Der liberale beobachter und Berks, Montgomery und Schuylkill Caunties allgemeine anzeiger. ([Reading, Pa.) 1839-1864, June 18, 1850, Image 1

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    Der Liberale ücobacliter
Und Berks, Momgomery und Schuylkill Caunties allgemeiner Anzeiger. <
M e ÄiN A, Gedruckt und herausgegeben vonAruold Pu»vell e, in der Süd 6ten Straße, zwischen der Franklin- nnd Chesnut - Straße.
Jahrg. I>, ga»;e Num. SS?»
Bedingungen: —Der Nilier.'llr IZtob.iriltrr erscheint jeden Dienstag auf einem großen Superial r Bogen mir fronen vettern gedruckt. Der Subfcriptions - Preis in Ein Thäler des Jahrs, welcher in halbjährlicher
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Der Tobn des.Häuslers.
Erzählung von R. Springer.
„Euer Vater ist todt !" sagte im To
ne der Verzweiflung Mutter Christine,
indem sie ihre beiden Kinder, einen neun
jährigen Knaben und ein fünfjähriges
Mädchen, an das Todtenbett führte.
Da lag die Leiche. Das Leben, das
nie als helle heiße Flannne in der reinen
Luft des Glückes gelodert, sondern nur
immer spärlich im Dunstkreise der Ar
muth und Mühe geglimmt hatte, war er-
loschen; ein Menschenleib, den Freiheit
und Bildung zur Zierde der Schöpfung
hätten erheben können, den aber die Knecht
schaft, Sorge und der Hunger entstellt
und gebeugt hatten, lag da, uoch von der
Tatze des Todes verzerrt. Das Auge,
das man nie gelehrt, zum Himmel aufzu
schauen, sondern nur genöthigt hatte,
schüchtern und traurig auf den dornigen.
Pfad zu blicken, war von den Ueberleben
den, die sich den Tod so gern unter dem
schmeichelnden Bilde des Schlafes vorstel
len, mit dem steifen Augenliede verhüllt;
der Mund, der mehr Seufzer als Worte
geäußert, war durch ein Gesangbuch unter
dem Kinn gewaltsam zusammengedrückt ;
die Stirn, so niedrig wie die Gedauken,
welche sie umschlossen hatte, war vom To
deskampfe und dem letzten Gedanken an
die trostlose Familie umdüstert.
Es ist ein trübes, abschreckendes Bild,
welches wir dem Leser vorführen; aber
ihr müßt den Muth haben, die Wunde,
die ihr heilen sollt, anzuschauen. Es ist
erfreulicher und heiterer im Lazareth;
aber wollt ihr die armen Kranken hülflos
leiden und sterben lassen? Die Welt ist
jetzt ein großes Krankenhaus, der Aerzte
sind wenige, ihr Alle müßt Hand anlegen,
verbinden, helfen und heilen. An üppi
ger Tafel läßt es sich behaglicher weilen,
als im Beinhause, aber ihr sollt die Opfer
sehen, die dem Hunger sielen, während
ihr schwelgtet.
Der Tod ist schrecklich in allen Gestal
ten ; selbst der Verbrecher bebt vor der le
benslänglichen Kerkerstrafe nicht so zurück,
wie vor dem Beile des Henkers. Aber
wenn der Mensch nach einem edeln und
thatenreichen Leben sich mit dem Bewußt
sein der Tugend willig dem grausamen
Gebote der Natur fügt; wenn der Krieger,
der für eine gute Sache gefochten, noch
sterbend die geballte Faust dem Feinde
entgegenstreckt und muthig seine Seele
aushaucht, so berührt der Tod den Men
schen, der nichts als Bitterkeiten in seinem
Leben genossen und seine Familie zu glei
chem Schicksale zurückläßt, am peinlich
sten. Solchen Tod erlitt der arme Häus
ler nach einem sorgenvollen Leben, und zu
gleichem Schicksale der Armuth, Entsa
gung und Entbehrung hinterließ er seine
Frau, die arme Christine, mit ihren beiden
Kindern. Er hatte sie als Taglöhnet
kümmerlich ernährt; der Morgen Gar
tenland, den er als Häusler zur Benut
zung gehabt, nebst dem dürftigen Lohn,
den er für die Pflichtdienste vom Guts
herrn erhalten, hatten wenigstens seine
Familie vor dem Hungertode geschützt.
