerkte, unser Geschäft fei
ihr durch einen Bekannten empfohlen.
.Hin Ihnen den Brief zeigen."
Er.trat zu einem an der Wand be
festigten Briefhalter in seinem Comp
toir, und nach einigem Suchen und et
lichen: „Hier, ein, doch nicht," brachte
er ein Blättchnißilletpapier hervor, daS
er triumphirend vor mich auf den Tisch
legte.
Das kurze, von Southend datirte
Briefchen Fräulein Simptinfons ent
hielt nur eine Bestellung auf einen der
einfachen schwarzen Koffer der Herren
Brown <k Elder, Größe No. 2, Preis
Herrn, der kürzlich einen solchen ge
laust hatte, empfohlen waren. Derßrief
war noch keine zehn Tage alt. Wie sich
auS der Nachschrift ergab, hatte sie ei
nen Check über den Betrag beigelegt,
und wie auS einer zweiten, meiner An
sicht nach recht überflüssigen Nachschrift
hervorging, bedurfte die junge Dame
des KofferS, um einen photographifchen
Apparat hineinzupacken.
„Damit ist die eine Hälfte bewiesen,
leider aber nur die minder wichtige,"
ser Auskunft geben?"
buch, das vor uiid begann
nachzusehen. Hurtig überlief sein Fin
ger die langen Reichen der Namen, und
ten und über den Punkt hatte ich schon
zuvor alles gewußt, aber die Existenz,
vielleicht sogar die Wohnung deS an
dern Kofserinhaberi zu ermitteln, das
war etwa! andre!.
Herr «Ziver zog vte Augenbrauen
verdrießlich zusammen.
„Da ist der Name nicht," sagte er.
„Der Eintrag muß schon im vorigen
Jahre gemacht worden sein."
Er holte einen andern schwerfälligen
derselben Weise zu durchblättern. Mit
einem Male hellte sich sein Gelickt auf.
„Da kommt ein Herr Harvey," sagte
er.
Mir pochte da! Herz; er schob mir
da! Buch hin und zeigte mir die Stelle.
Vor fünfzelmMonaten war ein schwar
zer Koffer Größe Nr. 1 an Herrn John
Harvey, SchiffSarzt, verkauft und ihm
worden.
„DaS ist nicht der, den ich meine,"
sagte ich, machte mir aber doch eineNo-
war der Koffer in Paris Große
Herr Elder überflog auf's zuvorkom
mendste noch ein weiteres halbes Jahr,
klapvte dann aber den Band zu.
Schlüssel verschieden?"
nen andern Schlüssel. Aus unserer
Werkstatt dürfen niemals zwei gleich«
Schlüssel geliefert werden; die Haupt
eigentlich auch, daß wir sie trotz des nie
deren Preises mit ausgezeichneter
Schlosserarbeit ausstatten. Die Schlüs
sel sind sammt und sonders, numerirt;
ich brauche nur im Dunkeln die Hand
nach der Nummer auszustrecken, fall!
ein Kunde einenErsatzschlüffel fordert."
„Sie numeriren die Schlüssel?"
fragte ich, „od«r das Schloß?"
„Den Schlüssel, nur diesen. E! ist
sicherer als beim Schloß."
Das erklärte, daß ich keine Nummer
bemerkt hatte, denn daß ich eine solche
übersehen hätte, war kaum denkbar.
Doch hatte das alle! miteinander jetzt
blutwenig zu bedeuten.
Meinen Besuch noch länger auszu
dehnen, hatt« ich keinen Grund; so
dankte ich Herrn Elder für seine Ge
nen Philipp Harvey betraf, so schien
ir mehr und mehr zur mythischen Ge
stalt zu werden, und doch wollte mir die
Aehnlichkeit des P. H. auf dem Koffer
und im Brief nicht aus dem Sinn, es
war ein zu merkwürdiges Zusammen
treffen. Die einzige wirkliche Ausbeute
meiner Nachforschung im Reiseartikel
gefchäft war Fräulein Simpkinsons
Adresse in Southend.
