Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, January 20, 1893, Page 3, Image 3

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    Das Verhängniß.
(3. Fortsetzung.)
Thaufrisch lächelten ihm die rosigen
Lippen entgegen, als wollten sie ihn zu
einem Kuß herausfordern. Und er
sollte vorübergehen, ohne dieser Lockung
zu solgen, blos weil seine Gedanken
sich damit beschäftigten, wo er Ange zu
suchen, was er ihr zu sagen habe? Er
konnte das Eine thun, ohne das Andere
zu lassen —Thor, den Augenblick nicht
zu genießen, der sich ihm verführerisch
in dieser kindlichen Mädchenknospe
bot.
Minen Komtesse, wen man in Frank
reich mit diesen Blüthen schmückt?"
fragte er, tief seine Augen in die ihrigen
senkend.
Heiße Gluth schoß in ihr Gesicht.
„Ach i» Frankreich." stammelte sie
verwirrt, „wir sind in Deutschland!"
„So würden Sie der Myrthe den
Vorzug geben?"
„Natürlich!" sagte sie und zerpflückte
verlegen den Blüthenzweig.
Er suchte ihn gegen diesen VandaliS
mus zu schützen. Dabei berührten sich
ihre Hände. Sie wagte nicht auszu
blicken. Wie der geübte Vogelsteller,
dem ein niedlicher Buchfink in s Garn
gegangen, hielt er ihre kleine bebende
Hand fest.
„Bitte, geben sie meine Hand frei."
flehte sie mit scheuem Umblick, ob sie
von Niemand beobachtet würde.
Sie konnte ruhig sein. Di: wenigen
Paare, welche mit ihr den Wintergar
ten ausgesucht, hatten sich in den Saal
zurückbegeben, wo die Musik die Intro
duktion zu einer Polka intonirte.
Diese hatte sie an Feldheim vergeben.
Bei aller ihrer Koketterie besaß sie eine
fast kindliche Unersahrenheit und Of
fenheit, die ihm, wenn auch nicht neu—
Ange hatte ganz dieselbe gehabt—, so
doch immer wieder pikant war. Das
Auge ermüdet viel eher durch den An
blick farbenprächtiger Gartenblumen,
als durch den einfachen Liebreiz holder
Wildlinge. Es war das Prinzip seines
Lebens, keinen sich darbietenden Genuß
vorübergehen zu lassen.
Er zog die leichte Gestalt Marguerite's
näher an sich und drückte einen Kuß
auf ihre rosigen Lippen, bei dessen
Gluth es Marguerite wie Schwindel
tiberkam.
Da schreckte sie auf. Leichte, eilige
Schritte näherten sich, ihr Name wurde
gerufen. Erschrocken entfloh Mar
guerite; Feldheim blieb zurück und
stand vor Änge.
Sie war von Gräfin Tanner abge.
sandt worden, Marguerite zu suchen
und war aus diese gefürchtete Begeg
nung vorbereitet; denn sie war nicht
im Zweifel, in welcher Gesellschaft
Marguerite sich in den Wintergarten
zurückgezogen hatte.
Bei dieser sicheren Voraussetzung
wuchs ihr Muth und Entschluß, das
gesährliche Beisammensein des Paares
mit aller ihr zuGebote stehenden Energie
zu uiiierbrechen und sich dabei ganz zu
Vergessen.
Als sie sich aber ihm allein gegenüber
sah und er, die Situation mit Geistes
gegenwart überblickend, ihre Hand er
greisen wollte, erwachte die Erinnerung
und sie sagte in eisigem Tone, als habe
sie weder die ausgestreckte Hand, noch
den leuchtenden Blick gesehen, mit denen
er ihr Zusammentressen begrüßte.
„Mein Herr, ich denke, wir kennen
uns nicht. Ich bin von Gräsin Tanner
abgesandt, um Komtesse Marguerite
zu"suchen, welche man im Tanzsaal ver
mißt."
Ihre Ruhe und Kältewirkten heraus
fordernd.
„Gehören Ehrenwächterposten zu Ih
rem Berus?" fragte er mit sarkastischem
Lächeln.
„Gewiß, wenn Komtesse Marguerite
die- bedarf."
„So kann ich Ihnen mittheilen, daß
besagte junge Dame sich vor wenigen
Minuten in einem I'st«-»-tsrs mit mir
besuudeu. Sie wissen aber aus Er
fahrung. daß solches durchaus unge
fährlich ist."
„Wenn Sie an meine Erfahrung ap
peiliren, möchte ich Sie daran erinnern,
daß mau mit dem Herzen und der Ehre
einer >!ointesse Tanner nicht ungestraft
sein gewnsciUoses Spiel treibt."
.Mauden Sie nicht, daß ich aus je
dem «viel Ernst machen taun, wenn
rch will?"
„Wenn Sie wollen—oh!"
Wider Willen war ihr dieser Ausruf
cnt chluvit, deu er in seiner Weise sich
auszulegen suchte.
„Ja, Ang.'," er näherte sich ihr,
ohne es zu beachten, daß sie bei seiner
Annäh-'rnng zurückwich, „wenn ich will.
Und ich will die Tage schmcrzlich ent
behrten Glückes für uns zurückrufen.
Mein Wille hat die Ketten einer ent
würdigenden Verlobung zerrissen, mein
Wille soll Dich aus Deiner Niedrigkeit
erheben."
Es war nicht mehr der ruhige, über
legene Weltmann, sondern wieder der
gewinnende, bezaubernde Kurt Feld
iieim, dessen Nähe sie ersehnt, dessen
Sophismen sie noch hat
ten.
Wie betäubt folgte sie ihm und sah
hinreißend schön aus in ihrer Ver
wirrung, dem steten Farbenwechsel,
den fest gegen ihre Brust gedrückten
Händen.
