Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, January 27, 1893, Page 3, Image 3

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    Das Verhängnis!.
<S. Fortsetzung.)
Unruhig warf sie sich hin und her.
Mit halbgeschlosscnen Lidern starrte sie
durch das Fenster, welches ihrem Bett
gegenüber war, gerade auf einen weiß-
Ichimmerntttn Apfelbaum. Tic Sonne
lag mit ihrem vollen Mittagsstrahl ans
seinem Blüthenmeer und brannte sich
in Heister Muth in ihr Hirn. Sie
wollte sich ausrichten, das Fenster schlie
ßen und den Vorhang herablassen
cs war ihr nicht möglich. Und nun
sah sie Feuerräder in grüner, blauer,
rother Färbung, die sich sortwährend
drehten, und dahinter stand der lange,
hagere Fremde mit den weißen Haar
strähnen. den buschigen Braunen und
den tiesen, durchdringenden Augen.
Sie kam näher und näher, seine Hand
umspannte il>ren Puls, ein Eijesstroni
drang bis in ihr Herz dann wieder
die Feuerräder, wieder die Gluth und
wieder die Augen, welche sie zu durch
bohren schienen. Jetzt wußte sie. wem
diese Augen gehörten es waren ihre
eigenen dunklen Augen die Augen
ihres BruoerS ihres Vaters. „Va
ter!" gellte es markerschütternd dur»
das Haus. „Vater!"
D»e Wirthin hantirte in der Küche
und bereitete das Mittagessen vor. Sie
hatte dort, nachdem sie von Ange
hernntergelommen. einen zweiten Gast
gesunden, der auch um ein Zimmer ge
beten. Es war ein alter Mann, mit
hagerem Gesicht, in duullem Ueberrock.
Auf seine» Wunsch hatte sie ihm eben
falls im ersten Stock ein Zimmer gege
ben. wo er bis jetzt verblieben. Sie
hatte geglaubt, er würde in die Gast
stube kommen und dort seinen Kaffee
trinken, aber er ließ nichts von sich
sehen. Sie hatte die Kanne aus den
ossenen Herd gestellt nnd, da er immer
noch nicht kam, ihn schließlich vor dem
Verbrvdeln dadurch bewahrt, daß sie
ihn selbst trank.
Nun war cs bald Mittagszeit und
weder von dem alten Herrn, noch von
vem jungen Fräulein etwas zu sehen.
Ta schallte plötzlich der gellende Rns
von den fiebernden Lippen Ange's durch
das Haus. Di? Magd, welch: den
Vorsanl scheuerte, stürzte herein. „Ha
ben Sie gehört. Bäurin? Es kam von
oben, was mag das sein?"
Tie Wirthin hatte eS natürlich ge
hört und war nicht weniger erschrocken;
sie eilte mit der Magd die schmale Holz
treppe nach den Gastzimmern hinauf.
Alles war oben still. Die Thür des
Zimmers, wo der alte Herr logirte.
stand offen. Die Frauen blickte» hin
ein. das Zimmer war leer. „Ich hörte
ganz beutlich, wie das Fräulein ..Va
ter" schrie" beantwortete die Magd den
verwundert fragende» Blick der Wirthin.
„Sie kam aber allein an und er
später!"
„Na. deshalb kann er immerhin ihr
Vater sein. Dahinter steckt am Ende
eine Geschichte," meinte die Magd.
„Klopfen Sie doch mal an das Zim
mer des Fräuleins, er wird wohl bei
ihr sein."
Die Bäurin befolgte ihren Rath.
Sie klopfte leise. Keine Antwort. Sie
klopite stärker alles blieb still. Die
Magd war neben die Wirthin getreten
und nickte ihr zu. als wollte sie sagen:
„Nur dreist, gehen Sie hinein!" Vor
sichtig drückte die Bäurin die Klinke
herab und össnete die Thür. Die Magd,
welche größer war, blickte über ihre
Schulter hinweg in s Zimmer. Sie
erkannten beide sosort, daß hier etwas
Ungewöhnüch.'s vorgegangen sei. Im
Bett lag mit sieberglühendem Gesicht
die junge Fremde. Aus dem Sopha,
den weijien Kops in die Hände vergra
ben, saß der alte Herr unbeweglich,
regungslos. Er rührte sich auch nicht,
als die Frauen eintraten. Als ginge
ihn die ganze Umgebung nichts an, so
verharrte er in dumpsem Dahinbrüten.
ohne auch nur ein Haarbreit seinc Stel
lung zu verändern.
„Mein Herr, ist ein Unglück gesche
hen?" redete die Wirthin ihn er
schrocken an.
Langsam hob der Fremde den Kopf,
und unter buschige» Braunen starrten
düster ein paar dunkle Augen ' Fra
qerin an.
„Ein Uiiglück?" wiederholte er derb,
rauh.
„Ja, ein großes! Die eigene Tochter
fürchtet den Vater! Er möchte ihr hel
fen nnd kann nicht!"
Damit senkte er Hen Kopf in die
Hände zurück und stöhnte tief ans.
„Armer Herr!" Die Wirthin war
ganz Mitleid; „so schlimm wird's nicht
sein. Sind wohl ein bischen schars in
einer LiebeSjache vorgegangen, wie?"
„Leonce, Leoiice hilf hilf!"
tönte cs herzzerreißend, jammernd vom
Bett her.
Wirthin und Magd wechselten ver-
Sändnißvolle Blicke. Also eS war so.
Der Fremde war aufgesprungen.
Einen Moment starrte Ange ihn mit
entsetzten, wirren Augen an, dann sank
sie mit dem gellenden Schrei „Vater!
Das Verhängnis;!" wieder in die Kis
sen zurück, von welchen sie empor
qefahren. und schloß die Augen.
Die Wirthin kältete die Hände.
„Jtsns, Maria —sie stirbt! Katht,
lauf schnell zum Doctor —hier muß
rasch Hilst geschafft werden!"