Jetzt aber mußte die Frau ihre Hütte und
das dazu gehörige Land aufgebe», sich bei
einem Büdner einmiethen und durch schwe
re Feldarbeit das Geld für Miethe und
allen Bedarf erwerben. Ihre ganze Le
bensweise gibt uns das Bild des Jammers
und der äußersten Armuth. Wir erblik
ken ein enges Stübchen, aus welchem der
Schmutz der Noth trotz aller Reinlichkeit
nicht entfernt werden konnte, darin eine
blasse Frau, gebeugt von der Arbeit, die
- dem Manne fast zu schwer ist, spärlich ge
kleidete Kinder, ohne die heitern Mienen
der Jugend, ohne jene AnmuthundFreund
lichkeit, wodurch uns die kleinen Menschen
sonst zu gewinnen und zu fesseln wissen.
Kartoffeln und trockenes Brod machen
ihre einzige Nahrung aus, die nur zu»
Fristung des Lebens, aber nicht einmal
zur Stillung des Hungers hinreichend ist<
In diesen Verhältnissen lebte Christine
mit ihren Kindern einen Tag wie den an-
dern, ohne zu murren und mit stiller Er
gebung. Sie hatte nie von Menschen
rechten sprechen hören und glaubte an eine
Norbestimmung zum Reichthum? oder zur
Armuth. Mit Seufzern, aber nicht mit
Hast, blickte sie nach dem Schlosse deö
Gutsherrn, mit Geduld hörte sie die
Scheltworte des letztern, dem sie nicht ge
nug arbeiten konnte, und ihr größter Trost
war die Lehre deö Predigers, daß die Ar
men im Himmel reich sein würden.
Treten wir ans diesem Hause derEntbeh
rnng in das der Fülle und des Ueberslu>-
seö, in das herrschaftliche Schloß ! Hier
finden wir reiche Säle mit prächtigen Ge
mälden, strahlenden Tapeten und üppigen
Polstern. Hier fragt kein Bedürfniß
nach dem. Mittel der Befriedigung, son
dern der Schwelgerei ist es zur Aufgabe
gemacht, für die Fülle der Sättigungs
mittel immer neues Verlangen zu wecken.
Der Fust wandelt auf gestickten Teppichen,
weiche Lehnsthüle und elastische Kanapee'S
laden zu wollüstiger Ruhe ein; Wohlge
rüche erfüllen die hohen, luftigen Räume;
eine reiche Büchersammlung, die Schätze
der Literatur enthaltend, bietet sich dem
Geiste, Statuen und Gemälde fesseln den
Kunstsinn. Eine Tafel leckerer Speisen
und feuriger Weine, umgeben von harren
den Dienern, erwartet die Gäste, die sich
stetö zahlreich einfinden, um beim köstli
chen Mahle heitere Schätze auszutauschen.
Im Hofe stehen die glänzenden Wagen,
mit edlen Pferden bespannt, um die Ge
sellschaft, nachdem sie durch Spaziergänge
im englischen Park ermüdet ist, nach fer
nernVergnügungSplätzen zu führen. Den
Gutsherrn erblicken wir in einem kräfti
gen Manne mit beneidenswert her Eßlust
und unsterblichem Durst, dessen heitere
Laune nur gestört wird, wenn die Geld
course gesunken sind, oder wenn der Tag
herannaht, wo er der Regierung unbe
deutende Abgaben zahlen muß. Seine
Gemahlin ist eine blasse Frau, die oft
kränkelt, fleißig in die Kirche geht, mit
den Dorfbewohnern immer sehr leutselig
spricht und bei jeder Krankheit derselben
mit einem Mittelchen aus ihrer Hausapo
theke zur Hülfe herbeieilt; dennoch hal
ten sie die Leute für stolz. Die Kinder
sind blühend und wohlgestaltet, jeder Weg
zur körperlichen und geistigen Ausbildung
wird ihnen geboten, keine Gelegenheit zu
jugendlicher Lust und Erholung wird ih
nen vorenthalten
Das ist der Gegensatz zwischen Arm und
Reich, der unS hier an einem von kaum
hundert Menschen bewohnten Orte schon
in die Augen fällt. In dieser kleinen
Gesellschaft sogar, welcher Abstand von
Fülle und Entbehrung, Genuß und Ent
sagung, Frohsinn und Kummer, Stolz und
Niedergeschlagenheit!