Mit Kennerauge überblickte er ihre
zur schönsten Sqmetrie voll entwickelte,
biegsame Gestalt, welche in den weiche»
Falten des Kaschmirkleides Plastisch ab
gerundet den idealsten Vorwurf zu
einer Psliche gegeben Hütte. Das Ver
langen nach ihrem Besitz wuchs riesen
groß, ihr Schweigen belebte seine Hoff
nung. daß jene selige Zeit ihrer Liebe
znrückkehre». sie bald als sein Eigen
thum an seinem Herzen ruhe» werde.
„Tu schweigst. Auge? Wie habe ich
dieses Schweigen, Dein Erblassen zu
deuten? Einst zcihtest Tu mich der
Kälte, zweifelhaft an der Dauer meiner
Liebe, zürntest meinen Worten: die
Frauen lieben, bis der Roman zu Ende
ist. Noch ist er nicht zu Ende, noch bin
ich unverändert für Dich derselbe ge
blieben. Ja, mehr als das: ich bin
frei frei, um Dir. Dir allein zu ge
hören, und doch hast Du kein Wort der
Liebe, der Verzeihung sür mich?"
Sie hatte die Krast zu einer ruhigen
Entgegnung erlangt.
„Sie wissen, in welcher Stunde der
Roman sein Ende erreicht, er kann nicht
wieder auferstehe», denn ich liebe Sie
nicht mehr."
Das war klar, das war deutlich ge
sprochen; aber statt seinen Stolz zu
wecken, entsesselte es seine Leidenschaft.
Widerstand da, wo er siegen wollte,
hatte er bisher noch bei keinem Weibe
gesunden, und das hier bei ihr, die
er liebte, um deren Besitz er sich selbst
die glänzende Zukunft zu opfern bereit
fühlte!
„Ange," rief er, vergessend, wo er
war und daß sie gehört werden konn
ten, „es ist nicht möglich, daß Du auf
gehört, mich zu lieben, jene selige Zeit
unseres Glückes vergessen hast!"
„Welch' unwürdige Handlung!"
Bei dem Ton dieser Stimme sank
Ange fast in die Knie. Wie das Haupt
der Medusa wirkte die unerwartete
Dazwischenknnft der alten Gräfin. Sie
war versteinert, keines Wortes mächtig.
Die namenlose Furcht, welche sie der
Gräfin gegenüber stets beherrschte, wan
delte sich in Entsetzen, verwirrte ihren
Verstand, gab ihr das Aussehen eine,
Schuldigen.
Feldheim entging diese Wirkung
nicht und er benutzte dieselbe. Sein
Spiel mit Marguerite war nun doch
verloren; nie würde diese hochmüthige
Frau ihre Einwilligung zu einer Ver
bindung mit ihrer Enkelin geben. Das
sagte ihm das eiserne Gesicht, der stolze
Blick, mit dem sie ihn und Änge maß.
Jztzt galt eS, wenigstens Ange für sich
zu erobern, sich zu ihrem Ritter auszu
werfen.
~Ich wüßte nicht, Frau Gräfin,"
sagte er mit vornehmer Gelassenheit,
.daß Sie hier zu einer unwürdigen
vandlung gekommen. Mein Zusam
mentreffen mit Fräulein Saterno in
Ihrem Hause, obgleich ein zufälliges,
gab mir —"
Die Gräfin ließ ihn nicht ausreden.
Sie fand eS im höchsten Grade m»uv»is
daß dieser in ihren exclusiven
Kreis hineingeschneite Baron, welchen
sie nur aus nachbarlichen Rücksichtey
für die befreundeten Döllens eingela
den, sie mit einer Erklärung belästigen
wollte. Für die Liaison eines Galan
fühlte fie weniger Zorn, als über fein
Bemühen, sich zu entschuldigen. Sie
kannte die große Welt und wußte, wie
dieselbe dergleichen Verhältnisse leicht
nimmt; auch sie war weit davon ent
fernt, ihm deswegen einen Vorwurf zu
machen. Ihre Verachtung traf nur
Ange, welche sich erkühnt, ihn in ihrem
Haufe zu einer Annäherung zu ermuthi
gen. Ohne zu untersuchen, wie weit
sie die Schuld tras, noch für gelegenere
Zeit sich eine Aufklärung zu erbitten,
brach sie über das unglückliche Mädchen
den Stab und sagte in hartem, schlös
sen« Tone: „Ich bitte Sie. Baron, lei
sten Sie dem Leichtsinn dieser jungen
Person durch unangebrachte Ritterliche
keit keinen Vorschub. Fräulein Sa
terno," wandte sie sich an Ange, die
keines Wortes, keiner Vertheidigung
mächtig, den Richterspruch üb?r sich er
gehen iieß, „Sie sind Ihres Dienstes in
meinem Hause von Stund an entlassen.
Das Honorar für das laufende Vier
teljahr wird Ihnen mein Secretär ver
abfolgen."
Damit wandte sie sich, schwer auf
ihnn Krückstock gestützt, dem Ausgang
des Wintergartens zu.
Da tam Leben, Bewegung in Ange's
erstarrte Gestalt. Sie wollte der Gräfin
nach, ihr zu Füßen stürzen. „Ich bin
unschuldig!" entrang es sich ihren
Lippen.
Die Gräfin hörte es nicht und Feld
heim verhinderte sie, ihr zu folgen. Er
hielt sie am Arm zurück. „Um Gottes
willen, Ange, mache keine Scene! Be
denke, wenn man Dich hört! Hat diese
hochmüthige Frau Dich ungehört ver
urthcilt, so wird sie, um Recht zu be
halten, vor der ganzen Gesellschaft Deine
Ehre brandmarken, und Niemand wird
an Deine Unschuld glaube». Ueberlasse
mir Deine Vertheidigung, ich werde sie
damit süliren, daß ich Dich zu meinem
Weibe mache."