„Lassen Sie. das ist nicht nöthig"—
des Fremden Hand hielt die Magd zu
rück — „ich selbst bin Arzt. Schassen
Sie nasse Tücher EiS!"
Die Frauen blickten rathloS.
„Eis! Ja, mein Gott, woher solche»
in dieser Jahreszeit nehmen?"
„Ist hier nicht im Orte eine
Brauerei?"
„Freilich, die von Schulzen Fritze."
besann sich die Wirthin, und die Magd
eilte auch schon, das Gewünschte zv
holen.
Die Wirthin solgte ihr. ES war ihr
unheimlich in der Nähe der im wilden
Hieberdelirium rasenden Ange'und dei
alten Mannes, welcher auf einen Stüh'
neben dem Bette der Kranken zusam
mengebrochen ftnster und verzweifell
vor sich niederstarrte.
Das war das beißersehnte Wieder
sehen mit seinem Kinde, das sein Schick«
s«l! Die Mutter endete im Irrenhause,
der Sohn zerschmetterte sich den Schä
del, die Tochter brach ihm das Herz.
O Gott, weshalb hatte ihn nicht der ge,
fürchtete Wahnsinn gepackt, ihin gleich
dem Sohne die Masse in die Hand ge
knickt und er damit seinem elenden und
verfehlten Leben ein Ende gemacht?
Was hatte er verbrochen, daß daZ
Schicksal so grausam mit ihm zu Ge
richt ging? War es ein Verbrechen, daß
er ans dem begabte» Sohne eine Ko
ryphäe der Wisjenschast zu machen ge
strebt, seinen Ehrgeiz bis zur Unnatur
angespornt, ihm keine Zeit zur geistigen
Ruhe und natürlichen Entwickelung ge
lassen? Wie mancher Vater handelt in
oerbleudeter Eitelkeit ahnlich, ohne solch
furchtbare Folgen herauszubeschwören!
Und Weib und Tochter, um derent
willen er sich losgerissen, ein ruheloser
Wanderer geworden, damit der Fluch,
welchen er aus sich geladen, die Un
schuldigen nicht auch treffen möchte
was halte er mit diesem Opser er
reicht? Sein Weib war gestorben, seine
Tochter hatte den Bater, mit ihm das
Verhängnis; sürchten gelernt, welches er
durch seine Flucht, seine Trennung
um so sicherer ihr sern zu halten ge
glaubt.
O über die Thprenweisheit der Men
schen! Wie Ahasverus, nirgends Ruhe
findend, so hatte er die Welt durch
wandert. Die Sehnsucht nach Frau
und Kind erwachte. Er kehrte aus der
Fremde zurück, ein alter, gebrochener,
menschenscheuer Mann. Vergebens
forschte er, nirgends war von ihnen
eine Spur. Niemand wußte über ihren
Verbleib Auskunst zu geben, wo er im
Heimathsorle ansrug, begegnete man
ihm mit Abneigung und Mißtrauen.
Da führte ein Zusall ihn mit der alten
Dienerin zusammen, die zn jener Zeit
in die H.imath zurückgekehrt war.
Durch diese ersuhr er von dem Tode
seiner Frau und der Stellung seiner
Tochler aus Schloß Tanner in West
falen.
Er reiste dorthin, und hier war es,
wo er Ange zum ersten Male in der
Waldschlucht begegnet. Ihre athemlose
Flucht bei seinem Erwachen, der Schreck,
den der mißtrauisch gewordene, men
schenfeindliche alte Mann in der Tochter
Augen zu lesen geglaubt —er hatte sie
sosört au der Äehnlichkeit mit seinem
verstorbenen Weibe erkannt —, festigten
in ihm den Entschluß, ihr so lange fern
zn bleiben, als sie seines Schutzes nicht
bedürfe.
Und nun hatte ihn das harte Schick
sal doch dazu gezwungen. Wiederum
mußle ein Zusall ihn gerade in der
Nacht den Kvurierzuq nach Hannover
benutzen lassen, als sein Kind mit allen
Zeichen hochgradiger Aufregung von
Tanner floh.
Mit kummervollem Erschrecken las er
in ihrem verzerrten Gesicht, in dem ner
vösen Spiel der Hände die Anzeichen
einer ernsten Krankheit, und sein Ent
schluß war gefaßt. Er mußte ihr fol
gen, wohin sie auch ging! alles Wei
tere üverließ er der momentanen Ein
gebung.
So hatte er mit ihr seine Reise un
terbrochen, war ihr in's Wirthshaus
gesolgt, halte das Zimmer' neben ihr
erhalten, ihr ängstliches Stöhnen, ha
stiges Athmen gehört, das ihm nicht
allein als Vater, sondern anch als
Arzt beunruhigen mußte. Leise hatte
er die Thür geöffnet und war an ihr
Bett getreten. Ob sie ihn erkannt oder
ob die Fieberphantasien ihr den Namen
„Vater" entrissen er wußte es nicht,
er wußte nur. daß der eigene Vater als
Schreckgespenst in ihrem Geiste, als
Verhängniß neben dem unseligen Bru
der spuke.
XIV.
Die nächtliche Flucht der jungen Ge
sellschasterin, von deren aufgeregtem
Zustande Madelon der Dienerschast be
richtet, hatte allgemeine Bestürzug her
vorgerufen. Welches unerhörten Ver
gehens muhte sie sich schuldig gemacht
haben, um so plötzlich entlassen zu
werden!
Marguerite war es, die unter Thrä
nen ihrer Großmutter dieses erklärt
und die Antwort darauf erhielt, daß
dies allerdings der Fall sei und daß si»
den Namen dieser leichtfertigen Person
nicht wieder genannt zu hören wünsche.
Marguerite war eingeschüchtert und
schwieg.'