Diesen Gegensatz fühlte schon Karl,
der Sohn deö verstorbenen Häuslers, in
seinem jungen Gemüth deutlicher, als sei
ne Mutter; in seinem Herfen bildete sich
ein bitterer Groll über dieses ungleiche
Walten des Schicksals. Nachdem man
den todten Vater mit den geringen Förm
lichkeiten, welche beim Begräbnisse deö Ar
men üblich sind, mit dem Gefolge des
singtndcnSchulmcisters und einiger Freun
de und Mühcgenossen, zur Erde bestattet
hatte, verrichtete der Knabe, um der Mut
ter beim Broderwerb behülflich zu sein,
den Dienst eines Kuhhirten. Wenn er
des Morgens auf dem Hügel dem Schlos
se gegenüber lag, und das Vieh grasete
oder freiwillig in den nahen See watete,
um sich an den Sträuchern des Ufers die
Fliegen abzustreifen, blickte der Knabe un
verwandt nach dem prächtigen Gebäude.
Alles lag noch in tiefem Schlafe der
Ueppigkeit, in der behaglichen Ruhe des
Wohlstandes ; die seidenen Fenstervo:hän
ge sind herabgelassen, um das unberufene
Eindringen deS frühen Sonnenstrahles zu
verhindern; überall herrscht Stille, und
selbst die Schwalbe unter dem Dache, die
am Fenster der Bauernhütte so zeitig und
fröhlich zwitschert, scheint hier schweigend
auf den hohen Stand der Hausbewohner
"IVillig zu loben und obne Furcht zu tadeln."
Dienstag de» N». Juni, I8S<»
Rücksicht zu nehmen. Allmählich zeigt
sich etwas Leben: der Bediente deckt den
Tisch zum Frühstück unter der Linde, der
Postbote gibt ihm die eben angekomme
nen Zeitungen ab, das Schoßhündchen der
gnädigen Frau steckt neugierig die Nase
zum geöffneten Fenster heraus und klärst
einen vorbeifliegenden Sperling an ; aus
dem großen Saale, durch dessen Fenster
alte Ritterrüstungen glänzen, ertönt das
Klavierspiel der ältesten Tochter. Wun
derbaro Klänge der Kunst und des Luxus,
wunderbar für das Ohr deS ungebildeten
Knaben, dem sie eine Ahnung gaben von
höherer und edlerer Bestimmung des Men
schen ! „Ob ich nicht auch Klavier spie
len könnte, wenn eS mir gelehrt würde
fragte er sich, „aber es wird mir nicht
gelehrt, weil ich der arme Sohn eines
Häuslers bin." Nun öffnet sich die Thür
des Schlosses und die wilden rothwangigen
Knaben stürmen heraus und eilen nach
dem Kahn; die alte Erzieherin führt
zwei kleine Mädchen zum Bade, der Haus
lehrer mit der brennenden Cigarre erscheint
und nimmt vor dem Frühstück Platz;
dann wankt die gnädige Frau im Mor
genkleide herbei, anscheinend so erschöpft,
wie Karl seine Mutter nach der schwersten
Feldarbeit nie gesehen hat. Bald kommt
mit der Reitpeitsche, den großen Schnurr
bart seitwärts streichend, um bei dem rei
chen Morgenimbiß, zu dem sich jetzt alle
niederließen, durch nichts gehindert zu sein.
