Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, May 09, 1918, Image 3

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    Das Hennendiandl.
Lustig« Geschichte von R. Grciiiz.
Die dummen Geschichten, die einem
selber passiert sind, erzählt man re
gelmäßig am unliebsten. Zur heilsa
men Buße für unterschiedliche Sün
den muß ich mein Abenteuer mit dem
Hennendiandl aber doch einmal aus
kramen.
Es ist schon ziemlich lange her. Ich
war damals in der höchsten Blütezeit
der holdesten Jugendeselei. Es war
in den Ferien nach meiner Gymna
sialmatura. Ich genoß meine frisch
erworbene Freiheit mit vollen Zügen
in Gestalt einer Sommerfrische im
Brandenberger Tal.
Von Rattenberg im Unterinntal
aus wanderte ich an einem Julitage
mit dem Schneifel (Rucksack) am
Rücken über das uralte romantische
Bergeinsamkeit von Brandenberg.
Durch rauschenden Buchenwald ent
lang der Brandenberger Ache, deren
spiegelklares Wasser einen ganz ei
genartigen Perlmutterglanz hat. Böl-
Die Welt ist eng begrenzt da droben.
Um so leichter vergißt man auf die
Welt draußen.
Aschau hat ein einziges kleines
Wirtshäusl. Ein richtiges Bauern
wirtshäusl, in dem es wohl einen
guten Tropfen Wein, aber in der
Kost wenig Abwechslung gibt. Speck
knödel, Schmarrn, Geselchtes, mit
Kraut, Topsenbauzen (Mehlspeise
aus Topfen) oder Erdäpfelnudel, das
macht so ziemlich die ganze Speis
karte aus. Höchstens einmal ein fri
sches Schweinernes, wenn gerade ein
Bauer schlachtet.
An Werktagen war es recht ein
sam in dem Wirtshäusl. Kaum daß
sich hie und da ein Geist dahin ver
irrte. An Sonn- und Feiertagen
ging es aber sehr lebhaft zu. Da
kamen die Bauern und Knechte und
huldigten dem Vergnügen des Ke
—gelscheibens. Es war eine präch
tige Kegelbahn beim Wirt, aus der
oft hitzige Schlachten ausgefochten
wurden.
Schon am ersten Sonntag meiner
Sommerfrische in Aschau hatte ich
den Kranzelfcheiber Lex kennen ge
lernt, der alsbald mein besonderer
Alexius und war Knecht
beim Kirchebner, einem größern Bau
ern in Aschau. Der Lex war der
beste Kegler in der ganzen Gegend.
Daher auch sein Name Kranzelfchei
ber Lex.
Er weihte mich in die höheren Ge
heimnisse des Kegelscheibens ein. Wie
man eine sogenannte „Prälaten
wurst" scheibt, d. h. auf einen einzi
gen Wurf die drei mittleren Kegel
mitsamt dem König zu Fall bringt.
Dann die schwierigere Technik der
Kranzeln. Da gilt es, auf drei Würfe
sämtliche Kegel mit Ausnahme des
Königs in der Mitte zu fällen. Und
endlich das Ideal jedes Keglers: das
Naturkranzel. Das ist das oben er
wähnte Kränze! auf einen einzigen
Wurf. Die Naturkranzeln sind übri
gens so selten, daß sie mit Jahr und
Datum an den Balken der Kegelbahn
angekreidet werden.
In der freien Zeit die mir das
Kegelscheiben und das Herumstrapan
zen in der Gegend ließ, hatte ich mich
schauderhaft verliebt. Der Gegen
stand meiner Verehrung war ein jun
lustigen Augen und einem herzigen
G'sichtel. Das Bronele beim
Gschmentnerbauern.
Der Gschwentner war der reichste
Bauer in Aschau. Sein Gehöft konn
te wahrhaft stattlich genannt werden.