Gras Leonce .war weniger leicht>
gläubig. Jhu hatte die.Nachricht von
der Flucht der Geliebten zuletzt erreicht
und einen Moment vollständig be
täubt.
Als er sich von dem ersten erschüt
terndeu Eindruck dieser Schrcckenskuude
erholt, suchte er seine Mutter aus, um
von ihr den Grund ihrer Entlassung z>
ersahren.
Gräsin Tanner schien jedoch ent
schlossen, ihm wie ihrer Umgebung den
selben vorzuenthalten. ES mußte Je
dem genügen, wenn sie die Entlastung
der Gesellschafterin für geboten erachtet,
Rechenschaft darüber halte sie Keinem zu
geben. Zu ihrem Erstaunen begnügte
sich aber ilir -odn imt dieser Erklärung
nicht, sondern drang mit ruhiger Ent
schiedenheit daraus, Alles zu er
fahren.
Das machte feine Mutter betroffen,
und obgleich sie weit davon entfernt
war, zu ahnen, wie Iheuer Auge ihrem
Sohn geworden war, so forderte sein«
Theilnahme doch ihre Erbitterung
heraus und sie nannte Ange eine leicht
sinnige Person, deren nächtliche Fluchl
zur Genüge den Standpunkt verrathe»
habe, aus welchem sie stehe.
Dieser Angriff hatte aber die erhofft.
Wirkung nicht, im Gegentheil, er for
derte Kraf Leonce nicht allein zu ihre,
Vertheidigung heraus, sondern riß ihn
auch fort, sein Geheimniß Preis zu ge
ben. Ohne Rücksicht sprach er von sei
ner Liebe und daß er Ange »u seinen!
Weibe zu machen gedenke. Offen, klar,
unbeirrt sagte er das Alles und sagte ei
mit um so größerer Ruhe und Festig,
keit, weil ihn hierbei weder die verstei
nerten Mienen, noch die zornig fun
kelnden Augen seiner Mutter verwirr
ten und ihr entsetztes Verstummen ih»
zu Worte kommen ließ.
Endlich brach aber der Sturm los.
Schars, schneidend raste er über ihn
hin.
.Mein Sohn, ein Graf Tanner, be
gehrt eine Person eine Dirne zum
Weibe..
„Halt!"
Des Grafen Gestalt erhob sich gebie>
tend. Jeder Blutstropsen war aus
seinem Gesicht gewichen, seine Hand
streikte sich zitternd gegen seine Mutter
aus.
„Halt, nicht ein Wort weiter! In
Deiner schonungslosen Härte, Deinem
maßlosen Hochmuth hist Tu genug
Schuld aus Dein Haupt geladen."
Sie wurde weiß bis an die Lippen.
Seine Antwort traf sie wie ein Ken
lenschlag, schwer stützte sie sich aus ih
ren Krückstock-, dann brach der Zorn
von Neuem hervor und kannte keine
Grenzen.
Das wagte ihr der eigene Sohn zu
sagen! Ihr, die wenn sie auch mit
eiserner Strenge über der Ehre ihres
HauseS gewacht, doch nur für ihre Kin
der gelebt, ihr Glück im Auge gehabt!
Weun sie ihn vor lahren gegen eine
ähnliche LiebeSthorheit in Übereinkom
men mit seinen Brüdern geschützt und
dabei auch nicht vor einer Intrigue zu
rückgeschreckt war, so heiligte auch
hier der Zweck das Mittel. Und wie
Graf Leonce ohne Rückhalt ihr feine
Liebe zu Ange bekannt, so bekannte
sie rückhaltlos, daß sie nicht einen
Moment davor zurückschrecken würde,
mit gleicher Härte gegen seine zweite
Thorheit vorzugehen, wenn nicht der
Leichtsinn jener Person sie und seine
Thorheit selbst gerichtet.
Ohne Schonung sür das Herz, für
die blinde Leidenschaft des Sohnes
theilte sie ihm ihre Begegnung mit
Ange und Feldheim im Wintergarten
mit und fragte, ob ihre nächtliche
Flucht kein stillschweigendes Einge
ständniß ihrer Schuld sei. Die Be
weise waren zu gravirend. Graf Leonce
war auf's Tiefste erschüttert und ver
letzt, daß Ange ihm von der Nähe jenes-
Mannes nichts gesagt, von dessen Un
treue sie ihm erzählt hatte. .War dieses
Zusammentreffen ein rein zufälliges
oder verabredetes gewesen? Er konnte
Letzteres nicht glauben. Doch hätte sie
sich unter allen Umstünden, sobald sie
sich schuldlos fühlte. Rath und Schutz
suchend, zu ihm flüchten muffen, da sie
seines grenzenlosen Vertrauens, seiner
unerschütterlichen Liebe sicher war.
Hatte sie deshalb die heißersehnte Ent
scheidung von Tag zu Tag hinaus
gerückt, weil das eigene Herz sich gegen
solche gesträubt? Mit Bangen, ja mit
Schreck hatte er die Liebe zu Auge in
seinem Herzen erwachen sehen, da er ihr
Herz nicht kannte. Und als er eS zu
erkenven geglaubt, sie ihm einen Ein
blick in ihr Inneres gewährt, da hatte
die Hoffnung, sie zu erringen, sein zu
nennen, der Glaube an die Reinheit
ihrer Seele, ihn ermuthigt, um ihre
Liebe zu werben, ihm die Kraft gege
ben. um ihren Besitz zu kämpfen, selbst
wenn er in diesem Kampfe alle Fami
lienbande zerreißen, der Siegeslohn nur
allein Ange's Liebe sein sollte.
Gras Leonce hätte Ange's Verlust
mit Ergebung ertragen, ihre Untreue
erfüllte ihn mit Verzweiflung.