12. C a p i t e l.
über den Stand der Dinge nachzuden
len. Meine ganze Auffassung des Fal
les beruhte auf der Muthmaßung, daß
der schwarze Koffer mit dem Leichnam
einem Herrn Philipp Harvey gehöre,
aber ich hatte für das Vorhandensein
einer solchen Persönlichkeit keine wei
teren Anhaltspunkte, als jene zwei auf
den Koffer gekritzelten Buchstaben und
den Brief eines .Philipp" an Austin,
und ich mußte selbst zugeben, daß die!
leine sehr schlagenden Beweise waren.
In Southend angekommen, begab
ich mich sogleich nach der Strandprome
nade No. 23, Fräulein SimpkmsonS
früherer Wohnung. E! war «in ge
wöhnliches LogirhauS, wi« man sie in
jedem englischen Seebad zu Dutzenden
findet; über der Hausthüre war ein
Schild mit „Möblirle Wohnungen",
da ich aber an keinem Fenster den üb
lichen Zettel mit „Zu vermiethen" er
spähen konnte, mußte die Wirthin ihr
Haus wohl besetzt haben.
Trotzdem zog ich kühn die Klingel,
und besagte Dame erschien auch sofort,
blickte prüfend über das Treppengelän
der herab und suchte dann die Aufmerk»
sc.mleit einer gewissen Sally, die in
den unteren Regionen Hantire» mußte,
durch helllaute Rufe zu erwecken.
Sally, die vermuthlich „Mädchen für
AlleS" war, verschmähte eS jedoch, ih
rer Herrin zu Hilfe zu lommen, und
so entschloß sich die Dame zuletzt, die
Stufen herunterzusteige.' und selbst zu
öffnen, wobei sie sich einer möglichst
würdevollen Haltung befleißigte.
„Und womit kann Ich dienen?" fragte
sie nebenbei bemerkt hieß sie, wie
ich bald erfuhr, Fevu Bunbury, und
wenn sie noch am Leben ist, möchte ich
hiermit ihre Zimmer aus'! wärmste em
pfohlen haben.
„Ich such« «ine Wohnung und wollte
«lisragen"
„Mein HauS ist vollständig besetzt,"
war d-: kurze Bescheid.
Ich habe schon häufig bei mir erwo
gen, ob es in einer Thiergattung un
ter ein und derselben Art solche Ver
schiedenheiten gibt, wie sie in der Spe
cies Mensch zwischen Gaithofbesitzer»,
die Zimmer leer stehen haben, und sol
chen, deren HauS voll ist, vorkommen.
„Das thut mir leid," bemerkte ich
kühl, „ich hatte Gutes von Ihren Zim
mern gehör'-. So viel ich weiß, hat eine
??rau in letzter Zeit
drei Wochen bei Ihnen gewohnt."
„Jawohl, mein Herr," versetzte Frau
Bunbury zur Sorte der redseligen
Wirthinnen gehörte die Dame offenbar
nicht.
„Angenehme Miether, nicht?"
„Nun, wie man's nimmt," erwiderte
sie, die Lippen auswerfend. „Ich will
nicht sagen angenehm und will auch
nicht das Gegentheil behaupten; habe
bessere gehabt und. schlimmere auch.
Die junge Dame, dl« tsk gut; sie macht
.«inem nicht viel Mühe, wenn sie auch
ihre Eigenheiten hat, aber die alte, die
ist, was man b«i den reichen Leuten
nervös, bei den armen krittlig heißt."
DaS war für FraitßunburyS Ge
wohnheiten eine lange md«, und nach
dem ste damit fertig war, schloß sie den
Mund mit einem hörbaren Ruck.
