Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, September 30, 1892, Page 3, Image 3

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    Li« verbreche«.
(13. Fortsetzung und Schluß.)
Vielleicht giebt es ein Vorgefühl
eine unerklärliche Vorahnung kommen
den Uebels, aber wenn daS der Fall ist,
so wurde in diesem Augenblick der Fi
nanzmann und Menschenfreund nicht
von solchen Gefühlen gestört. Er war
bereits von Feinden, die ihn zur Re
chenschast ziehen wollten, umgeben,
schon näherten sich die gemessenen
Schritte der Gendarmen, aber Saint
Alban hörte sie nicht, er sprach lebhast
über den neuen Plan, den er vor
hatte.
Es giebt Menschen ohne Gewissen,
deren Cynismus durch nichts gestört
wird. Ein solcher Mensch war der Zi
geuner, der falsch gegen Leute seines
eigenen Stammes war, der Verrathe»
und zweifache Mörder.
Mit dem schüchternen Blick eines
unterwürfigen und gezähmten Thier«?,
daS seinen Herrn fürchtet. saß Frau
Saint Alban schweigend da und richtete
ihre matten, farblosen Augen auf den
Mann, dessen Stärke in einer bösen
Stunde ihre schwache Natur unterjocht
hatte. Im Geheimen sühlte sich die
Frau elend, sie wurde von Gewissens
bissen gequält und war ost der Ver
zweiflung nahe, wenn sie von Niemand
gesehen wurde. Oesfentlich lächelte sie
auf sein Gebot, sprach oder schwieg, wie
er besahl. und machte alle die Höflich
keiten und' Falschheiten des gesellschaft
lichen Lebens mit, gehorsam dem spre
chenden Blick dieser grausamen Augen.
Die orientalische Philosophie behaup
tet, für jede Frau in der Welt sei ein
Mann vorhanden —vorausgesetzt, daß
sie ihn finden könne dessen Sklavin
sie sein werde, mit gebundenen Händen
und Füßen, in schlimmerer Sklaverei,
als jemals eine Schwarze, welche auf
einer amerikanischen Pflanzung unter
der Geißel des brutalen Aussehers ge
schmachtet hat. Frau Saint Alban
hatte ihren Herrn gesunden.
Als Saint Alban den Kopf erhob,
voll von den Berechnungen eines gro
ßen, sicheren Gewinns, den ihm tein
Zufall streitig machen könne, sah er,
wie die Thüre sich öffnete.
Aus der Schwelle erschien ein Mann,
dessen Anblick er zu sürchten Ursache
hatte, hinter diesem erblickte fein schar
fes Auge blitzende Waffen.
Todtenbleich sprang er auf und blickte
wild um sich. Er wußte zu gut, daß
jetzt sein Spiel verloren war. Man
hatte ihn gesunden —sein Schicksal war
besiegelt.
Regungslos starrte Frau Saint Al
ban mit ihren erloschenen Augen nach
der Thüre und zitterte an allen Glie
dern. Saint Alban hatte sich erhoben
und sah seinen Feinden entgegen. Mr.
Brusel trat vor mit der Ruhe eines
Mannes, welcher wußte, daß er Herr
der Situation sei.
„Charles Courtin, alias Saint Al
ban, Sie sind unser Gefangene», " sagte
er. „Bemühen Sie sich nicht. Wider
stand zu leisten, Sie würden sehen, daß
wir stärker sind, als Sie. Also solgen
Sie meinem Rath und kommen Sie
mit uns. Ich glaube, Sie wissen,
wessen Sie angeklagt sind? Wir haben
die Sache schon früher einmal verharr
delt, ich will jedoch die Formalität nicht
vernachlässigen."
Damit zog er den Verhaftsbefehl her
aus und las ihn vor.
Monsieur Ferron stand todtenbleich
daneben und rang nach Athem, aber er
sprach kein Wort. Seine Frau, ebenso
bleich als er, hatte ihre Hand aus seinen
Arm gelegt und erklärte ihm durch eine
stumme Geberde, daß er zuhören und
warten solle. Er gehorchte.
Inzwischen hatte Saint Alban Zeit
gefunden, sich zu fassen. Der Finanz
mann, dessen Selbstbeherrschung au
ßerordentlich war, hatte sein gewöhn
liches, spöttisches Wesen wieder ange
nommen.