ES war*Theestunde. Gräfin Tanne»,
ging unruhig in ihrem Boudoir auf
und nieder. Die Schleppe des grauen
Seidenkleides rauschte, und ihr Krück
stock gab zu dieser einförmigen Melodie
den Takt an. Von Zeit zu Zeit blieb
sie stehen und horchte, ob man noch
nicht zum Thee rufen würde. Sie sah
nach der Pendule; der goldene Zeiger
stand bereits einige Minuten über acht
Uhr. Die Zeit wurde ihr entsetzlich
lang, die Lnst im Gemach drückend.
Sie klingelte, daß man ein Fenster öff
nen möchte. Niemand erschien. Un
geduldig stieß sie den Krückstock auf den
Boden. Wcr denn A les im Schloß fit
dem gestrigen Ballabend aus der ge
wohnten Ordnung gekommen? Den
ganzen Nachmittag hatte sich Mar
guerite nicht sehen lassen; bei Tisch
hatte sie mit verweinten Augen da
gesessen, kein Wort mit ihrem Vater,
Gras Leopold, gesprochen, uuv ihr
Sohn war gar nicht erschienen.
Wieder riß sie an der Klingel.
Jetzt stürzten Diener und Kammer
frau herbei. Sie sahen bestürzt, ja
verstört aus. „Gnädigste Gräfin be
fehlen?" stotterten sie alhemlos.
„Natürlich besehle ich. Weshalb läßt
nan mich warten, weshalb ist noch nicht
der Thee servirt?"
Der Diener nahm das Wort:
„Gnädigste Gräsin werden verzeihen
- wir suchten Komtesse Marguerite."
In diesem Augenblick wurden die
Portieren zurückgeschlagen und Graf
Leopold trat ein. Er sah sehr erhitzt
aus, siihrte die Hand seiner Großtante
ehrfurchtsvoll an feine Lippen und ent
schuldigte leiue Verspätung ebenfalls
damit, daß er Marguerite gesucht und
nirgends gesunden habe.
„Gejucht uud nicht gesunden?" ries
Gräsin Tanner. „Sollte das eigen
willige Müschen, ohne unser Wissen,
mit dem Groom ausgeritle» und"
sie wurde bleich „ihr ein Unglück zu
gestoßen sein?"
Sie gab sofort dem Diener den Be
fehl, daß man nachforschen und der
Stallmeister sie zu Pserde suchen
sollte.
„Ich werde mich ihm anschließen."
Mit diesen Worten stürzte Gras Leo
pold fort.
Eine halbe Stunde verging. Nie
mand erschien. Ihre Unruhe und Un
geduld steigerte sich. Sie griff wiederum
nach dem Klingelzug und läutete. Der
Haushofmeister erschien.
.Ist Komtesse Marguerite au»-
aeritten?"
,Mn, gmrdrzste Frau Gräfin."
Der. Krückstock stampfte ungeduldig
zus.
„Weshalb erscheint sie da nicht?''
herrschte sie den fassungslosen alten
Mann an, dem seine ganze Würde ver
oren gegangen war.
„Die gnadige Komtesse ist nicht mehr
m Schloß," stammelte er, „man
and jenes Billet aus ihrem Toiletten-'
isch."
Mit vor Zorn bebenden Handen riß
>ie Gräsin es an sich, trat an die Lam
ie, öffnete und überflog mit ihren nn
»ewasfnetcn, scharfen Augen den Jn
ialt, indeß der Haushofmeister unbe
nerlt ihr einen Fauteuil zuschob.
Das war nothwendig, denn was er
gefürchtet, trat ein. Kaum hatte sie
,as Billet gelesen, so schleuderte sie
»afselbe zur Erde und stürzte mit einem
inartikulirten Schrei besinnungslos
usammen.
Jetzt griff der Haushofmeister zur
Klingel und läutete Sturm.
Das ganze Schloßpersonal erschien.
Zie fanden die Gräfin mit unheimlich
tarren Blicken und verzerrten Zügen
m Fauteuil zusammengebrochen. Die
gestürzung war allgemein so groß,
>aß sich alle Scheu vor der Gegenwart
>es Kaplans, Graf Leopolds und
hras Leonce'S verlor, der, gesührt von
einem Diener, ebenfalls anf das
Sturmläuten erschienen war. Er
ragte, was vorgefallen, und Jeder ke
ilte sich, ihm eine Erklärung zu geben,
iis der Kaplan Ruhe gebot und die
»nordnung traf, das; sofort zum Arzt
geschickt und Gräsin Tanner aus ih?
l!ager gebracht würde.
Man beeilte sich, des Kaplans Gebot
zu leisten, und bald waren die
)rei Herren im Boudoir der Gräfin
illein.
Noch niemals hatte Graf Leonce
eine Blindheit so bitter und schwer em
pfunden, wie in dieser Stunde. Hilf
los, wie er war, tonnte er nichts thun,
l>lS Anderen das Handeln zu über
lassen. Es ist dies sür einen Ihatkräs
ligen Geist wohl das Schwerste, was
ihn treffen kann. In verstärktem Maße,
lvie am heutigen Morgen, empfand er
Sie ganze Gewalt der Verzweiflung. die
:inen unschuldigen Gefangenen packt,
oer von Freiheit geträumt hat und in
seinen Ketten erwacht. Gefesselt durch
seine Blindheit, vermochte Gras Leonce
nicht einmal das Billet Marguerite's
;u lesen, das der Haushofmeister, um
Andiscretionen zu verhüten, aufgehoben
und ihm in die Hanl» gedrückt hatte.'
Er reichte eS dem Kaplan nnd fordert?
ihn aus, dasselbe vorzulesen.
Es enthielt in Marguerite's nach»
lässiger Handschrift die hastig hinge
worfene Mittheilung, daß sie sich der
Tyrannei ihrer Großmutter, welche sie
einem ungeliebten Mann zu verloben
wünsche, entzogen und in Begleitung
Baron Feldheim'», den sie liebe, zu
ihrem Vater nach Wien gereist sei, um
von ihm die Zustimmung zu ihrer
Verbindung zu erflehen.