Ein breit und massig hingebautes
Bauernhaus mit großem Stall, Heu
stadel und Tennnen und mit einem
ausgedehnten grünen Anger.
Die Gschwentnerbäuerin hatte eine
geradezu leidenschaftliche Vorliebe für
Geflügelzucht. Das größte Kontin
gent stellten natürlich die Hennen. Es
waren aber auch ziemlich viele Enten
und Gänse auf dem Hose vorhanden.
Sogar ein welscher Truthahn stolzier
te in dem Anger umher.
Für die Hennen hatte der Bauer
«inen eigenen Stall errichtet. Ein
kleiner Teil des Tennen war zum
Hennenstall umgebaut worden, zu dem
vom Erdboden aus ein schmales
Stiegerl hinaufführte.
Für die Hennen und das übrige
Geflügel hatte sich die Bäuerin eine
eigene Dirn angestellt, die in Aschau
allgemein nur das Hennendiandl hieß.
Natürlich hatt« meine Angebetete
davon keine Ahnung. Ueber eiu
paar schüchterne Versuche, mit ihr ein
Gespräch anzuknüplen, war ich nicht
Hennen. Bei diesem Thema blieb ich
unrettbar kleben und suchte vergebens
den nötigen Uebergang zu einer Er
öffnung meiner Gefühle.
In dieser verzwickten Lage kam
mir der Kranzelfcheiber Lex zu Hil
fe, den ich in mein Geheimnis ein
weihte. Er hatte mir mit entschieden
großer Aufmerksamkeit schweigend zu
gehört, lachte unter meiner Erzählung
mehrmals verschmitzt und tat schließ
lich die schmeichelhafte Aeußerung:
„Weißt was, du bist a dalketer
Teufl! Oes Stadtlinger habt's halt
alle an Leibschaden im Hirn! Dö
G'schicht' mit 'm Hennendiandl hast
ja ganz verdraht ang'sangt! Da
muaßt zum Vronele sensterln geh'n,
wenn d' wissen willst, wia d' dran
bist!"
Als ich ihm erklärte, daß ich so
was doch nicht recht wagen würde,
fuhr mich der Lex an: „Laß dich nit
auslachen, du Trauminit! Wenn du
dein Herz in der Hosen hast statt
am richtigen Fleck, nacher wirst nia
was ausrichten bei an saubern
Diandl! Uebrigens, weil's du bist,
will i 's erste Mal mit dir geh'n und
dir 's Loaterl halten!"
Ich war überglücklich, daß sich der
Lex so echt freundschaftlich meiner
annahm, und befand mich drei Tage
lang in großer Aufregung und in
spannender Erwartung der Dinge, die
da kommen sollten. Denn so lang
dauert« es noch, bis der Fensterlgang
! t'i'gitreten wurde.
j Es müsse eine stockfinstre Nacht
sein, hatte der Lex gesagt. Da jetzt
Neumond eintrete, hätte ich gerade
die günstigste Zeit erwischt. In
zwischen hatte mir der Lex auch ge
steckt, daß mich, soweit er sich aus
kennne, das Vronele gar nicht so un
gern sehe.
Stockfinstre Nacht war's, als ich
mit dem Lex den Weg zum
Gfchwentnerhof hinauftappte. Schwe
re Wolken zogen am Himmel. Ein«
schwüle Sommernacht. Ich stolperte
neben dem Lex dahin, der eine kleine
Leiter trug.
Endlich kamen wir an den Anger
zaun des Gschwentner. Ein Gatterl
knarrte. Es ging über weichen Rasen
dahin. Das Gehöft war nur in ganz
verschwommenen Umrissen gegen den
dunklen Nachthimmel zu erkennen.
Kein Lüfterl regte sich. Ein paarmal
wäre ich bei einem Haar mit dem
Anger gerannt.
Jetzt schienen wir zur Stelle zu
sein. Wenigstens machte der Lex
Halt und lehnte die Leiter gegen
die Mauer. Mein Herz klopfte hör
bar.