Während der Hirtenknabe sein Stückchen
trockenes Brod zur halben Stillung des
Hungers verzehrte, verschwand von dem
herrschaftlichen Tische eine Last von Ge
bäck, Fleischwaaren und Früchten; auch
der kleine Hund ward reichlich mit Zucker
und Milch versehen, und Karl dachte an
sein armes Schwesterchen zu Hause, das
die Mutter täglich mit Hungergeschrei
i belästigte.—Nachmittags rollten die Kut
schen auf den Amtshof, an den Fenstern
! zeigten sich feine Frauengestalten in fri
schen, durchsichtigen Kleidern. „Haben
jene Frauen, die meiner gebräunten, ge
beugten Mutter in den Lumpen derArmuth
so unähnlich sind, die wie glänzende Son
nenblumen durch die hohen Spiegelschei
ben blicken, etwas gemein mit den Noth
leidenden ihres Geschlechts? Jene Grä
finnen mit den Rosenflngern und dem
schmelzenden Blick, haben sie je dem Ar
men die Hand gereicht, oder die Lagerstät
te des inKummerSterbenden angeschaut
DieS waren ungefähr die Gedanken des
Knaben, als er die Heerde heimtrieb und
den kleinen Junkern begegnete, die auf
muthigen Ponys daher getrabt kamen.
Als er nach Hause kam, forderte ihn
Mutter Christine auf, mit ihr und der
Schwester in den Wald zu gehen, um Holz
zu lesen. „Es ist ja heute nicht der Tag
dazu!" sagte Karl. Diese Worte des
Knaben erschütterten die Mutter tief, sie
hatte aus Noth den Widerwillen gegen das
beabsichtigte Vergehen überwunden, aber
sie bebte vor dem Gedanken zurück, daß
ihre Kinder Mitwisser ihrer Schuld seien.
„Der gnädige Herr hat mir ausnahms
weise diese Woche zwei Tage zum Holzle
sen gestattet," erwiederte sie, indem sie den
Kindern den Rücken zuwandte und dann
vor dem Bewußtsein der Lüge zusammen
bebte. So grenzt die Armuth an das
Verbrechen und die Noth an die Schande.
Auf dem Heimwege wurden sie von dem
herrschaftlichen Jäger ertappt. Christine
und der Knabe wären entkommen, aber
das kleine Mädchen fiel im Laufe, erschreckt
hemmte die Mutter ihre Flucht und über
lieferte sich dem Verfolger.
Das Bewußtsein der Schuld ist schmerz
lich, aber lähmender ist das Gefühl, zum
ersten Male als Verbrecher gestempelt vor
der Welt zu stehen. Es ist nicht zu be
schreiben, welche Pein Christine fühlte,
als das Forstgericht sie zur Arbeit an der
öffentlichen Straße und die Kinder zu
Prügeln verurtheilte. Diese Strafe, die
der edle Mensch nur gezwungen beim Hun
de anwendet, welche aber bei der ritterlu
chen Gewalt mancher Länder, obgleich sie
gebildet und aufgeklärt sein wollen, einen
Haupttheil des Strafrechts ausmacht,
brachte eine schreckliche Wirkung auf den
Knallen hervor. Er bekam nicht das er
ste Mal Prügel; der rauhe Vater war
sehr freigebig damit umgegangen, und
selbst Christine, so gutherzig sie war und
so sehr sie ihre Kinder liebte, strafte diese
in der üblen Laune, die dem Unglücklichen
wohl zu verzeihen ist, zuweilen mit harten
Schlägen; aber diese Härte, welche von
Seite der Eltern oder deS Lehrers ohne
bedeutende Einwirkung auf den Gezüch
tigten bleibt, erhält einen schrecklichen, ver
derblichen Einfluß aus der Hand des Büt
tels. Der Knabe hatte keine klare Be
griffe vom Rechte, aber er fühlte desto
deutlicher, das; er unwürdig behandelt sei.
Der erste Schritt zu dem wirklichen
Verderben oder der Handlung die wenig
stens vor der Gesellschaft so genannt wird,
ist bekanntlich der schwerste. Nachdem
das pochende Gewissen oder das quälende
Vorurtheil beruhigt und beseitigt ist, nach
dem das Ueberwinden der ersten Schmach
das Ehrgefühl gehärtet hat, sobald die
Noth als Antrieb zum Vergehen fortbe
steht, ist der Fortschritt auf der verderbli
chen Bahn leicht gemacht. Christine,
nachdem ihr die kleinen Forstfrevel, die sie
im Winter beging, um mit ihren Kindern
nicht zu erfrieren, lange Zeit gelungen
waren, wurde das zweite und bald darauf
auch das dritte Mal auf der That ertappt.