Zu seinem Weibe! Und Leonce
Lconce, der ihr vertraute, sie liebte,
der, ach nur zu llar, geahnt, gefürchtet,
in welche Gejahr sie ihre Schu'tzlosigteit.
ihre Tienstl'arkcit bringe» konnte, was
würde aus ihm? Was aus seiner Liebe.
„Alles," hatte er gesagt, „kann ich er
tragen, nur keinen Flecken auf dem
Namen meines zukünftigen Weibes!
Wie hatte sie zu handeln, welcher
Stimme mußte sie solgen?
Sie wußte eS nicht. Der Versucher
an ihrer Seite sagte eS ihr. lockte sie
mit der Vorspiegelung, daß er sie zu
seinem Weibe machen wolle. Sie schau
derte. Was sie einst als höchste Selig
keit geträumt, schien fie sür immer zu
vernichten. O. wenn der Wahnsinn
sie jetzt ereilte! Lieber den Verstand
verloren, als eine Trennung von dem
Heißgeliebten, den« ihre ganze Seele
geHorte.
Sie riß sich von Feldheim IoS und
entfloh durch eine Seitenthür aus dem
Wintergarten auf ihr Ziminer. Hier
brach sie zusammen, nicht ohnmächtig,
nicht in Jammer und Thränen, sondern
betäubt; in thränenlosem Schmerz rang
sie die Hände, rief sie des geliebten
ManncS Namen. Vergebens suchte sie
über diesen hinweg Klarheit in ihre
Gedanken zu bringen. Sie vermochte
eS nicht. Wenn sie eS vermocht, wäre
sie nicht aus ihr Zimmer, sondern zu
ihm geeilt, Hütte sich Schutz suchend,
alles erklärend, in seine Arme geflüchtet
und dort Schutz, Trost und Beruhigung
gefunden. So aber stand immer in
vernichtender Klarheit der Gräfin Zorn,
Feldheims Worte vor ihren Auaen.
daß nach dem Vorgefallenen Niemand
an ihre Unschuld glauben würde, daß
ihre Ehre vernichtet sei und sie darnach
zu handeln habe.
Wie lange sie gekniet und die Hände
gerungen sie wußte eS nicht; als sie
sich erhob, war alles in ihr still, kalt,
todt jede Hoffnung erstorben. In
einem somnambulen Zustande begann
sie, ihre Sachen in einen Koffer zu
packen, von welcher Beschäftigung sie
auch nicht aussah, als die Thür geöffnet
wurde und Madelon, das Hausmäd
chen eintrat. Sie brachte ihr einen
Zettel, den ihr ein Herr sür das Fräu
lein gegeben, blieb aber erschrocken mit
ten im Satz stecken, als sie Anges Be
schäftigung und ihr todtenblasseS Ge<
ficht sah.
„Heilige Mutter Gottes, was geht
denn hier vor und was fehlt Ihnen,
Fräulein? Sie sehen ja wie der leib
hastige Tod aus!" rief das Mädchen
und schlug die Hände zusammen.
Ange antwortete nicht, sondern ent
faltete den lose zusammengefalteten
Zettel, der aus einem Notizbuch geris
sen war und in französischer spräche
die Aufforderung enthielt, sosort nach
der Taxusallee am Ausgange des Win
tergartens zu kommen, da man noth
wendig mit ihr sprechen müßte, um die
Stunde der Abreise festzusetzen. Der
Zettel war K. F. unterzeichnet. Ange
zerriß das Billet in kleine Stücke. „Es
ist gut," erwiderte sie tonlos und fuhr
in der unterbrochenen Arbeit fort.
DaS Mädchen schüttelte verwundert
den Kopf. „Mit der muß es nicht ganz
richtig fein," dachte es und laut sagte
es: „Fräulein, wozu packen Sie denn
mit solch fieberhafter Eile? In der
Nacht können Sie doch nicht abreisen
wollen!"
„Ich muß," war Agnes lakonische
Antwort.
„Sie müssen? Jetzt, wo der Ball
im Hause? Ja, Fräulein, was denken
Sie denn, was die gnädigste Frau Grä
fin dazu sagen wird?"
„Sie ist es, die mich fortschickt."
„Jesus Maria, weshalb?"
Als Ange nicht antwortete, fuhr das
Mädchen fort: „Ohne allen Grund
kann man Sie doch in der Nacht nicht
sortschicken! Legen Sie sich ruhig in s
Bett, Sie sind krank. Ich werde Ihnen
Thee bringen, morgen sind Sie frisch
und munter. Dann können Sie sich
bei der Gestrengen entschuldigen, wenn
Sie sich wirklich etwas haben zu Schul
den kommen lassen, das ihren Zorn
erregt hat."
Sich entschuldigen bei der Gräfin!
Es durchrieselte sie kalt, wenn sie an
den Blick der Verachtung dachte, mit
dem die Gräsin sie meocageschmettert
und ihr allen Muth zur Rechtfertigung
genommen hatte. Es würde morgen
unter ihren gefürchteten Blicken nicht
anders fein, sie kannte ihre grenzenlose
Feigheit dieser starken Frau gegenüber.
Diese ihre Feigheit trug die Schuld an
all dem Elend, das über sie, über den
Heißgeliebten unbarmherzig hereinge
brochen. Wenn sie ein einziges Mal der
Gräfin ruhig, sicher, selbstbewußt ent
gegengetreten, sie hätte auch jetzt den
Muth gesunden, für ihre Ehre selbst
einzutreten, aber so kannte sie nur ihre
Schwäche und Feigheit und streckte die
Waffen.
Madelon legte sich ihr Verstummen
als Zusage aus, daß sie sich die Sache
überlegen und ihren Rath befolgen
wollte, und verließ, da ihr keine Zeit
zum Verweilen blieb, das Zimmer.