„Da is 's Kammerfensterl vom
Vronele!" flüsterte der Lex. „Jatz
pass' auf, damit 's nächste Mal 's
Fensterln selber kannst!"
Der Lex tat mit der Zunge «in
paar Schnaggler, daß wie
Oder is dös dei Fensterl nit?
im nächsten Augenblick flink wie ein
„Oacherl" (Eichhörnchen) die Leiter
sprossen empor. Ich hörte, wie er
mehrmals klopfte.
hörte ich den Lex sagen: „Mir
scheint, 's Vronele rührt sich
schon!"
etwas in den Angeln drehte. Gleich
zeitig kletterte der Lex die Leiter wie
der her'inter.
„Sie hat 's Fensterl aufg'macht!"
flüsterte er. „Schleun' (eile) dich, steig'
ein!"
Er schob mich gewaltsam zur Lei
ter und schob noch hinter mir nach,
nach oben klettern mußte.
„Steig' ein!" hörte ich den Lex,
der hinter mir auf der Leiter stand.
Ich tastete um mich und griff eine
Art Fensterbalken. Eine warme dun
stige Luft schlug mir entgegen.
„Steig' ein!" hörte ich noch den
Lex sagen. Dann schob er mich
durch die Oefftiung im Gebälk durch.
Ich purzelte nach vorn ins Dunkle.
Noch ein kräftiger Schub des Lex,
und ich war drinnen. Hinter mir
hcrte ich es zuschlagen und einen Rie
gel vorschieben.
Das war das Werk weniger Ce
ti nden. Ich tastete um mich und
griff mit den Händen in lauter
Stroh. Dann richtete ich mich
auf und stieß mir den Kopf derart
an den Ueberboden des Raumes, in
> sank.
Gl?ich darauf ging rings um mich
herum ein Heidenspektakel los. Ein
Springen und Flattern und aufge
regtes Gackern, daß ich vorläufig ganz
betäubt war. Ich kam jedoch rasch
genug zu der Erkenntnis, daß ich
mich nirgends anderswo befand, als
im Hennenstall. Das in seiner
Nachtruhe g«stört« und durch meinen
plötzlichen Einbruch ganz entsetzte
gen die feste Baltenwand. „Lex!"
rief ich, „Lex! I bin im Hennenstall.
Wir haben 's Fensterl verfehlt! Mach'
auf. Lex!"
Keine Antwort erfolgte. Ich glaub
te jedoch ein unterdrücktes Lachen von
draußen zu hören.
„Aufmachen, Lex! Hast g'hört!"
trommelte ich weiter. Keine Erhö-
Biertelstunde.
takel im Hennenstall nichts hörte da
für fand ich esst später die Erklä
rung. Der Tennen lag weit nach rück-
Lex statt durch Vroneles Fensterl
mir selber.
Durch die Ritzen im Holzbau des
Hennenstalles brachen die Strahlen
wurde zurückgeschoben. Das Tiirl
tat sich auf. Der helle Morgen schien
herein.
lockte die Hennen. . .„Bull. . .Bull. ..
Bull. . . .Bulliii. . ." das Geflügel
Zuletzt das lachende Gesicht
Ich sprang in meiner Ecke empor,
stieß mir den Schädel noch einmal
damisch an, kroch durch das Tllrl an
dem Vrvnele vorüber ins Freie, setzte
wie gehetzt mit ein paar Sprüngen
über das Hennenstiegel hinunter beim
Gatterl und weit weg vom Gschwent
nerhof.
Das Hennendiandl aber hörte ich
hinter mie drein lachen, daß es völlig
erstickte.
Hennendiandl, habe ich mich in mei
nem ganzen Leben nie. Noch am
gleichen Tag packte ich meinen
„Schnerfer" und wanderte talaus
wärts, um das Zelt meiner Sommer
frische in einer anderen Gegen aufzu
schlagen. Der Kranzenscheiber Lex
aber könnte ich heute noch bei leben
digem Leib braten.