„Und Sie haben also die Zimmer
dieser Damen schon wieder vermiethet,"
bemerkte ich einschmeichelnd. „Ich be»
daure da! um meinetwillen natür
lich," da! war vollkommen wahr, d«nn
ich hatte mir vorgenommen, die Zim
mer zu besehen, und hatte überdie! da
rauf gerechnet, eine klatschsüchtige Ver
mittherin zu finden, die darauf brennen
würde, ihr Wissen an den Mann zu
bringen. Diese! Mal hatte ich entschie
den kein Glück.
„Ja, sie sind vermiethet," sagte Frau
Bunbury.
„Und werden in nächster Zeit nicht
frei?"
„Für vierzehn Tage sind sie gemie
thet; die Herrschaft kommt von Lon
don. Lang ist's nicht, vierzehn
aber meine Zimmer stehen selten leer."
„Nur für vierzehn Tage!" rief ich
rasch, „Und ipüter könnte ich sie ha
ben? DaS würd« mir unter Umständen
gerade passen freilich, gesehen hätte
ich sie gerne."
„O, sehen können Sie die Zimmer
wohl," versicherte Frau Bunbury um
eine ganze Oktave mürber. „Die Herr
schaft kommt erst morgen, und Frau
Simpkinfon ist letzten Montag abge
reist, Gewiß können Sie die Zimmer
sehen."
Damit trat sie beiseite und forderte
mich mit »inem krampfhaften Verzerren
ihrer GestchtsnruSkeln, das wohl
Freundlichkeit bedeuten sollte, zum Ei
ntreten auf.
„Nein wahrhaftig, ich will Sie nicht
bemühen," sagte ich mit Wärme. „Wenn
Sie dielleicht erlauben, daß JhrDienst
mädchen mich hinaufführt " ich
hoffte nämlich daS Mädchen mittheil--
sanier zu finden al! die Herrin.
selbst," erklärte Frau Bunbury.
Aber ich machte noch einen Versuch
und fand den alten Satz bestätigt, daß
man jedermann seinem Willen unter
der Eitelkeit faßt.
„Nein, nein, beste Frau!" rief ich.
„Das kann ich nicht zugeben. Wenn
Sie sich ein Mädchen halten, s» lassen
Sie dieses mit mir gehen mehr ver
lange ich nicht."
„Wenn Sie ein Mädchen halten
na wahrhaftig!"
zu zeigen, daß sie ein Mädchen und waS
für eines sie hatte, sie zog die Klingel,
und al! sich die! als fruchtlos erwie!,
Frau Bunbury majestätisch in ihrePri
vatxemäch«r zurückzog.
Di« Zimmer waren, wie eben niöb
lirte Zimmer zu sein pflegen, und es
war auch nichts darin, was geeignet ge
wesen wäre, irgend welches Interesse zu
erregen. Die sauber gehaltenen Mö
bel standen genau auf dem Fleck, wo sie
stehen mußten, und sahen so langweilig
und unpersönlich aus, al! möglich. Auf
dem Tisch war nicht! al! eine kleine
Glocke, die man ganz genau in die
Mite gesetzt hatte; den KaminsimS
zierten eine vergoldete Standuhr, ein
Paar sehr bunter Vasen und zwei
schlanke Leuchter, sämmtlicheStücke wie
die Soldaten in Reih' und Glied ste
hend. Alle! war reinlich, ordentlich und
sauber; Ueberslüssige! nicht vorhanden.
Ich hatte ja eigentlich gar nicht er
wartet, hier etwa! Besonderes zu fin
den, da man aber als Fahnder allezeit
auf dem Apstand liegt, brachte mich die
Alltäglichkeit des Raumes doch in ge
linde Verzweiflung, bis meinßlick ganz
zufällig auf die Feuerstelle fiel. ES war
ein Kamin wie alle andern und sah zu
dieser Zeit deS Jahres unaemcin frostig
aus, obwohl Holz und Kohlen niedlich
darein geschichtet waren. Die Kohlen,
die schon eine gute Weile so dagelegen
haben mochten, waren staubig und ein
rauf hingeworfen worden.