Die menschliche Gesellschaft ist eigennützig
wie der einzelne Mensch und ahndet hart
die Eingriffe in daDEigenthum. Jeder
Staat hat für den Diebstahl grausame
Strafen, und wenn das Gesetz gleich hier
und dort bei den ersten Fällen milde ver
fährt so- ist es desto eiserner bei der dritten
oder vierten Wiedervergeltung.
Christine wurde jetzt zur Zuchthausstra
fe verurtheilt. Es war zu derselben Zeit,
als sich zum ersten Male an dem einzigen
Nahrungsmittel der Armen, an den Kar
toffeln, eine Krankheit wahrnehmen ließ,
wodurch sie zur Speise untauglich wurden,
und so entging die arme Fran dem Hun
gertypus, der bald allgemein in der Ge
gend ausbrach, freilich mit der schrecklichen
Angst des Mutterherzens, ihre Kinder der
verheerenden Seuche zu lassen. Während
in der Stadt Bonn eine fremde Königin
von ihrem Gastgeber prächtig bewirthe!
wurde, tönte der Schrei der Hungersnotl
durch die Gegend der Eifel und dec
Hunnörücks. Es war hier der Gegensatz
im Großen, den wir oben zwischen de»
Noth des Hirtenknaben und dem Ueber:
fluß der gutsherrlichen Familie schon an
geschaut haben.
Karls Schwester erkrankte, und obgleich
die gnädige Frau mit herbeieilte, starb sic
bald als Opfer deS allgemeinen Elendes,
Der Sohn des Häuslers weinte nur we
nige Thränen am Grabe seines Schwe
sterchens ; die Bitterkeit überwog fast du
Trauer. Er war nun vielfach von de»
Härte des Schicksals berührt, vielfach von
der Ungerechtigkeit der Gesellschaft miß
handelt worden. Die Gesellschaft hattc
seine Mutter, trotz deren angestrengtestem
Fleiße, nicht von der bittersten Noth be
wahrt, nachdem sie den Vater in der Nachl
der Mühe und Unwissenheit hatte verge
hen lassen; sie hatte die durch Heißhun
ger zum Verbrechen Verleitete in der
qualvollen Kerker gestoßen, sein eigenes
kindischesEhrgefühl durch hündische Stra
fe verletzt, und seine kleine unschuldigk
Schwester von der Hungerseuche hinraf
fen lassen. Er fühlte diese Bitterkeil
aber nicht wie ein kleinlicher Geist gegen
die einzelnen Peiniger, sondern er begriff,
daß die Gesellschaft schuldig sei, und nahm
sich vor zur Fahne der unermüdlichen
Kämpfer für die Menschenrechte zu schwö
ren. Nachdem er das Grab seiner Schwe
ster geküßt und das seines VaterS mit fri
schen Rasen bedeckt hatte, wandelte e»
schweigend und gefaßt zur nahen Stadl
wo ihn der Gutsherr in die Lehre einec
Sattlers empfohlen hatte.
Gern und wittig betrat er die Laufbakn
Laufende Nummer 43
des Handwerkers, dankbar gegen das Ge
schick, das ihn jenem Zustande der Ab«
i hängigkeit, in dem er bis jetzt gelebt, uni?
der sich von der Leibeigenschaft wenig un
terscheidet, entzog. Er verlebte die Lehr
jahre, wie es gewöhnlich ist. Ein stren
ger Meister, dessen Härte er doch der Ro
heit der Gesellen vorzog, hielt ihn bei
schmaler Kost und schwerer Arbeit und ne
benbei noch zu allerlei häuslichen Dienst
leistungen. Scheltworte wechselten mit
Püffen und Maulschellen. „Lehrjahre
sind keine Herrenjahre," sagte der Mei
ster ; „mir ist es auch nicht besser ergan
gen," sprach der Gesell, wenn er die Thrä
nen im Auge des Knaben sah, Karl aber
nahm sich vor, daß, wenn er Gesell ge
worden, er die Dualen seiner eigenen Lehr
zeit nicht ein anderes schwaches Geschöpf
wollte empfinden lassen, daß er die jungen
Menschen, die vom Baterhause in die
Fremde zum Erlernen einer schweren Ar
beit getrieben, mit Menschlichkeit und Mil
de behandeln und ihnen Vater und Freund
zugleich sein wollte.