Gesehen habe ich den Lex nicht
mehr. Von der Wirtin in Aschau er
fuhr ich jedoch vor meinem Abschied
durch vorsichtiges Herumfragen, daß
der Lex schon seit mehr als einem
Jahr der Schatz des Vornele war.
Aller Voraussicht nach ist es in je
ner Nacht, während ich im Hennenstall
dunstete. selber bei«, Hennen
diandl sensterln gegangen und hat sich
recht ausgiebig über mich lustig ge
macht.
Vielleicht hat der Kranzelfcheiber
Lex im Laufe der Begebenheiten das
Hennendiandl geheiratet. Vielleicht
auch nicht. In jedem Fall soll ihn der
Teufel holen!
Wie Dickens dichtete.
Eine Enkelin von Charles Dickens
erzählt im Pall Mall Magazine vo»
der Art, in lvelcher der berühmte
Erzähler seine Romane zu schreiben
pflegte. Solange er mit einem Bu
che beschäftigt war, befand er sich in
einer äußerst gereizten Stimmung.
Er vertrug es nicht, daß man vo»
seinen Arbeiten sprach, und wies
auch die nächsten Angehörigen zu
rück, die ihn über seine Entwürse
ausfragen wollten. Das Schicksal
seiner neuen Geschöpfe betrachtete er
gewissermaßen als sein persönliches
Geheimnis, von dem er twn Schleier
vollendet gebliebenen Geschichte oes
Dichters, etwas erfahren hat. Die
diskutieren heute eisrig
Uurten.
Bon Emil Marriot.
Ein Brief aus Berlin! Von der
lieben, guten Hertha. Agnes küßte
das Schreiben, bevor sie es erbrach.
Sie hatte bei den liebenswürdigen
Berliner Verwandten so selige Tage
verlebt! Das große Erlebnis des
letzten Jahres, diese zwei Wintermo
nate in Berlin. So viel Abwechs
lung und Unterhaltung. So viele
neue Menschen, denen sie begegnet
war. Alles so anders als hier in
Wien: so unendlich viel freier, grö
ßer, eleganter, lebhafter. Hier, al
lein mit der guten Tante Emma,
einem allen Fräulein, das an der
Doppelwaise Mutterstelle vertrat,
schlief man ja sozusagen ein! Und
durste nicht merken lassen, daß man's
empfand. Nicht sagen, daß man
Heimweh nach Berlin hatte, daß ei
nein dort viel wohler zumute gewe
sen war, als hier. Das hätte Tante
Emma furchtbar übelgenommen. Aber
darum war es doch da, das HHn
weh, auch wenn man es noch so sorg
sam verschwieg. Und es war nicht
einmal das einzige, wovon die Tante
nichts wissen durste....
Agnes öffnete das Schreiben ihrer
Cousine Hertha, begann es zu lesen,
riß plötzlich die Augen auf, so
sie tonnte, und wurde totenblaß....
Was stand denn da, du mein
Gott!?
„Denke Dir, liebste Agnes: Pro
fessor Bohling reist morgen zum Na
tursorscherkongreß nach Wien ab und
bleibt während des Kongresses da:
also drei Tage. Eben war er bei
uns und hat es uns gesagt. Ich
habe ihm auf die Seele gebunden,
Dich ja gewiß und sicher zu besuchen,
und habe ihm Deine Adresse ausge
schrieben. Er wird ohne Zweifel zu
Dir kommen, und ich teile es Dir
mit, damit Du an diesen Tagen zu
Hause bleibst. Vielleicht willst Du
ihn übrigens für einen bestimmten
Tag einladen? Du kannst ihm ins
Hotel schreiben, wenn Du magst."
Agnes ließ den Brief in die Ta
sche gleiten und begann erregt im
Zimmer auf- und abzugehen. Ihr
Herz schlug zum Zerspringen.