Ange war wieder allein. Mit zit
ternder Hand schloß sie den Koffer und
steckte den Schlüssel in eine kleine Reise
tasche, in welche sie die nothwendigsten
Toilettengegenstände, sowie Geld und
Schmucksachen hineingepackt hatte. Ihr
Helles Kleid hatte sie gegen ihr schwarzes
Trauerkleid umgewechselt. Sie zog
jetzt einen Regenmantel darüber, setzte
einen Hut aus, hing sich die Tasche um
und stand so reisefertig, die Hand an
der Stirn haltend und sich besinnend,
was nun zu thun, welchen Weg sie zu
nehmen habe, da. Den Koffer mußte
sie einstweilen zurücklassen, sie konnte
jetzt nicht erwarten, daß man ihr einen
Wagen zur Station gab. Sie mußte
den Weg zu Fuß zurücklegen: später
würde sie ihre Adresse ausgeben, an
welche maü ihre Sachen zu schicken habe.
Das war alles erstaunlich klar be
dacht. Nur in einem Punkte verwirr
ten sich die Gedanken: wenn sie an Graf
Lconce dachte. Sollte, mußte sie ohne
Abschied von ihm? Ja, sie mußte es,
es war ja doch alles zn Ende, alles, er
konnte sie jetzt nicht mehr zu seinem
Weibe machen, das war unmöglich.
Ihre schuld lag auch vor ihm als be
wiesen da. Hatte sie ihm nicht die An
wesenheit Feldheims, seine Begegnung
mit ihr verschwiege»? Welche Recht
fertigung gab es hierfür? Keine, denn
er hatte ihr unbegrenztes Vertrauen ge
schenkt, und sie, wie hatte sie es ihm ge
lohnt? Durch Feigheit.
Aber sie wollte nicht mehr feige, sie
wollte stark fein. Sie wollte entsagen,
allem, allem entsagen nnd die Verach
tung der ganzen Welt auf sich nehmen.
XII.
In der Taxusallee schreitet Feldheim
ungeduldig aus und nieder. Eine Vier
telstunde rinnt in die andere die
Erwartete kommt nicht. Einkam liegt
der breite, unbeschattete Weg da. Ueber
den Kronen der Baume entfaltet sich die
Sternenpracht. Leise rauscht der Wind,
Nachtvögel mit scheuem Flügelschlag
huschen dahin.
Noch nie ist Feldheim eine Stunde sc
lang geworden, noch nie hat er mit
solcher Ungeduld, solcher Spannung
einem Rendczvou» entgegengesehen.
Wird sie kommen oder ist sie wahnsin
nig genug, Verachtung und Schande
der Ehre, sein Weib zu werden, vorzu
ziehen? Unerhört, unglaublich! Das
Netz war so glücklich für sie gestellt wor
den, und doch sollte sie sich nicht darin
sangen, sondern den Muth haben, seine
Maschen zu zerreißen? Wie das Blut
in seinen Adern kochte, wie die Leiden
schaft wuchs, nun sich ihm Hindernisse
und der ganze Stolz einer grkränlten
MSdchenfeele entgegenstellten! Er
knirschte mit den Zähnen, er ballte die
flaust, er fühlte die Aufregung wie
Neuer durch seinen Körper rasen. Wenn
fie jetzt gekommen, nichts hätte sie gegen
seine zur vollen Höhe entfesselte Leiden
schaft mehr geschlitzt, nach der sie zu sei
nen Füßen um die Ehre, sein Weib zu
werben, hätte flehen müssen. Und er
sah sie schon vor sich auf den Knien lie
gen, die weiche, biegsame Gestalt mit
den heißen, dunklen Äugen, die so glü
hend zu zürnen, so hingebend zu leuch
ten w«ßtcn.
Unentschlossen, ob er noch länger
warten sollte oder nicht, schritt er noch
einmal langsam den Taxusweg hinauf.
Da knirschten leichte Schritte hinter
ihm im Kiesweg. Endlich so kam
sie doch! Er war zornig und glaubte
dazu alle Ursache zu haben. „Wezhalb
dieses gefahrvolle Zögern? Hast Du
nicht meine Zeilen erhalten?" fragte
er, sich der Entgegenkommenden zu
wendend.
Ueberrascht fuhr er zurück: nicht
Ange, Marguerite stayd vor ihm. Auch
sie war überrascht, aber mehr durch
seine Anrede, als durch seine Person,
die sie hier vermuthet, nachdem sie ver
gebens sich in der großen Tanzpause
in den Sälen und im Wintergarten
nach ihm umgesehen hatte.
Verwirrt, unsicher, wie sie seine Hef
tigkeit, feine Worte zu deuten habe,
blickte sie zu ihm empor. Ihre Welt-
und Menschenkenntnis, die sie aus Ro
manen, nicht aus dem Leben angeeig
net. war sehr gering und niehr roman
tischer. als verständiger Natur. Nach
denken war außerdem durchaus nicht
ikre Sache. So lebte sie mehr in der
Einbildung ihrer Phantasie, als in der
Wirklichkeit und hatte sich in dieser aus
Feldheim einen Helden gemacht, an den
sie bedingungslos ihr Herz verloren.
Feldheim. der viel zu erfahren, um
das nicht längst durchschaut zu haben,
hatte dies auszunutzen verstanden.
Auch jetzt verließ ihn seine Geistes
gegenwart nicht. Mit kühnem Griff
bemächtigte er sich der Situation und
fand sosort eine Erklärung für seine
Worte. „Verzeihen Comtesse meinen
unceremoniellen leidenschaftlichen Vor
wurf, aber ich war enttäuscht, hatte ge
hofft, daß Sie bald meinem Ruf folgen
würden."
Sie wurde dunkelroth. Sie dachte
an die Ermuthigung, die sie ihm gege
ben. an seinen Kuß, den seligen
Schwindel, der sie dabei erfaßt, und
sagte besangen: „Sie schrieben an mich,
ja aber ich habe doch nichts er
halten!"