Kein? Bitte um Verzeihung noch
Trauer wegendicses unerhörten Schrit
tes war den Zeilen beigefügt. Die
Schreiberin mochte wissen, daß sie solche
nimmermehr von ihrer Großmutter er
warten durfte. So beschränkte sie sich
nur aus diese Zeilen.
Konnte Gräfin Tanner grausamer
in ihrem Stolze verletzt, gestraft wer
den? Sie, welche der gamilienehre
rücksichtslos das Glück des Sohnes ge
opfert, mußte es erleben, daß ihre
Enkeltochter sich ihrem Einfluß durch
die Flucht mit einem Manne entzog,
dessentwegen sie die schuldlose Auge
ungehört verdammt und ihres Dien
stes entlassen hatte!
Graf Leonce wurde bei Anhörung
dieser Zeilen begreiflicherweise von den
widerslreitendsten Gefühlen erschüttert.
Nahmen Marguerite s Zeilen einerseits
die Last von seiner Seele, unter welcher
er zu erliegen gedroht, so wälzten sie
andrerseits eine neue darauf. Niemand
konnte fo ermeffen, wie er, welche gren
zenlose Demüthigung seiner stolzen
Mutter durch ihre Enkeltochter zuge
fügt worden, wie grausam der eigene
Pfeil, den sie auf eine Unschuldige ab
geschossen, zu ihr zurückgeschnellt war,
um sie auf's Tödtlichste zu verwunden.
Wie beschämend mußte die Erinnerung
an jene letzte Scene in ihr ewachen!
Qb sie woht eine Wandelung in ihrem
stolzen Geiste bewirken konnte? E?
hoffte eS, aber er hoffte vergebens.
Als mit der Hilfe des herbeigeeilten
Arztes allmählich das Bewußtsein sei
ner Mutter zurückkehrte, verrieth nichts
in der Gräfin kalten, finstern Auge»
Reue, Selbstaiiklage. Sie dachte nur,
wie sie zu handeln, das zu verhüten
hatte, was nimmermehr geschehen
'urste.
XV.
Einförmig und dunkel, trotz de?
FrühlingSfonnenscheinS draußen, schli
chen die Tage auf Tanner dahin. Die
Gräfin wollte Niemanden sehen uiH
sprechen: selbst der Kaplan nnd Gras
Leonce fanden keinen Zugang bei ihr.
Dem Kaplan zürnte sie, daß er sein
Beichtkind nicht bester vor dem ver
derblichen Einfluß ihrer Gesellschafterin
gehütet, -der sie die Hauptschuld an
Marguerite's unerhörtem Leichtsinn
aujbii'dete und damit ihr Gewissen
über jene Scene im Wintergarten voll
ständig beruhigte.
Graf Leonce war ihr unbequem, da
sie in feinen Zügen die Genugthuung
über die erwiesene Unschuld Ange'S zu
lesen glaubte, an die sie nicht glauben
wollte. Ihr Gemüth, ihr Geist waren
auf's Höchste verbittert, und so brachte
sie dem liebevollen Bemühen ihres
blinden Sohnes, den harten Schlag,
der ihren Stolz getroffen, durch Theil
nahme zn mildern, abwehrende Kälte
entgegen, arbeitete sich immer mehr in
Zorn und Haß gegen ihre Kinder
hinein, die sich ihrer Leitung nicht
mehr blindlings, wie sie eS verlangte,
unterwerfen wollten, wa» ihr Graf
Herbert, der Bater Marguerite's. in
feiner Antwort auf ihre Forderung,
Marguerite unverzüglich dem Kloster
jw
zcrselben ziemlich karz seiner Empö
rung über seiner Tochter Leichtsinn
Zlusdruck verlieh» len-kte er sehr bald
n einen milderen Zun ein und ent
chuldigte Marguerik mit ihrer gänz
ichen Unkenntniß von der Welt, wegen
>er sie sich die Tragweite ihrer Un
lesonncuheit nicht klar gemacht, was
hm ihre, unter Thränen gegebene Er
lärung, dag sie doch nicht ohne Schuh
Tauner hätte verlassen und die Reise
intrete» können, bewiesen habe. Wei
er sührte er an, daß sie in der Flucht
»e einzige Rettung vor der von ihrer l
Großmutter geplanten Verbindung ge-!
Ehen habe. „Ich fürchte," fuhr ihr
Sohn sort, „das! ich darin unübcr
egt gehandelt, Dir, liebe Mutter, in
Deinem dohen Alter die Ueberwachung
unes jungen uudiscipliNirlen
ers, als welcher sich leider Marguerite
n dieser peinlichen Affaire gezeigt, zu
iberlassen. Hätte sie unter meiner
zäterlichen Autorität gestanden, so wäre
»ieser Skandal vermieden worden. Wie
>ie Sachen nun einmal liegen, paßt
Nargucrite nicht in ein Kloster und
st es besser, sie sobald wie möglich
nit Feldheini zu verheirathen; die Ge
chichte wird dann sehr bald im Sande
icrlaufen, ja kaum zur Kenntnis der
Gesellschaft gekangen. da ich Mar
luerite's Hochzeit mit einer, gewissen
Ostentaiion so glänzend wie möglich
in's ZtZerk setzen werde. Selbstver
ständlich habe ich meinem zukünftigen
Herrn Schwiegersohn seinen Stand-
Mnkt klar gemacht, indem er nicht wie
?in Mann von Ueberlegung und Ver
stand, sondern wie ein verliebter kopf
loser Fähnrich gehandelt. Im klebri
gen hat er sich durch diesen Fähnrichs
streich mit Rofenketten gefesselt, deren
Dornen ihn bald recht empfindlich ste
chen werden: denn ich sürchte, Mar
guerite wild i» ihrer Unerzogenheit,
ihrem Uebermuth, eine recht launen
hafte. kaprieiöfe kleine Fran werden,
die ihm die Strafe für seine Unbeson
nenheit in die Ehe gleich mitbringt.