„Morgen reist er ab." Der Brief
war vorgestern abend geschrieben
worden. „Er" war also wohl schon
da, war schon in Wien. Der Kon
greß nahm morgen seinen Anfang.
Ihm ins Hotel schreiben? Ja,
wenn sie Mut hätte. So viel Mut
wie Hertha. Aber den hatte sie lei
der nicht. Und vielleicht kam er auch
ohne das. Aus freiem Antrieb. Er
war ja so nett zu ihr gewesen in
Berlin, hatte sie vor allen andern
Damen ausgezeichnet. Alle hatten
es bemerkt und beredet. Sie bildete
es sich gewiß nicht bloß ein! Und
beim Abschied war er bewegt gewe
sen, hatte von Wiedersehen gespro-
Vielleicht nahm er gar nur des
halb am Kongreß teil, um nach Wien
zu kommen und sie wiederzusehen.
Wer weiß! Warum sollte er ihre
Empfindung nicht erwidern?
Der Tante mochte sie nichts von
dem sagen, was für die nächsten Tage
bevorstand. Sie hatte ihr wenig
von ihm erzählt. Wozu auch? Und
wenn er kam, würde Tante Emma
ja alles sehen....
Wenn er kam!! So märchenhaft
fuß klang's. Fast zu süß, um wahr
sein zu können.
Am nächsten Tag war sie sriiher
als gewöhnlich aus dem Bett heraus.
blaß und übernächtig aus. Tante
Emma wunderte sich: so ordnungs
liebend war Agnes niemals noch ge
im Speisezimmer ab, rückte alles zu
recht, lies fort und brachte Blumen
nach Haus, mit denen sie alle vor
handenen Vasen siillte. Und dann
machte sie sich schon am Vormittag
schön, als wenn man Gäste zu Tisch
„Was hast du denn?" fragte die
Tante halb mißbilligend. „Man zieht
doch nicht sein bestes Kleid an, wenn
man zu Haus bleibt und niemand
kommen soll!"
„Das macht doch nichts," entgeg
nete Agnes ein bißchen gereizt. „Man
kann ja wohl auch einmal für sich
selbst erträglich aussehen wollen, nicht
wahr?"
Am Nachmittag schlug die Tante
einen Ausgang vor. Einen Besuch,!
statten wollte. Agnes sollte sie be
gleiten.
Das junge Mädchen sagte nein da
zu. Sie habe Kopfweh und wolle
sich lieber ein bißchen hinlegen. Und
Während dieser drei Stunden war
tete Agnes unablässig. So wie sie
einen Wagen auf der Straße rollen
hörte, stürzte sie ans Feuster. Doch
kein einziger hielt am Tor ihres Hau
ses. Alle kamen näher, näher, roll
ten vorüber, und das Geklapper der
Hufe, das Geräusch der Räder ver
„Weiin nur niemand sonst
kommt!" dachte Agnes mit Herzklop-,
fen. Niemand kam. Das Abend-
Blatt wurde gebracht. Dann ein
gleichgültiger Brief. Dann irgend
etwas fürs Haus. Das Dienstmäd
chen kam nach dem Klingeln jedesmal
in den Salon, wo Agnes, scheinbar
mit einem Buch beschäftigt, erwar
tungsvoll lauschend saß,- händigte ihr
das Abendblatt, den belanglosen
Brief ein und ging gleichmütig wie
der hinaus .... und Agnes starrte
die Zeitung, den Brief wie geistes
abwesend an. Wie ihr das Herz
pochte bei jedem Klingeln draujzen!
Und dann das qualvolle Horchen und
Warten: was ist's? Wer ist's? Bis
das Mädchen eintrat und ihre Hoff
nung zerstörte. Und der Zeiger der
Wanduhr rückte unbarmherzig vor,
die Zeit verging....
Um acht Uhr klingelte es wieder.