„Dann muß der Zettel an eine fal
sche Adresse gekommen sein!"
.Mein Gott, wenn Großmama —"
rief sie erschrocken, „das wäre —"
„Beruhigen Sie sich, Comtesse," siel
er ihr in'S Wort, „die Zeilen waren so
verfaßt, daß niemand compromittirt
werden konnte. Es stand kein Name
darin."
„Ach," seufzteMarguerite erleichtert,
„welch' ein Glück!"
„Und Sie zürnen mir nicht," er
ergriff ihre Hand und führte sie an
seine Lippen, „daß ich an Sie zu schrei
ben, Sic um dieses mir nur durch den
Zusall gewährte Rendezvous zu bitten
gewagt?"
„Nein." gestand sie in vertrauens
seliger Naivität. „Sie wissen, daß ich
gekommen wäre, wenn ich die Zeilen
erhallen hätte."
Er wußte es, wußte, daß sie nur auf
sein Wort wartete, um sein eigen zu
werden. Es hatte ihm kein Geheimniß
bleiben können, daß Marguerites Herz
ihm gehörte, wie er auch über die
Pläne und Absichten, welche ihre Groß
mutter mit ihr hatte, nicht im Unklaren
war. Noch vor wenigen Minuten hätte
die zurückgekehrte Leidenschaft für Ange
jede ruhige Ueberlegung über den Hau
sen geworfen. Jetzt stand es anders
mit ihm. Seine Eitelkeit, sein Selbst
gefühl war durch Ange aus S Tiefste
verletzt, während Marguerite in ihrer
blinden Bewunderung, ihrem rücksichts
losen Vertrauen beides hob und ihm
damit seine Sicherheit, seine Ueber
legung wieder zurückgab. Cr war jetzt
entschiossen, das durch die Liebe ver
blendete Mädchen zu entführen.
Die romantisch angelegte, über
müthige Marguerite ging auf feinen
Vorschlag nach kurzem Bedenken ein.
Auch fie wußte, daß ihre Großmutter
niemals die projectirte Verbindung
mit ihrem Vetter aufgeben und ihr eine
Wahl nach dem eigenen Herzen gestatten
würde, «so verabredete sie mit Feld-
Heim zum nächsten Tage für die sechste
Stunde ein Nachmittags-Zusamincn
trcffen ans der Station, nach der sie
sich zu Fuß begeben sollte. Er würde
sie dort erwarten, und im Schutz der
einbrechenden Dämmerung würden sie
mit dem Schnellzuge direct nach Wien
reisen. Alles Weitere, insbesondere,
auf welche Weise sie die Zustimmung
des Vaters erlangen könnten, wollten
sie unterwegs überlegen.
Die Idee war gewagt und aben
teuerlich. Feldheim aber war gerade
jetzt in der Stimmung, mit einem küh
nen Wurf das große Loos einer glän
zenden Verbindung zu ziehen und da
mit sich endlich ein sorgenfreies Leben
zu sichern.
Er rieth jetzt Marguerite, sich unbe
merkt wieder auf dem Wege, den sie
gekommen, in den Tanzsaal zurückzu
begeben, wo sie es für den Lauf des
Abends vermeiden wollten, zusammen
gesehen zu werden, damit in keiner
Weise Verdacht geschöpft würde. Mar
guerite versprach es und kehrte strahlen»
d n AugeS und klopfenden Herzens in
den Tanzsaal zurück.
Ihre Abwesenheit war nicht unbe
merkt von ihrer Großmutter geblieben,
welche ihre scharfen Augen überall
hatte. Sie fragte ihre Enkelin, wo sie
gewesen.
„Ich suchte Ange," gab Marguerite
hastig, verlegen zur Antwort.
„Du wirst wohl thun, diese Person
weder zu sehen, noch weniger zu
sprechen. Sie ist einfach für Dich nicht
mehr da."
„Und weshalb?" fragte Margnerit«
mit großen, erstaunten Äugen, in denen
ebenioviel Schreck wie Ueberraschung zu
lesen war.
„Das zu erklären, ist jetzt nicht am
Platz. Nur soviel magst Du wissen!
Fräulein Saterno ist ihres Dienstes
entlassen und verläßt morgen das
Schloß."
„Aber mein Gott, was hat denn
Fräulein Saterno gethan?" rief Mar
guerite außer sich, denn abgesehen da
von, daß sie Ange wirklich liebte, hatt«
sie bei ihrem Flüchtplan auf ihre Hilf«
gerechnet.
„Nicht so laut! Willst Du mit Dei
ner unpassenden Heftigkeit allgemeine
Aufmerksamkeit erregen?"
„Ja aber Großmama eS muß
mich doch wundern," erklärte Margue
rite leise, weinerlich.
„Du hast Dich über nichts zu>wun.
dern, was ich angeordnet, und Dich
streng an meinen Besehl zu halten, dies«
Person als nicht mehr für uns vorhan
den zu betrachten. Im Uebrigen wird
sie wohl selbst noch so viel ?oin>
cl'lioarisur haben, uns bis zu ihrer Ab
reise aus dem Wege zu gehen."
setzte sie an ihrem Krückstoi!
ihren Rundgang durch den Saal fort,
wo sie sich alsbald mit diesem, bald mit
jenem ihrer Gäste in hoheitsvoller
Herablassung unterhielt.
XIII.
Die letzten Wagen sind fortgefahren,
die letzten Lichter sind ausgelöscht, auch
die geschtftige Dienerschaft ist endlich
zur Ruhe gekommen.
Kühl. grau, nebelig bricht der Mor
gen an. Ein rothumsäumies Wolken-,
Heer lagert sich vor dem Aufgang der
Sonne. Schritt für Schritt muß si«
sich den jungen Tag erkämpfen. End
lich ist es ihr gelungen. Mit siegender
Klarheit bricht sie sich Bahn, zerreißt
das dunkle Gewölk, die wallenden Ne
belschleier und steht als seine Köm
gin da.