Als er nach vier schweren Jahren Ge
sell geworden, lernte er die lüderliche und
rohe Lebensweise der jungen Handwerker
erst recht kennen, und wieder war es jene
sogenannte „Gesellschaft," der Staat, dem
er dies zur Last legen mußte. „Die Hand
arbeit entwürdigt den Menschen nicht, aber
die lange Arbeitszeit," pflegte er zu sa
gen. „Was sind wir, die vom Sonnen
aufgange bis spät in der Abendzeit schwit
zen müssen, denen kaum Zeit gelassen wird,
eine dürftige Mahlzeit zu halten, was sind
wir Anderes, als Lastthiere ? Bleibt uns
Muße für unsere wissenschaftliche Ausbil
dung, zu deren Anfang uns die strengen
Lehrjahre nicht einmal Zeit gelassen ? Ist
dieser Aufwand von Kraft und Mühe er
forderlich zum Wohl der Menschheit, oder
gereicht er ihr zum Verderben? Nein,
er ist zu ihrem Nachtheile. Die Geldsäk
ke beuten die Kräfte des Arbeiters aus :
dem Hülflosen Handwerker aber wird kein
Mittel zur Vereinigung, keine Unterstüt
zung gewährt. Man reicht uns nur die
nöthigste Nahrung, wie der Maschine die
Räderschmiere, man läßt uns nur so viel
Ruhe, als durchaus erforderlich ist um un
sere Glieder nicht in kürzester Zeit abzu
nutzen ; aber man gestattet uns kein Recht
auf Lebensgenuß. Und dennoch habt ihr
nicht vermocht, den Arbeirer ganz herab
zuwürdigen -er im Gegentheil ist noch
der Einzige in der faulen Gesellschaft, der
jeden Augenblick that- und schlagfertig ist,
der die Idee der Freiheit und des Rechts
in sich aufgenommen und sein Leben da
ran setzt, obgleich ihr ihn und sein Stre
ben mit Spott- und Ekelnamen belegt.—
Was könnte aus diesem Stande werden,
der trotz aller Dual noch das ?lrbild der
Gottheit am reinsten bewahrt hat, wenn
ihr ihm täglich Zeit zur Erholung, zur
allseitigen körperlichen Entwicklung, zur
Bildung des Geistes, zum Genuß der Na
tur und der häuslichen Freuden gestatte
tet, wenn ihr es euch angelegen sein ließet,
ihn durch eure Achtung und euren Unter
richt zu veredeln ? Aber ihr überlaßt ihm
den Branntwein und die Kueipe, die Ro
heit und Lüderlichkeit als Eeholung von
der knechtischen Anstrengung. Eure Po
lizei mißhandelt ihn, wie ein Fremder und
Missethäter wird er im eignen Vaterlande
beobachtet, kontrolirt, vertrieben und wenn
er in Lumpen gekleidet auf der Landstra
ße liegen bleibt, lasset ihr ihn wie ein
Vieh verrecken. Aber ihr bildet durch
eure Grausamkeit an diesem Stande eu
ren Todfeind, und er ist es, durch den ihr
den Untergang eurer morschen Zustände
zu fürchten habt.
Karl hatte seine Mutter mit den Früch
ten seiner angestrengten Arbeit unter
stützt ; aber obgleich die alte Frau sich
jetzt in erträglichen Verhältnissen befand,
lebte sie nicht mehr lange nach der Zeit
ihrer Entlassung auS dem Zuchthause.
SVie das Vieh, welches der Fleischer beim
Feilschen angefaßt hat, nach dem Volks
glauben verenden muß, so ist stets die Le-