Diese Papierschnitzel waren jeden
falls de! Auflesens werth; möglich, daß
sie nichts enthielten, möglich, daß sie
zu verwerthen waren, wer konnte da!
wissen?
Die Frage war, wie da! angreifen,
so lange das Mädchen, daS offenbar
strengen Befehl hatte, miethlustige
Fremde nicht au! den Augen zu lassen,
mich unverwandt anstarrte. Ich zog ei-
und hielt ihn dem Mädchen hin. „Hier
«ine Kleinigkeit für Ihre Mühe, mein
Kind."
Während sie die rothe Hand darnach
ausstreckte, ließ ich daS Geldstück fallen,
Stoß, daß eS unter eine Kommode
rollte. Das Kunststück war zwar herz
lich plump ausgeführt, aber eS erfüllte
seine» Zweck, denn da! Mädchen sah
der Münze mit verlangenden Blicken
nach.
„W> müssen ihn vorschaffen," sagte
ich, „di: Feuerzange ist zu dick ho
len Sie dcch meinen Regenschirm; er
sieht unten >rus dem Vorplatz."
Sally schwebte ab, und im selbenAu
genbluk ha',e ich sämmtliche Papierfe-
Blick sah, Ueberbleibsel zerrissener Ge
! deren Rückseite etwas hingekritzelt war.
> Ich faltet« sie auseinander und 1a!:
„Philipp Harvey", und auf der Rück
seite stand in flüchtig hingeworfener
Schrift: „Also, um halb drei Uhr!
Hurrah, wie fidel!"
Ich sah sofort, daß daS H von Hur
rah auf und nieder dem großen tn
pierfchnikel hastig in die Tasche.
Der Philipp Harvey war also doch
eine wirtlich vorhandene Persönlichkeit.
an Stoff.
den Todten UebleS reden! „und
dsann die zwei Herren, die alleweil ka
men."
„WaZ für zwei Herren?"
„Nun, der Pfarrer und der andere
sein Bruder. Ein feiner Herr, der
Herr Pfarrer; sie kamen oft «in halb
dutzendmal im Tage. Und daS Fräu
lein" Sallys Blick erzählte Bände
„das Fräulein und der Herr Pastor
waren verlobt," sagte sie bedeutungs
voll.
Vielleicht hätte Ich noch mehr erah<
ren können, hätte man Frau Bunbury
nicht in der Halle herumwirthschaften
hören.
„DaS ist die Frau," sagte Tally, die
nun glücklich im Besitz des verlorenen
Geldstück« war. „Meinen Sie nicht,
ihr wohl oder übel nachfolgend Auf der
Treppe gelang es mir noch, ihr eine
flüchtige Beschreibung der beiden Her
ren, die so ost gekommen waren, zu
ier unS gesagt, ich glaube, der Herr hat
ein bischen wild gelebt. Herr Philipp
hieß der, war aber auch gar nicht übel
o nein."
„Die Zimmer lassen nicht! zu wün
schen übrig," sagte ich zu der Frau des
beigelegt, an dem ich aber seither so
zäh festhielt, daß er mir wirklich zum
Eigenthum geworden ist.
13. C a p i tel. »
Von Nr. 23 begab ich mich Nr. 17,
hatte, meine Schritte zu bewachen.
Dieselbe Comödie wie in N». 23,
ich fragte natürlich auch n«ch einem
ten sie im Munde der vom Schicksal
Versolgten. Die wackere Frau hieß Jef
sop und ihr Mann war Geistlicher ge-
Zu meiner Ueberraschung vernahm
ich, daß Fräulein Raynells Zimmer
nicht zu vermiethen seien, und mein
Staunen wuchs, ja ich konnte mich
eines gelinden Schauders nicht erweh
ren, als mir der Grund hierfür ange
geben wurde: die alte Dame habe sie
nämlich noch'selbst inne.
„Sie ist nur für ein paar Tage nach
London gegangen," sagte Frau lessop,
„aber ich erwarte sie im Lauf der Woche
zurück."