Der Mann gefällt mir soweit nicht
schlecht. Er ist von guter Familie, in
seinen Allüren ein Mann von Welt
und Erziehung, dem Dollen, bei wel
chem ich nähere Erkundigungen über
ihn eingezogen, das beste Zeugniß aus
gestellt. Seine Vermögensverhältiusse
sind nicht gerade brillant und soll er
von seinem Vater, der in München im
Ministerium eine angesehene Stelle be
kleidet, wegen früherer Spielschulden
etwas kurz gehalten werden. Das soll
weiter geschahen, indem ich ihm nur
eine bestimmte Rente aussehe und die
Verwaltung von Margneritc'S Vermö
gen in meinen Händen behalte. Du
siehst, theure Mutter, ich habe mich nach
allen Seiten gesichert und hoffe hier
durch Dich cbeusalls mit einer Verbin
dung zu versöhnen, welcher bei ruhiger
Ueberlegung Dein klarer Verstand als
dem erfolgreichsten Mittel, der Medi'
sance den Mnnd zu schließen, zustim
men wird."
(Fortsetzung folgt.
Noth macht «rstndttisch^
Kurt saß mit seinen Freunden beim
Wein. Die Stimmung war die denk
bar beste. Scherzreden flogen hinüber
und herüber, und Jeder gab sein Bestes
zur Unterhaltung der Gesellschaft.
Das Hauptthenia aber bildete doch
das Rennen, das morgen Vormittag ir
X. stattfinden sollte.
„Dn bist also dabei bestimmt?'
fragte der Eine.
~Na, selbstverständlich!" entgegnet«
Kurt.
.Du, sag' das noch nicht so fest—de»
Zug geht früh um 7 Uhr." rief ein An
derer lachend.
„Wenn ich Dir sage, ich bin dabei,
dann ist das gewiß!" warf Kurt etwas
gereizt hin.
„Na, na, mein Junge," begann nun
der Dritte, „brauchst Dich nicht zu er
eifern—Hast ja schon manchmal den Zug
verschlafen."
„Wollt Ihr wetten?" rief Kurt.
Einen Augenblick schwiegen Alle.
Dann sprach der Erstl wieder:
„Gut, ich haltt die Wette! Du der>
schläfst die Zeit!"
„Was gilt die Wette?"
„Füns Flaschen Seit!"
Angenommen!"
Die Vereinbarungen wurden notirt,
und man zechte sröhlich weiter, ohm
diesen Punlt noch einmal zu be
rühren.
Als man sich trennte, war es spät»
und Jeder hatte einen kleinen Spitz.
Kurt hatte einen großen. Das merkt«
er erst, als er sich niederlegte, und als
das Bett, die Möbel, der Ofen, das
ganze Zimmer sich im Kreise drehte.
Er konnte nichts mehr klar denken,
ganz dunkel nur schwebte ihm noch die
Wette vor, aber alles wirr und ver
schwommen. Endlich schlief er ein.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr. als
die drei Freunde den Zug bestiegen,
war Kurt noch nicht zur Stelle. All
gemeines Gelächter. Man sah sich an,
nickte sich zn, freudig, auch schadenfroh.
Die Wette war gewonnen. Es war ja
auch ganz selbstverständlich, denn man
kannte Kurt'S Schwäche ja. nur zu
gut.
Der Zug suhr ab ohne Kurt.
Kurt erwachte, sein erster Blick galt
»er Uhr.
Himmel! Verschlafe»! Eine Vier
telstuude zu spät ausgemacht! «
Sosixt war er auf, in seine Klei
der, Toilette gemacht, den Hut,
Mantel, Stock, und nun nach dem
Bahnhof. Jetzt gab nach, das
ihn retten tonnte: er mußte den Schnell
zug nehmen! den« dieser, obgleich er
»iue Halde Stunde später absuhr, als
der Frühzug, lam noch eine Stunde
früher an in Zt. als der Bummelzug.
Also ihn noch zu erreichen, das galt
»» jetzt.
Und Kurt erreichte shn, im letzten
Moment noch. Er war gerettet, er
athmete au; und lachte schon heimlich
»der dw veÄilllfftM! SesWn der
Freunde.
Aber ein neues Uebel sollte i>w tres.
>en. Dieser Zug, eben weil ein Schnell
lug, hielt nicht an kleinen Statio
!>cn, auch nicht in X., sondern> fuhr
»irekt durch bis zur Endstation.
Was nun? Einen Augenblick zögerte
ssurt. Da ihm aber nicht Zeit zum
Itachdenten blieb, löste er ein Billet zur
Zndst-atwn und bestieg den Zug. Rath
mußte sich finden, aber wie, das wsr
ihm noch nicht tlar.
In sausender Eile dampfte der ZvK
dahin. Kurt sah hinaus aus die lachen
oen Gesilde und dachte immer nur: was
joll jetzt blos werden?
Ihm gegenüber saß eine ältere Dame,
klein, korpulent und mit fettem Gesicht;
sie war sehr nobel gekleidet, trug Bril
lanten in Fülle und eine schwere goldene
Kette. Also war sie sicher wohlhabend.
Auf ihrem Schooß sonnte sich ein klei
ner Hund, ein entzückender, weißer
Seidenpinscher, den die Dame zärtlich
losend streichelte und herzte —sie mußte
ihn also abgöttisch lieben.
„Welch ein reizendes Thierchen/
sagle Kurt und strich über das seiden
weiche Haar des Hündchens.
Sosort wurde die Dame freundlich.
Nicht wahr!" sagte sie und weinte
beinahe Freudenthränen, „ja, das
kleine Bobchen ist auch meine ganze
Freude aus der Welt!" Dabei strei
chelte sie das Thierchen und herzte und
lüßte eS in schier abgöttischer Liebe.