In den hellen Morgen hinein jagt
der Courierzug durch langeHaidestrcckei,,
braune Moorflächen, Buchen- und Ei
chenwaldungen. Ange schaut übernäch.
tigt hinaus auf die golddurchleuchtet«
Landschaft. Blaß und fröstelnd schauert
sie zusammen, zieht fester den Regen
mantel um ihre Gestalt, drückt sich in
die Ecke und schließt die Augen, unter
denen tiese, dunkle Schatten lagern.
Wie Blei liegt es in ihren Gliedern,
auf ihrem Kopf. Soviel sie sich auch
müht, in ihre Gedanken Ordnung zu
bringen, sie kann es nicht. Sie ist nur
dunkel bewußt, daß sie etwas Entsetz
liches aus Tanner fortgetrieben, daß si«
ihm dem Heißgeliebten, damit ein
unerhörtes Leid zugesügt, daß sie aber
nicht anders hatte handeln können,
bandeln dürfen. So glaubt und sucht
sie die furchtbar nagende Reue zu er
sticken, die sich mit jedem Schritt, den
sie sich von Tanner entfernt, fester in
ihr Herz krallt. Blindlings folgt sie
der grenzenlosen Furcht, welche sie von
den erbarmungslosen Richteraugen der
alten Gräsin sorttreibt und für immer
das Paradies ihres Glückes schließt, da«
sie nach schmerzlichem Irren und Su
chen an des Grasen Leonce Herzen ge
funden.
Ruhe, Ueberlegung, Kraft zum
Denken sind ihr verloren gegangen.
Gehetzt, ohne einen Blick rückwärts zu
thun, hat sie Schloß Tanner Verlasien
und die Skation erreicht. Sie kam ge
rade noch zu rechter Zeit, um sich ein
Billet für den Courierzug zu lösen, der
nach einigen Minuten Aufenthalt sei
nen Weg nach Hannover fortsetzte.
Einen Reiseplan hatte sie sich nicht ge
macht. Wozu auch? Für die Hei
mathlose war jeder Ort gleich, jedes
Ziel zwecklos. Als der Schaffner sie in
ein Coupee geschoben, die Thür zuge
schlagen, erwachte die Reue, urplötzlich,
gewaltig, sie wollte das Coupee aus
reißen. sich hinausstürzen zu spät,
der Zug brauste dahin, vorüber an dem
aus der Ferne aus hundert leuchtenden
Fenstern hell strahlenden Schlosse Tan
ner, immer schneller führte er sie hin
weg von ihm, dem Ahnungslosen, den
sie in feiger Flucht aufgegeben hatte.
Sie wollte sich zum Fenster hinausstür
zen da fühlte sie sich von einem Arm
zurückgehalten. Er gehörte einem Herrn,
der sich als einziger Mitreisender im
Coupee befand und den sie bei ihrem
Einsteigen dem durch eine verhangene
Lampe nur erhellten Coupee nicht be
merkt hatte.
„Verzeihen Sie. Fräulein," sagte der
Fremde mit etwas rauher, lieser
Stimme, „aber ich glaubte, Sie vor
einer unüberlegten That bewahren zv
müssen."
Ange zitterte. „O mein Herr, das
das war nicht nothwendig," stam
melte sie verwirrt. indem ihr todtblasses
Gesicht sich mit fieberhafter Röthe über
goß.
Der Fremde kehrte schweigend ans
seinen Platz zurück, hüllte sich wie eine
Mumie bis über das Kinn in ein Plaid
und schloß die Augen. Seine Gegen
wart, das Unabänderliche zwangen
Ange. ruhiger zu werden. ES war
keine Rückkehr möglich, der Zug
war lange über TannerS Grenzen
hinaus. Sie ergab sich hoffnungslos
in ihr Schicksal. Zuweilen wollten die
Thränen heraufsteigen, sie laut schluck»,
zen, dann fiel ihr Blick auf den Herrn
und fie kämpfte dieThränen nieder und
versuchte durch keine Bewegung ihre
Unruhe zu verrathen. Ihr Herz schlug
unter diesem Zwang so laut, daß sie,
nach Athem ringend, die Hand auf die
Brust preßte und dabei einen siechenden
Schmerz empfand. Hätte sie sich doch
ausweinen können! Aber sie wagte es
nicht. Ihre Lage wurde immer uner
träglicher: eS schien ihr ganz nnmög
lich, mit ihrem schweigsamen und doch
aufmerksamen Begleiter die ganze Fahrt
zusammen zu machen. Bei scheuem
Hinblick überraschle sie ihn ost, wie er
unter seinen buschigen Brauen sie be
obachtete.
Das Licht der Lampe erlöschte. Der
Morgen dämmerte herauf, die Sonne
durchbrach siegreich das Gewölk, die
Landschaft wurde freundlicher, beleb
ter. Man sauste an Ortschaften, rüstig
zur Arbeit schreitenden Landlenten vor
über und fuhr in eine Station ein, wo
der Zug einige Minuten hielt.
Der Lärm, das Rasseln des dahin
rasenden Zuges, die Gesellschaft ihres
Mitreisenden, die Beherrschung, welche
er ihr ausgezwungen, der Gedanke, mit
jeder Station die Meilenzahl zu ver
mehren, die sich zwischen Leonce und sie
legten, alles hatte zusammengewirkt,
um sie zu dem Entschluß zu drängen,
ihre Reise zu unterbrechen und sich erst
einen klaren Plan zu machen, wie sie
zu handeln, was sie zu thun habe, ehe
sie dieselbe fortsetzte. >
Sie ließ sich das Coupee öffnen und
stieg aus. Außer den Bahnbeamten
war kein Mensch auf dem leer in der
Morgensonne liegenden Perron. Nur
ein einziger Passagier, und zwar der
selbe. dem sie zu entgehen suchte, war
hinter ihr ausgestiegen, was sie aber
nicht bemerkt hatte. Sie hatte ihre
Reisetasche einem Gepäckträger geben
und ihn nach dem zunächst liegenden
Gasthof fragen wollen; es war aber kei
ner zu sehen, und den Stationsvor
steher, der sie aufmerksam musterte,
icheute sie sich zu fragen. So wandte
sie sich auf gut Glück der Chaussee zu,
aus der einige Milchwagen nach dein
kleinen Städtchen fuhren, das inmitten
von jnngem Grün und blühenden Obst
bäumen in einem von sanft gewellten
Hügeln eingeschlossenen Thalkessel lag.