Armes alteS Fräulein! Eine seltsa
me Reise nach London! Frau lessop
sagte mir alles, was ich Über ihre Mie
therin zu wissen wünschte, ja sogar noch
Fremden viel heißen. Dabei hatte die
gute Frau eine unausstehliche Art, sich
zu räuspern, und zwischen jede» halb:
ner Zeitd
nach London gegangen. Da Sie das
Fräulein zu kennen scheinen, wird es
Sie nicht Wunder nehmen, wenn ich
Ihnen sage, daß Fräulein
zwar eine sehr >uiitreMi»t Damc
,'ym, ?in, Ist, aber recht sehr Ihres?»
genheiten hat. Sie hat eS nicht gern
wenn hm, hm, man sich ihr auf
drängt, wie sie das nennt. Nun.ich habe
mich noch keinemMenfchen aufgedrängt,
hm, hm, pflege aber die Gesell
schaft von meinesgleichen auch nicht zu
jmeiden. Fräulein Raynell scheint die»
zu thun, sie kann aber gewiß nicht kla
gen, daß ste von dem Augenblick an,
da ste mir da» angedeutet nur an
gedeutet, daS können Sie mir glauben
mich zu oft hätte sehen müssen. Ich
hätte mtch hm, hm, geschämt,
aufdringlich ,u sein. Wer besser« Tage
gekannt hat, wi« ich, w«iß hm, hm,
daß keine Dame einer andern ihre
Gesellschaft aufdrängt."
Ich begriff vollkommen, daß Fräu
lein Raynell, mochte sie im Uebrigen
Eigenheiten haben oder nicht, die Ge
sellschaft ihrer Wirthin lästig gefunden
hatt«, und ich hemmte ihren Wort
schwall durch die Frage, ob die alte
Dame ihre Neffen häufig bei sich gese
hen habe. Zwei- oder dreimal mußte ich
ihr den Satz in'! Ohr brüllen— sie
„Ihre Neffen," sagte sie endlich, „ja,
teste ist, wie Sie ja wissen werden
hm, hm, Vikar an der Marienkirche
hier, eine Kirch«, an der ich nicht ange
stellt sein möchte."
„Und Philipp?" unterbrach ich sie,
denn mir graute vor einer theologi
schen Abschweifung.
„Philipp hm ja so hieß,
glaube ich, der andere hm, hm
der scheint ein wilder Bursche zu sein,
heutzutage findet man aber ja gar kei
nen mehr wild. Dieser Philipp hat auch
ein kleines Stäbchen bei mir, gerade
neben der alten Dame, in dem er so ab
und zu wohnt. Er kommt hm, hm —
' nicht zum besten au! mit der Tante.
Sie ist hm wunderlich und geht
nicht immer manierlich um mit ihren
Neffen, auch nicht mit dem älteren, der
l ein sehr schätzen!werther jungerMann
ist, der Pastor."
! „Ist Herr Philipp seit der Abreise
seiner Tante hier im Hause gewesen?"
! „Nein, mein Herr. Die Zimmer wer
den augenblicklich hm, hm gar
nicht benutzt. Hätten Sie Lust, sie an
zusehen? Sie finden hm, hm, in
ganz Southend nicht! Bessere!!"
Natürlich war ich mit Vergnügen
dazu bereit und ward in ein freundli
ches Vorderzimmer mit großen bis zum
Boden herabreichenden Fenstern im
Erdgeschoß geführt. Dahinter lag ein
geräumiges Schlafzimmer, da! eine
Verbindungsthüre nach einem kleineren
hatte.
„Die Zimmer sind genau in dem
Stand, wie Fräulein Raynell sie ver
lassen hat," erklärte Frau lessop. „Am
Montag Morgen reiste sie ab, ohne mir
vorher auch nur ein Wort zu sagen
hm. hm. Von Abschied nehmen keine
Rede, nur so zum Haus hinausgehen zu
einer unmenschlich frühen Stunde, und
nur im Wohnzimmer hm, hm,
einen Zettel zurücklassen."