Kurl sah das mit an, stilllächelnd.
und da mit einmal kam ihm ein Ge
danke. der ihn retten konnte. Er
überlegte einen Augenblick, ja, das
mußte er thun.
Plötzlich sah er das Hündchen genauer
an, fein Entschluß war gesaßt.
„Aber, um des Himmels Willen,"
ries er, „der Pinscher ist ja trank!"
Wie vom Schlage getroffen suhr die
alte Dame auf.
„Gewiß!" versicherte Kurt, „sehen
Sie doch nur die Augen an, schon ganz
trübe, und die Schnauze, ganz warm,
und überhaupt die ganzeMattigkeit des
TbicrchenS; ja, merken Sie das
nicht selbst?"
Die alte Dame rang nach Athem.
„Schrecklich, schrecklich!" Sie hob daS
Hündchen aus, und in ihrer Angst sah
sie nun alles zehnmal schlimmer, als
Kurt es dargestellt hatte.
„Es wird keine drei Stunden mehr
leben," sagte Kurt, „wenn Sie nicht
sofort einen Arzt conlultiren wollen."
„Mein Gott, ja. ich will ja alles,
alles thun/' jammerte sie, „aber wo
soll ich denn hier einen Arzt finden?"
„Ich wüßte schon einen sehr tüchtigen
Arzt, der wohnt hier in X.: — aber, da
hält der Xng ja nicht," mgegnelc Kurs
bedauernde
„Er hält nicht? Ach. ich lasse ihn
halten ! Wozu ist denn sonst die Noth
pseise da ? Es gilt ja ein Leben zu
retten!"
Kurt mußle sich zwingen, um nicht
zu lächeln. Aber die Dame sah und
hörte nichts von dem, was »M sie her
vorging, sie war nur noch mit ihrem
geliebten Aobchen beschäftigt.
Endlich kam die bewußte Station X.
in Sicht.
Kurt s«ß scheinbar ruhig da und
harrte der Dinge, die da kommen wür
den.
Da mit einem Mal, gerade als der
Zug in den Bahnhof sauste, sprang die
alte Dame aus, energisch, mulhig, riß
den Hebel der Bremse herum, und
nun'nmr's geschehen. Ein schriller,
gellender Pfiff! der Zug hielt.
Jetzt entstand ein chaotischer Wirr
warr. Alle Passagiere, welche wußten,
daß an dieser Stelle der Schnellzug
sonst nicht hielt, verließen bestürzt ihre
Plätze. Jeder glaubte, es wäre ein
Unheil im Anzüge, ein Zusammenstoß
oder derartiges, und in wilder Hast,
in fürchterlicher Panik rannten alle aus
den Perron. Der Zugführer und alle
anderen Bahnbeamten kamen und
verhandelten mit der alten Dame.
Aber Kurt hörte nichts mehr davon.
Er hatte die allgemeine Verwirrung be
nutzt, und war mit schnellen Schritten
durch die Bahnhofsrestauration ent
kommen. Er war gerettet.
Sosort eilte er in die Kneipe, die
man gestern Abend als RendezvouS
platz gewählt halte, und nun wartete
er auf die Freunde. Aber er mußte
beinahe eine Stunde warten. Um so
größer war daher seine Freude, als er
die langen Gesichter seiner drei Freunde
sah. die ihre Wette nun verloren
halten.
Am Abend desselben Tages traf er
die alte Dame wieder. Als sie Kurt
erkannte, kam sie auf ihn zn, reichte
ihm die Hand und sprach unter Thrä
nen: „Wie danke ich Ihnen! Mein,
Bobchen ist gerettet! Der Arzt hat ihn
noch in Behandlung da, aber es ist kein«
Gefahr mehr!"
Kurt lächelte heimlich. Er kannte
ja die Aerzte. So einen Verdienst, lie
ßen sie sich nicht gern entgehen; denn
daß der Huud kerngesund war, daran
zweiselle er keine Minute. Aber die
alte Dame war beruhigt; der petumäre
Schaden tras sie nicht schwer, und Kurt
hatte seine Wette gewonnen. Dann
trank man die füns Flaschen Sekt, ja,
-s sollen noch mehr geworden fein.
Bei einer Prüßu«g in
einer Genieindeschnle fragt« der Schpl
raty, was man unter einem „Staats
mann." versteht. Nach einer Pause
gab endlich einer der Jungen die Ant»
> wort: „Einen Mann, de» Reden hält."
Dies« Antwort genügt» natürlich dem
schulrath nicht, und erläuterte n»n
»iesen Begriff den Schülern dadurch.
. daß er den Namen wie Bismarck nannte
> und erläuternd hinMügte: „Seht Ihr,
ich haltt zuweilen auch Reden und b>n
> doch lein Staatsmann. Wer ist als»
! »in solcher?" Darauf ein Schüler -
.Einer, der gute Reden hält!"
> Zur Beruhigung. „Dieser
verdammte Kerl hat mich einen Esel
i zmannt!" „Aber beruhigen Sie sich
c zoch. Sie sind ja 60 Jahre alt. und
5 io alt wird doch kein Siel!"
a«sai»nk
Im Jahre 1801 wurde ich mit der
Mannschaft eines Linienschiffes »nd in
Gemeinschaft eines alten Freundes,
Julius von Arteau. nach den französi
schen Etablissements in Ostindien be
ordert. Nachdem mir bei Pondichery
Anter geworfen, erhielten Arteau und
ich die Erlaubniß, das Schiff a>rf län
gere Zeit verlassen zu dürfen, »nd wir
gaben uns allen Genüssen und Vergnü
gungen hin, deren Werth die lange
Entbehrung in unseren jugendlichen
Augen gesteigert hatte.