Rechts und links aus den Feldern wa
ren die Leute bei der Arbeit, im schma
len Graben am Wegsaume suchten kleine
Dorstinder Muttergottesblumen und
wilde Veilchen, andere schritten, die
Schulmappe auf dem Rücke», dem zehn
Minuten von der Station entfernten
Landstädtchen zu. Alles war sorglose
Geschäftigkeit, fröhliche Eile. Da
zwischen jubilirten die Vögel und mach
ten sich in den Blüthenzwe-gen der
Obstbäume nachbarlichen Besuch.
Ange hatte das Städtchen erreicht
und schritt durch die schlecht gepflaster
ten Straßen, in denen das Graz in den
Steinritzen wuchs, dem Gasthof zu,
welchen ihr ein Schuljunge als den
nächsten bezeichnet hatte. AuS der Thür
des Wirthshauses bellte ihr ein branner
Teckel entgegen, verschwand aber sosort
knurrend unter der Hecke, die den Gar
ten zur Seite umschloß, als eine derbe
Frauenstimme ihn zur Ruhe verwies.
Vor dem Wirthshause stand ein
Korbwagen mit einem mageren Gaul,
der eine derhe Bauernmagd, dieselbe,
welche den Hund zur Ruhe verwiesen,
abschirrte. Als Ange an sie herantrat
und nach einem Unterkommen sragte,
musterte sie neugierig die städtisch ge
kleidete, verschleierte junge Dame und
rief in'S Haus hinein nach der Wirthin.
Sie tam, eine Frau in mittleren Jah
ren, gleichfalls bäuerlich mit einem
roth und blancarrirten Rock und schwar
zem Mieder mit ausgekrempelten Hemd
ärmeln bekleidet, und führte Ange aus
ihre Bitte um ein ruhiges Zimmer
durch die große, mit Quadersteinen ge
pflasterte Küche eine enge Holzstiege
nach dem ersten Stockwerk empor. Hier
wies sie ihr ein kleines, niederes Zim
mer nach dem Garten an, das mit sei
nem braun überzogenen Sopha, der
breiten Mahagoni - Kommode, dem
schiefhängenden Spiegel, hinter welchem
drei große Pfauenfedern steckten, und
dem hochausgethürmten Bett, über wel
chem eine roth und weiß gewürfelte
Decke lag, den Eindruck einer freund
lichen Bauernstube machte. Ueber dem
Sopha hingen die Oeldruckbilder des
letzten Königs von Hannover mit seiner
Gemahlin und Kaiser Wilhelm der Erste
im Krönungsornat. Am offenen Fen
ster standen Reseden und Pegonien,
welche dem plebejischen Geruch der
Speckseiten und Schinken, der im Hause
vorherrschte, Concurienz machten.
Die Wirthin ging, um Frühstück zu
besorgen, indeß Ange Hut und Mantel
ablegte. ES geschah dies ebenso apa
thisch, wie sie der Wirthin Frage, ob
ihr das Zimmer recht sei und ob sie
Kafsee wünschte, mit einem einsilbigen
„Ja" beantwortet hatte. Als die Wir
thin das Frühstück gebracht, trank sie
einen Schluck Kaffee, schob aber das
Weißbrot zur Seite. Sie konnte nichts
essen, die Kehle war ihr wie zuge
schnürt. Sie fieberte, war todtmüde
und konnte sich kaum aufrecht halten.
Der Druck auf dem Kopf wurde uner
träglich. Eine siedende Hitze glühte
aus ihren Wangen. Langsam, alles,
was sich ihr als Stütze darbot, be
nutzend, tastete sie sich nach dem Bette,
nahm die Tecke herunter, streifte ihre
Kleider ab und legte sich hinein.
Ihre Lieder fielen zu, und ein bleier
ner Schlas senkte sich auf sie herab.
Wilde Träume ließen eS aber zu keiner
erquickenden Ruhe kommen. Beständig
schreckte sie während des Schlafes em
por, und immer verfolgten sie zwei
Schreckbilder: die Augen der Gräsin
und die Hand des Fremden, welcher sie
abgehalten, sich aus dem Henster zu
stürzen.
(Fortsetzung folgt.)
Definition.
Du möchtest gern wissen, wie man ihi«
doch heißt.
Den Schauplatz des FreuenS und
SchmerzenS?
Die Welt ist ein Lustspiel dem Manne
von Geist.
Ein Drama dem Manne des Herzens.
Zu vorsichtig. Bäuerin
(bei der Abreise nach Amerika zu ihrem
Sprößling): „Geh' Sepperl schneuz'
Di no mal, unterwegs könnt'S ka Zeit
dazu geb'n!"
Kasernenhofblllthe. -»
Feldwebel: „Sie, Müller, wie sehen
Sie denn aus? Drei Tage hat der
Kerl Urlaub gehabt und ist schon wieder
ganz civilisirt!"
Wie man'S macht. Thea
terreserent (zum Redacteur): „Ich muß
verreisen; da liegen die Recensionen
über die Premieren des nächsten Mo
nats!"