„Frau lessop," sagte ich, indem ich
mich in der Fensternische der Frau ge
rade gegenüberstellte, „ich kam nicht
entschieden wahr sein. Sie ist nachLon
don abgereist, ohne ihre Neffen wissen
zu lassen, wo sie sich aufhält; e» wird
ja Alles in bester Ordnung sein, aber
die Herren sind nichtsdest,, weniger in
Sorge, der alten Dame möchte etwa»
zustoßen. Herr Austin Harvey hat mir
deshalb den Auftrag ertheilt, ihr sorg
sam nachzuforschen, und ich muß Sie
„Du lieber Himmel s» etwa?"
stöhnte Frau lessop und vergaß im
hellen Schreck sogar sich zu räuspern.
Die Würde des Gesetzes überwältigte
sie, und sicherlich hatte sie da! Gesühl,
don. E. Raynell/
DaS war alles. Ich legte das Blätt
chen zusammen und steckte e» in die
Tasche.
„Das behalte ich," sagte ich, „und
nun möchte ich wissen, ob irgend je
mand im Hau! Fräulein Raynell an
Sie vielleicht, Frau lessop"
endlich erfaßt hatte. „Ich bleibe nicht
meine Ruhe bei Nacht."
„Sie glauben, daß euch Niemand
sonst sie gesehen hat «in Dienstbote
vielleicht?"
.Ich habe gegenwärtig nur einMäd
chen," versetzte Frau J«ssop mit Würd«,
„es gab eine Zeit, da hatt« ich drei und
einen Diener dazu. Mein jetzigelMäd
chen schläft nicht im HauS; sie geht
Abends um neun Uhr und kommt Mo
rgens in der Frühe. Die Einrichtung hat
manch« Bortheile, einmal hat man Ge
wißheit —"
„Andere Miether hatten Sie nicht
im HauS?"
„Keine Seele. Mein zweiter Stock
zieht, erst morgen ein/ .
(Fortsetzung folgt.)
Streng in der Mode.
Herr (bei der Tafel): Wünschen Sie
rothen oder weißen Wein, Fräulein?
Dame: Bitte, roth. Mutter: Aber
warum auf einmal roth? Dame:
Paßt heute besser zc seiner Toi
lette!
«ine We!l,n„»>t«-«ef»aauna. !
Ueb«r die Obliegenheiten «in«S fürst«
iichen Leibarztes im siebenzehnte»
Jahrhundert gibt dessen Bestallung
Auskunft. Dieselbe ist am
nachtsfest 16M erlassen und hat fol
genden Wortlaut: „Von Gölte»
Gnaden Wir Urkunden und be
kennen hiermit, daß Wir zu statt dem
in Gott ruhenden Li«bd«n gewesene»
Hof- und Leibmedicum den G. P.