Agnes schreckte empor, als wenn ihr
ein Schlag aufs Herz versetzt worden
wäre. Vielleicht jetzt. Er hat nicht
früher abkommen können. Und will
den Tag nicht verstreichen lassen,
ohne sie zu begrüßen.
Draußen wurde geöffnet und ge-
Agnes setzte sich still wieder an
den Tisch und tat, als wenn sie läse.
Ach ja, die Tante. Die hatte sie
ganz und gar vergessen gehabt....
Nun kam das Abendbrot wie eben
alle Tage. Und Tante Emma er
zählte, wie nett es bei Frau Fröben
gewesen, und daß deren Tochter Elise
sehr bedauert hätte, vaß Agnes nicht
Tante hinzu.
Agnes fuhr aus ihrer Teilnahm
losigkeit aus. .Wer?" fragte sie ver
wirrt. „Elise? Mein Gott! Wes
halb denn?"
Die Tante sah sie erstaunt an.
„Weshalb? Weil sie dich sehen will,
„Aber es paßt mir morgen nicht!"
stieß Agnes heraus. »Ich habe schon
etwas vor!"
„Was denn?"
sagte sie am Ende. „Aber Elise
Sache ein Ende zu machen. Er mußte
ja nicht gerade zur selben Stunde er
scheinen. Vielleicht kam er schon am
blieb entsetzlich lange und war sehr
gesprächig. Agnes verhielt sich äu
ßerst schweigsam, hörte zerstreut zu
und lauschte beständig angestrengt je
ihr drang. Abermals wurde wieder
holt geklingelt. Wieder kam das
Abendblatt. Dann eine all« Dame,
die mit der Tante etwas zu bespre
chen hatte. Dann eine Postkarte.
Und wieder rückte der Zeiger der Uhr
Acht Uhr. Elise brach endlich auf.
Und als sie fort war, fetzte man sich
zum Abendbrot an den Tisch wie ge
stern, wie alle Tage.
Um neun Uhr klingelte es noch ein
mal. Agnes zuckte zusammen. Viel
leicht doch noch eine BotMast von
ihm.
Zu einem Besuch war es zu spät
geworden.
Es war keine Botschaft von ihm.
Ein Schusterjunge hatte ein Paar
reparierte Stiesel für die Tante abge
liefert.
Also auch der zweite Tag verloren.
Und er blieb nur drei Tage. Mor
gen war der letzte Tag....
„Ich hätte ihn wohl doch einladen,
ihn bitten sollen, mich zu besuchen.
Das wär« höflicher gewesen. Aber
ich bin immer so: zur unrechten Zeit
zurückhaltend und ängstlich. Und
damit versäume und verderbe ich mir
alles."
Doch noch war es nicht zu spät.
Es hieß, ihm aus der Stelle schrei-
mit der ersten Post.
Eilig setzte sie sich hin und schrieb.
Dann schickte sie das Mädchen mit
dem Brief fort. Und dann kroch sie
abgespannt und müde in ihr Bett.
Ohne viel Hoffnung stand sie wie
der auf. Es gewährte ihr ein« Art
Erleichterung, als die Tante ihr
sagte, daß sie heute nachmittag einer
Sitzung beizuwohnen hätte.
„Ich werde allein sein," dachte sie.
„Das ist besser. Man trägt es leich-
Halte sich betrogen, hatte «in bißchen
Galanterie und Wohlgefallen nach
ihren geheimen Wünschen gedeutet
und sich mit törichten Hoffnungen
getragen. Er hatte keine Liebe für
sie.
Und dennoch wer weiß! Es
konnte ja noch Liebe werden. Nur
ihn wiedersehen. Allein sein mit
ihm, allerhand ihm sag«n. Gefallen
wollte sie ihm. Es konnte ja noch
anders, konnte noch viel, viel besser
werden. Nur kommen, kommen sollte
er zu ihr! Daß ihre Sehnsucht ihn
nicht Herzog! Wenn man so heiß,
so qualvoll heiß ersehnt und erwartet
wurde! Daß man's nicht suhlte!