„Ich sehe, ich bin in einer Falle ge»
fangen," sagte er. „das ist eine glückliche
und merkwürdige Fainüienversamm
lung Ricmand fehlt dabei, wie ich
sehe, selbst nicht mein alter und ge
schätzter Freund, Sir John Hunter,
oder mein noch älterer Freund, der
Herr Kapitän," fügte er mit einem
Blick auf Duvivier hinzu. „Aber ich
glaube, ich muß Sie elwas über eng
lische Gesetze belehren, mein verehrter
Mr. Brusel. Was sagen Sie dazu,
wenn ich Ihnen erkläre, daß der HaftS
besehl, den Sie da haben, nicht das
Papier werth ist, aus dem er geschrieben
steht?"
Saint Alban'» Ruhe war erstaun
lich, für einen Augenblick waren seine
Feinde verdutzt.
„Wie so?" fragte der Detectiv.
„Die Anklage, die Sie zum zweiten
Male gegen mich vorbringen," erwi
derte Saint Alban, „ist bereits vor
einem englischen Gerichtshof verhandelt
worden. Sie und Ihr vortrefflicher
Genosse, der medizinische Polizist, wissen
sehr wohl, mit welchem Resultat. Ich
bin als unschuldig freigesprochen wor
den. Sie können mich nicht nochmals
verhaften, ich leiste Ihnen Wider
stand
Mr. Brusel zuckte mit den Achseln.
„Ist das Alles?" sagte er. „Das be
weist. daß Sie nicht viel vom englischen
Gesetz verstehen. Wenn Sie sagen,
Sie seien freigesprochen worden, so ist
das ein großer Irrthum. Sie wurden
nur aus Mangel an Beweis entlassen,
das Gericht hatte keine Macht, Ihren
Fall endgiltig abzuurtheilen."
„Ich bin freigesprochen worden!"
erwiderte Saint Alban zornig. „Ich
denke, Sie haben die Entschuldigung
des Gerichtshoses gegen mich vernom
men?"
„Das war nur ein Ausdruck persön
licher Meinung, mein guter Herr, ohne
Bedeutung," erwiderte Brusel kühl,
„wenn die Richter sich auf solche Weise
lompromittiren wollen, was kann ich
dagegen thu»? Ja, wenn St» schlau
genug gewesen wären, sich vor ein Ge
schworenengericht zu stellen, und wenn
Sie dann als unschuldig freigesprochen
wären, so läge die Sache anders. Dann
könnte ich Sie auf keinen Fall fassen,
wie ich jetzt thun werde, ob es Ihnen
recht ist oder nicht."
Hier unterbrach ihn Robert Power,
indem er die sarkastische Redeweise
Saint Albans nachahmte.
„Ich bin nicht ganz sicher," sagte er.
„daß selbst, wenn die eine Anklage
gegen diesen Herrn abgewiesen worden
wäre, wir nicht noch etwas anderes
finden könnten, was bessere Wirkung
hat."
„Was meinen Sie damit? Was
unterstehen Sie sich?" rres der Finanz
mann.
„Zum Beispiel Verleitung zu fal
schem Zeugniß," fuhr Robert ruhig
fort. „Wir haben Beweise dafür.
Und dann ist noch etwas Besseres da.
WaS sagen Sie zu einer Untersuchung
der Umstände, unter welchen Mr. Gallo
plötzlich gestorben ist? Oder zu den
Erkundigungen über die Wirtungen
einer Dosis Arsenik, welche diesem un
glücklichen Manne beigebracht worden
ist?"
Dieser Schlag wirkte. Saint Albans
dunkle Gesichtsfarbe war in ein fahleS
Grün übergegangen, wie eS bei ihm in
Augenblicken der Furcht und der Wuth
zu bemerken war. Von Schrecken über
wältigt. war Frau Saint Alban mit
einem Aufschrei in ihren Stuhl zurück
gesunken; ihre Glidder zitterten und ihr«
Augen funkelten in wilder Angst.
Der Finanzmann sah, daß sein
Spiel verloren war. Er blickte sich
um. Flucht war unmöglich. Seine
Verfolger umgaben ihn: auf ihren fin
steren Gesichtern las er die Entschlossen
heit. Im Hintergrund stand der Bri
gadier, und hinter ihm sah man daS
Blitzen von Waffen.
ES gab kein Mitleid für ihn, am
allerwenigsten von Seiten der Schwester
MadcleineS, welche mit glühenden Au
gen neben ihrem Gatten stand.