cum zu E. einer guten Wissenschaft
fleißigen Vorsorge und unverdrossenen
Aufwartung willen als Hof- und
Leibmedicum ferner mit angenomme»
und bestellt haben, dergestalt und also,
daß derselbe nebst Befleißigung einet
christlichen, gewissenhaften, friedferti
gen und nüchternen Lebens und Wan
dels vor sich und die Seinigen unZ
hold und gewärtig zu seyn, unsere Ehre
und Nutzen suchen, Schaden und
l/chimpf hingegen wenden, insonderheit
aber schuldig seyn soll, unseres un
mündigen Sohnes Gesundheit vermit
telst guter Aufsicht und treuer Sorg
falt wahrzunehmen, durch gute Diät,
heilsame Consilia, dienliche Präserva
toria alle Zufälle menschenmöglichst
präcaviren, bey entstehenden Anstößen
nützliche Medicamenta, nachdem er vor
her sich des Morbi Art und Eigenschaft
wohl versichert, anzuwenden, dabey
aber sehen, daß dieselbe in der Apotheke
nach der Regula der Medizin und
denen Recepten gemäß von frischen
Ingredienzien recht zugerichtet werden,
auch verhüten, daß ohne sein Asemis
sen und vernünftiges Ermessen nie
mand anders nicht verordnet oder ap
plicirt, sondern unserm unmündige»
Sohn jedesmal die Arzneien von ihm
selbst gereicht und gegeben werden;
wobey er sich denn sonderlich in Acht
zu nehmen wissen wird, daß durch Ad
hibirung heftiger chemischer oder sonst
mißlicher Arzeneien, deren Wirkung er
durch erhaltene Experiens nicht gewiß
versichert, er sich nicht präcivitiren oder
fonstens übereilen möge. Er soll ohne
Unser Wissen auf's Land nicht reifen,
viel weniger de! Nacht! außer der
Stadt bleiben, hierüber auch zum we
nigstens des Tage! einmal sich bey Hofe
anmelden und sonst daselbst jederzeit
dergestalt unverdrossen und treulich er
weisen, wie einem aufrichtigen Diener
und verständigen Hof- und Leibmedico,
GotteS, Rechts und Gewissen wegen
geaen und zur Ergötzlichkeit dieser sei
ner Dienstverwaltung soll ihm aus hie
siger fürstlicher Privatkammer jährlich
gereicht werden: Dreißig Reichstha
ler, vier Malter Korn, vier Malter
Gersten, zwölf Klafter Holz und zehn
Schock Reisig, womit er unterthänigst
content und zufrieden gewesen. S»
gegeben Weynachten 1680."
Kein „Stoff"-Mangel, j,
Eine «ich« Auswahl kleivsa»«U
Gaben.
Schwere Wahl.
Im siebenten Jahrhundert gehörte
der größte Theil deS Land«! an de»
Flusse Etrik in Schottland dem Gra
fen Handon, welcher seinen Sitz z»
Bakewood Tower hatte. ES war «in
stark befestigtes Gebäude, dicht am
Flusse. William Scott (nachmals
Sir William), das Haupt dieser Fa
milie, unternahm einst einen Raubzug
wider die Murray'S von Elikank, denn
Besitzungen nur einige Meilen entfernt
waren. Er fand aber seine Feinde auf
der Hut, wurde in die Flucht geschla
gen und gerieth selbst in Gefangen
schaft. Sir Gideon, das Oberhaupt
der Murray's, führte seinen Gefange
nen in die Burg und zeigte ihn feiner
Gattin, die ihren Gemahl fragte, waS
er dem Gefangenen zugedacht habe.
„Den Galg«n!" «rwid«rte Sir Gi
deon, „an Galgen mit diesem Räu
ber!"
„Aber warum?" entgegnet« sie.
„Weshalb den jungen Lord von Han
don aufknüpfen, da wir drei nichts we
niger als hübsche Töchter zu verheira»
„Du hast Recht," versetzt« Gideon,
„der Einfall gefällt mir. Er soll die
großmäulige M«g Heirath«» od«r zap
peln."
Als d«m Gefangenen die Wahl ge
lassen wurde, zog er es anfänglich vor,
sich aufknüpfen zu lassen, als die groß
mäulige Meg zu eheliche, deren Name
eigentlich Agnes war. Aber da «r die
Vorkehrungen zu seiner Hinrichtung
sah, änderte er seinen Vorsatz, «r wi
derrief seine Weigerung und zog daS
symbolisch« Band der Eh« dem wirk
lichen Stricke von Hanf um den HalS
vor. Die Ehe wurde geschlossen >md,
was nicht unerwähnt bleiben darf, sie
war, obschon so gewaltsam erzwungen,
sehr glücklich. Das Paar lebte in Liebe
und Eintracht mit einander und zählte
viele Nachkommen. William Scott
kam durch diese Heirath in den Besitz
sehr ansehnlicher Güter, die von ihm
stets auf den Aeltesten der Familie ver
erbt worden sind.
—ln ein Stammbuch. Sei
beständig: nimm niemals Rath a» —
auch diesen nicht l . 3