Z««g« L««t« v«n einst und
Ueber junge Leute von einst und jetzt
hat ein französischer Arzt, Dr. Raoul
Srunon. eigenartige
ingestellt. Er verglich aus den drei-:
Biger Jahren stammende
inaaße einiger fünfzig jungen Leute ims
Alter von 18 bis 22 Jahren mit Maa->
Ben von Gleichaltrigen aus der Jetztzeit!
und derselben Gesellschastsschicht und
kam dadurch zu interessanten Ergeb
nissen über die Körpcrbcschasfenheik bei
der Generationen. Bei den alten
Schnittmustern vor 3V Jahren war
vordere Brustlinie, die der Rocköffnung>
entspricht, weiter von der Aermelnaht
entfernt, als bei den jetzigen Röcken
von ähnlichem Schnitt. Um dem Rock
über den Hüften um den Leib den rich
tigen Anschluß zu geben, wurde früher
aus den Seitentheilen des Männerrockes
ein dreieckiges Stück Tuch herausge
schnitten; heute muß dieser Ausschnitt
mehr elliptische Form haben, damit der
Rock unten gut sitzt. Die Rückenlinien,
die an der Hinteren Naht des Kleidungs
stückes zusammenstoßen, verlaufen statt
geradlinig, wie bei den alten Schnitt
mustern, heute krumm, damit es auf
dem Rücken keine Falten giebt und der
Rücken ordentlich hineinpaßt.
Die aus diesen Vergleichen zu ziehen
den Folgerungen sollen sehr zu Un
gunsten des heutigen Geschlechts aus.
Der Rock ist über die Brust vorn schmä
ler geworden, die Entfernung von
Schüller zu Schulter also kleiner, die
Brust der jungen Männer, von heute
ist demnach flacher, sie hat nicht mehr
die frühere Wölbung, und der Fas
sungsraum des Brustkorbes und somit
der Lunge hat sich gegen früher verrin
gert, zumal da auch der obere und der
untere Brustdurchmesser nahezu gleich
geworden sind, indem der untere nor
mal oder sast normal geblieben ist,
während der obere sich verkleinerte.
Die normale Gestalt mit geradem, leicht
hohlem Rücken, hervortretendem und
gewölbtem Brustkorb und bogenförmig
geschwungener Taille bildet heute die
Ausnahme nnd findet sich unter hundert
Personen nur noch bei zwanzig.
Auch noch in anderer Beziehung ist
die Körpersigur der heutigen jungen
Männer unschön geworden. Normale
Schulterstellung, gerade Schultern,
finden sich an den modernen Schnitt
mustern nur noch bei drei Personen
uuter hundert. Es ist ja leider kaum
nöthig, das noch besonders hervorzu
heben; tagtäglich können wir diese Be
obachtung bestätigt finden: hängende
Schultern, vorgestreckter Hals und
krummer Rücken werden, wenn sie von
Natur aus nicht schon vorhanden find,
durch schlaffe und nachlässige Körper
haltung noch verstärkt. Die Hüften
springen heute mehr hervor, der Ober
leib ist kürzer geworden, so daß man
beinahe sagen kann, daß der weibliche
Characlcr in der Körperbildung der
Männer häufiger geworden ist. Ein
netteres, sehr wichtiges Mißverhültniß
zeigt sich noch zwischen den jungen Leu
lin von jetzt und früher in dem Brust
umsailg und in dem Bauchumfang.
Am Jahre IWO betrug bei den zwan
zigjährigen Männern der halbe Brust
umfang im Durchschnitt fünfzig Centi
meter und der Bauchumfang vierzig
Centimeter: die Männer damals besa
ßen also eine natürliche Taille. Heute
beträgt der erstere im Mittel kaum 44
Centimeter und der andere 41. Diese
Untersuchungen beziehen sich nur auf
die französische Jugend, dürften aber
auch bei der deutschen vielfach zutreffen.
Im rechten Ntom . t.
Washington Schulze (erzählend):
Neulich gings mir aber doch recht zuwider
mit meiner Schwiegermutter, mit der
ich mich überhaupt nicht gut stehe, wie
Ahr wißt. Erhalte ich da neulich, als
ich mit meiner Frau gemüthlich znsam
mensitze, eine Depesche von ihr: „Trefft
heute um 3.3 V ein!" Ich drehe mich
j» meiner Frau um, und sage: Schatz,
weiyt Du schon das neueste Eisenbahn
unglück? Nein, sagt sie, erzähle
doch! —Ach, sage ich, um 3.30 ist ja
die Schwiegermutter auf der Bahn an
gekommen! So, Herr Schwieger
sohn? höre ich da plötzlich eine bekannte
Stimme hinter mir. Entsetzlich! da
stand die Schwiegermutter auf der
Schwelle, und hatt« Alles gehört!
Reingefallen. Bankier (zn
einem Freund): »Ach, ich bin ja der
unglücklichste Men>ch von der Welt."—
.Wieso denn?" „Denk Dir. als ich
hörte, Fräulein Lina sei verlobt, machte
ich ihr einen Heirathsantrag, damit eS
doch nicht so aussehen sollte, als wenn
ich sie genassührt hätte." „Und sie
war gar nicht verlobt?" „Doch, aber
sie hat die Verlobung ausgehoben! Si»
sagte, meine Liebe wäre inniger!"
Bescheiden. Vater: „Neik
mein Herr, meine Tochter kann niemals
die Ihrige werden." Liebeglühender
Jüngling; „Ich will sie ja auch gar
nicht als meine Tochter haben: ich wün,
sche sie zur Frau."
Macht der Beredtsam»
keit. Während der Vertheidigungsrede
schluchzt die Frau des angeklagten
Ranbmörders, die im Zuschauerraum
sitzt, vor sich hin: „So'n juter Mann
bist Du, Willem! Ick verdiene Dir ja
jar nicht...."
Nicht ausreichend. „Nun.
hat die Generali» mit ihren sechs Töch
tern gestern auf dem Ball Erfolg ge
habt?' „Einen Achtungserfolg." 3