„Eleiider. herzloser Mörder, Deine
Stunde ist gekommen!" sagten ihre
Blicke.
Mr. Saint Alban legte resignirt die
Arme über einander.
„TaS KriegSglück ist gegen mich,"
sagte er mit grimmigem Lächeln, „ich
ergebe mich! Alcide," fuhr er fort, zu
Monsieur Ferron gewendet, „lasse
Deine Träume von Reichthum schwrn
den! Unser Plan war vortrefflich, aber
ich und mein Geld mußten an der
Spitze stehen. Schade! Ohne Kapital
ist wirtlich nichts zu machen. Nimm
meinen Rath an. versuche die Sache
nicht, es würde Dir nicht gelingen.
Meine süße Genossin im Verbrechen."
saate er dann zu seiner schaudernden,
halb betäubten Frau, „Du wirst der
Geiellschast Deines liebenden Gatten be
raubt sein! Du weinst? Welch ein
Trost ist eS. daß Jemand um mich
weint! Messieurs, ich stehe zu Diensten.
Sie können mich mit Ihren Handschel
len verschonen. Mein Ehrenwort, daß
ich ruhig mit Ihnen komme!"
Saint Alban hatte die Scene auf
seine Weise beendigt. Der Detectiv
gab ein Zeichen, die Gendarmen traten
vor und von ihnen bewacht, ging der
Finanzmann und Menschenfreund, das
zukünftige Parlamentsmitglied, die
Treppe hinab, dem Gefängniß zu.
34.
Wenn Brusel und seine Begleiter sich
darauf verlassen hatten, daß der Ge
fangene in der Obhut der Gendarmen
sicher sei, so hatten sie sich geirrt. Zwei
derselben waren an seiner Seite und
zwei andere folgten dicht hinter ihm.
Deshalb stiegen der Detectiv, Sir John,
Robert Power und Duvivier gemäch
lich die Treppe hinab, um'ihren Gesan
genen bis zur Thüre des Gefängnisses
zu begleiten. Brusel hatte Saint
Alban durchsucht und da er teine ver
borgenen Waffen bei ihm gesunden,
hatte er ihn der französischen Polizei
übergeben, überzeugt, daß er unschäd
lich sei.
Ader als sie die Hausthüre erreich
ten. zeigte Saint Alban nochmals,
wessen er sähig war. Bisher hatte er
den Cynismus des gewissenlosen, er
tappten Verbrechers gezeigt, der sein
«chicksal auf sich nimmt, jetzt aber
zeigte er plötzlich die Wildheit des Pan
thers. Mit einem gewaltigen Ruck be
freite er sich von seinen Wächtern, mit
einem geschickten Stoß, welcher wohl ge
zielt den Magen traf, machte er den
einen Mann kampfunfähig; ein zweiter
Stoß traf ebenso den Mann an seiner
anderen Seite. Alles oaS war das
Wert eine- Augenblickes und dann
rannte Saint Alban mit gewaltiger
Schnelligkeit davon.
Die Scene war unbeschreiblich. Die
beiden Gendarmen und ihr Führer, der
Unterosfizier, welche den gefährlichen
Stößen des Gefangenen entgangen wa
ren, eilten ihm nach. Auf ihr Geschrei
traten die Fremden aus dem HauS und
liefen zornig aus voller Kraft dem
Flüchtling nach. Hinter ihm, bleich,
verstört und mit wilden Blicken, lies die
Frau des Verbrechers, die einem seltsa
men, unerklärlichen Antrieb folgte.
Bald hatte sich eine Menge von Zu
schauern auf der Straße und auf dem
Platze vor der Kathedrale angesammelt.
„Haltet ihn!" schrieen die Gendarmen
außer Athem.
„Haltet ihn!" rief Brusel, ..zehn
Goldstücke für den Mann, der ihn fest
hält!"
Robert Power sagte nichts, aber er
biß die Zahne zusammen, hielt Haus
mit seinem Athem und rannte so rasch,
als seine Beine ihn tragen tonnten.