Es war ihr unfaßbar....
Sie warf einen scheuen Blick nach
der Wanduhr. Um Gottes willen,
schon sechs Uhr. WFnn die Zeit nur
still stünde.
Es war ein Feiertag heute. Und
so kam weder die Abendzeitung, noch
wurde ein Brief gebracht. Die Klin
gel schrillte kein einziges Mal. In
der Küche saß die Magd und nähte.
So still war's im Haus und auf de«
Straße. Alles ausgeflogen, aufs
Land oder sonst wohin. Jeder wollte
sein Feiertagsvergniigen haben, wenn
er konnte. Es war ein wunderschö
ner Frühlingstag.
Um sieben Uhr rollte ein Wagen
über das Straßenpslaster, kam nä
her, hielt am Tor. Agnes stürzte
zum Fenster hin und beugte sich hin
aus, so weit sie es tun konnte.
Ein Herr und eine Dame waren
ausgestiegen. Fremde Leute. Der
Kutscher warf den Schlag zu und
fuhr davon. Da brach das junge
Mädchen in ein lautes, verzweifeltes
Weinen aus.
Gegen neun Uhr kam die Tante
nach Haufe.
„Wo stickst du denn?" fragte sie
„Hier," antwortete eine müde, wie
tonlose Stimme aus dexi völlig
dunklen Salon, und etwas auf dem
Sofa regte sich schwerfällig und müh
selig.
„Warum hockst du da im Fin
stern? Und der Tisch ist auch noch
nicht gedeckt. Die Minna denkt an
nichts, und du kümmerst dich auch
um nichts. Mach fix. Ich bin sehr
hungrig."
Als der Schein der Lampe im
Speisezimmer aus das Gesicht des
jungen Mädchens siel, fuhr ihre
Tante erschrocken zurück. „UmS
Himmels willen, Kind, wie siehst du
denn aus? Hast du geweint? Oder
bist du krank?"
Sie schüttelte den Kops. »810 ß
müde, Tante. Ich habe stundenlang
gelesen. Und davon tun mir die
Augen weh."
Als sie einander wie jeden Abend
vor dem Zubettgehen eine gute Nacht
wünschten, sagte Agnes unvermittelt:
„Wenn ich eine Höllenstrafe ersin
nen müßte, wüßte ich, was ich wäh
len würde: vergebliches Warten."
„Wie lommst du bloß wieder dar
auf?" entgegnete die Tante unzufrie
denen Tons. .
„Es fiel mir nur so ein," versetzte
Agnes und sah von der Tante weg.
„Wahrscheinlich, weil ich von Aehn
iichem gelesen habe.... Gute Nacht.
Tante."
Der nächste Morgen brachte zwei
Briefe: einen Stadtpostbrief und ein
Schreiben aus Berlin. Der erste
enthielt eine höfliche Entschuldigung:
es sei ihm leider nicht möglich gewe
sen, der liebenswürdigen Einladung
Folge zu leisten, so gerj, er es auch
gewollt hätte. Er habe bis zum
letzten Augenblick gehofft, kommen zu
können: zu seinem größten Bedauern
umsonst. Der leidige Kongreß habe
alle seine Zeit in genom
men.
Der Kongreß hatte täglich nur vier
bis siink Stunden getagt. Das hatte
herzliches Wort.
Dann las sie den Brief aus Ber
lin. „Ach, Liebste," schrieb ihr Her
setzen. Schlag ihn Dir aus dem
Kopf, das ist das einzige, was ich
Dir noch raten kann ..."
Langsam zerriß Agnes auch diesen
Brief. Da war es freilich vergeblich
gewesen, auf ihn zu warten. Da
klärte sich so einfach, so selbstver
ständlich .... und tat so entsetzlich
weh....