Wir setzten unsere Wanderung nach
Norden sort, um den Ganges zu sehen,
»nd gelangten endlich in ein kleines
Hindustädtchen an diesem Flusse. Hier
beschlossen wir uns, einstweiligen Auf
enthalt zu nehmen.
Mein Freund liebte die Frauen über
Alles. ES gelang ihm hier, die Gunst
der Gattin eiues HindupriesterS zu er
langen und er bat mich, ihm während
seiner Zusammenkiinste als Wächter zu »
dienen. Ich hatte eigentlich wenig
Lust, die versangliche Rolle zu Überneh
men. Julius schien meinen Wider
willen aber sür Feigheit zu halten und
so versprach ich ihm denn Alles, was er
von mir verlangen wurde.
„Am heutigen Tage noch." sagte er
zu mir, „soll sich Deine Freundschaft
bewähren, ich habe ein RendezvonS mit
meiner Auserkorenen."
„Mein Wort darauf," erwiderte ich;
„wenn dieser Brahmine es übel aus
nehmen sollte, daß ein französischer Of
fizier seiner Frau den Hof macht, so
wollen wir ihm zeigen, was eine gute
Klinge vermag."
„Sei ohne Sorge; auf's Schlagen
ist es heute nicht abgesehen. Der Mann
ist vom Hause abwesend, und es han
delt sich nur um ein trauliches Abend
essen, wozu ich Dich freundschaftlich
einlade."
Um neun Uhr Abends machten wir
uns auf den Weg und gelangten durch -
eine geheime Pforte in ein reizendes
Gärtchen, wo eine Sklavin bereits un
serer harrte, um uns zu ihrer Herrin
zu führen. Ein Tisch, mit den De
likatessen des Landes bedeckt, stand be
reit. Wir ließen uns das Dargeboten«
trefflich munden. Mein liebenswürdi
ger Freund war in der heitersten Stim
mung, die ihre Wirkung aus mich nicht
verfehlte.
Noch hatte ich die Herrin de? HauseZ
die Geliebte meines Freundes
nicht gesehen, als die Scene sich plötzlich
änderte. Ein Vorhang ward gehoben,
und ein riesiger, schwarzer Sklave, ein
entblößtes Schwert in der Faust trat
schweigend vor uns hin. Wir aber wa
ren unbewaffnet.
Dem Schwätzen folgte ein bejahrter
Mann, der Brahmine: er verbeugte sich
tief, der Fürchterliche! Während wir
noch immer das verhängnißvokle
Schwert vor unseren Augen blitzen
sahen, führte man uns in ein düsteres
Gemach, wo wir gesesselt auf einen
Haufen getrockneter Kräuter geworfen
wurden.' Die ganze Nacht machte ich
meinein armen Freunde Vorwürfe über
seine Unvorsichtigkeit und predigte ihm
die schönste Moral. Der arme Jung«
war trostlos.
Endlich drach der Tag an; der Brah>
mine erschien, verneigte sich wiederum
mit ungewöhnlicher Höflichkeit, ließ uns
der Baude entledigen und ein herrliches
Frühstück auftragen. Ich zweiselte kei
nen Augenblick daran, daß er die Ab
sicht habe, uns zu vergiften; da aber
der Tod auf die eine oder andere Weise
uns gewiß schien, so langten wir lapfe»
zu.
Allein unsere Besorgnisse, waren un
begründet. Ich schöpfte neuen Muth
und beschloß, in Geduld den Ausgang
eines Abenteuers abzuwarten, welches,
nachdem bisherigen Verlauf zu urthei
len, nicht so schrecklich enden konntt.
Julius dagegen blieb traurig und nie
dergeschlagen; ein Vorgefühl sagte ihm.
daß der Brahmine eine schreckliche Räch«
an uns zu nehmen beabsichtigte. Gegen
Mittag wurden wir in einer Sänfte
abgeholt. Der Weg ging längs dem
Ufer des Ganges hin. der seine gehei
ligten Wogen dahinwälzte, während
hohe Palmen ihr» Blätterkronen in di,
Lüfte streckten und der Sand zu unsern
Füßen durch die Strahlen der asiati
schen Sonne vergoldet wurde. Dies
alles, mit Ausnahme der Ungewißheit
über unser bevorstehendes Schicksal,
versetzte uns i« eine Art von Bcrau-
verstrichen zwei Tage; am drit
trn wurde Halt gemacht, und die Hin
dus lagerten am Ufer des Ganges, nicht
weit von einem Dorfe. Am folgenden
Morgen erschien der Brahmins; sein«
Gesichtszüge.waren finsterer, als zuvor.
Auf seine» Beschl wurden wir neben
der Hütte des Anführers geführt. Bier
brennende Fackel» waren an den Enden
des Terrains aufgesteckt und ein«
Statue des Brahma streckte ihre zahl
reicheit'.Arme nach uns aus.
. Auf ein Zeichen des Priesters ergrif
fen die Hindus plötzlich mein«» Freund,
legten abwechselnd seine Hände und
Füße auf einen Klotz, und jedesmal
trennte eia Schwerthieb die einen oder
di«. anderen vom Körper. Der Un
glückliche stieß ein herzzerreißendes Ge»
schrei a>6. bis das Schwert des Hen
kers wie ein Blitzstrahl, herabfuhr und
das Haupt des Freundes zu meinen
Füße» rollte. Ich selbst ward über
die Grenze des unter britischer Herr
schalt stehenden Distriktes geschasst, ohn«
von dem Schicksal der armen Frai,
in Ersahr»ng gebracht zu haben.
Uebertrumpft. Ich kenn«
»eine Furcht? ich getraue mich Nacht,
über einen Friedhof zu gehen! Dag
will gar nichts sagen. Ich getraue mich,
meiner Alten nach Mitternacht nach
Haufe zu kommen!
Devoter Widerspruch.
Graf: Hat mein Sohn geschlasen, Jo,
Hann? - Nein; d«r junge Graf hat ge.
ruht, nicht zu ruhen' 3