CS schien vollkommen unmöglich, daß
Saint Alban entrinnen könne, seine
Freiheit war nicht besser, als die Frei
heit der Maus bei der Katze. FerronS
Laden lag der prachtvollen gothischen
Kathedrale gerade gegenüber, ein gro
ßer Platz lag-zwis >'t!i beiden. Ueber
diesen hin flog Saint Alban wie ein
! Panther, bald in gerader Richtung, bald
zur Seite biegend, uad bedrohte mit
seines» Fäusten und Füßen alle Diejeni
gen, welche ihin entgegen kamen und ihn
auszuhalten suchten.
„Ein Dieb! ein Dieb!" schrie die auf
geregte Menge. .Haltet ihn fest!
Haltet ihn sest!"
„Nein, das ist ein Mörder!" schrieen
Andere. „Nehmt euch in Acht, oder ihr
könnt einen Schuß erhalten!"
Alle schrieen, aber keiner wagte es,
sich dem Flüchtling zu nähern, nach
dem sie gesehen hatten, was Einigen,
die dreister gewesen waren, widersah'
ren war.
Saint Alban bot einen schrecklichen
Anblick mit seinem dunkeln Haar, das
wild um seinen Kopf flatterte, seinen
funkelnden, schwarzen Augen. Er sah
mehr einem Dämon, als einem mensch
lichen Wesen ähnlich. Die Leute zogen
sich daher vor ihm zurück.
Indessen kamen seine Verfolger nä
her. Robert Power und hinter ihm
Brusel und hinter diesen auch noch Sir
John Hunter waren nahe daran, ihn
zu erreichen. Der Flüchtling blickte sich
einen Augenblick um und sah vor sich
die Menge, die jeden Augenblick an
wuchs wie eine dicke Mauer. Es war
hoffnungslos, diese durchbrechen zu
wollen, ebenso hoffnungslos war es,
sich umzuwenden und diesen entschlosse
nen Männern entgegen zu treten.
Saint Alban sah, daß er verloren war,
eins blieb ihm aber noch übrig und das
that er. Er befand sich in der Nähe
des Einganges zur Kathedrale. Die
Thüre war offen. Mit einem raschen
Sprung verschwand er in derselben. In
alten Zeiten wäre der Flüchtling hier
sicher gewesen, die Kathedrale hätte so
gar ihn, den Mörder, gegen die Gerech
tigkeit geschützt, aber dieses Asqtrecht hat
ja aufgehört.
Wo hatte sich Saint Alban verbor
gen? Wo war er zu finden? Im
Schiff, im Seitenflügel, uirgends ivar
er zu entdecken. Doch da führte eine
Wendeltreppe hinauf auf den Glocken
thurm; Arbeiter waren während des
Morgens auf dem Thurme beschästigt
gewesen und hatten die Thüre offen
gelassen. Das hatte der Flüchtling
sosort wahrgenommen und war hinaus
geeilt.
„Er ist auf dem Thurm!" schallte e?
aus der Menge.
Im Augenblick waren Power und
Brns'el an der Thüre; sie war ver
schlössen.
„Er hat die Thür abgeschlossen!"
ries einer der Arbeiter. „Der Schlüs
sel war da, das weiß ich! So ein
Spitzbube, er hat uns damit ausge>
schloffen."
So war eS auch. Saint Alban
hatte seine Geistesgegenwart nicht ver
loren und benutzte jeden Vortheil, den
ihm der Zufall bot. Er hatte ein«
anscheinend starke, schwere, eisern«
Thüre zwischen sich und seine Versolge«
gebracht.
„Wir müssen sie einschlagen!" sagt,
Mr. Brusel, „kommt. Jungen, w>r
wollen es mit unsern Schultern versu
chen. Ich sehe, es ist ein altes Schlok
und wahrscheinlich verrostet und abge
nützt; mit einem bischen guten Willen
brechen wir durch."
Der Detectiv und Power stemmten
ihre Schultern gegen die Thüre, Sir
John schob ein Dutzend schwatzend«
Franzosen bei Seite und stellte sich nebe»
Brusel.
„Nun, los!" rief der Letztere, „noct
einmal! noch einmal! Ich merke, e;
geht!"
Mit einem Krach flog die Thüre aus
und die Verfolger eilten Stufen de>
engen Treppe hinauf.
Inzwischen war die Scene außerhalt
der Kathedrale ebenso ausregend, als
die innerhalb derselben geworden. Di«
ganze Stadt. Jung und Alt, schien sich
vor der Kirche angesammelt zu haben,
jedes Fenster war besetzt, das heiser,
Gemurmel der Menge ersüllte die Lust.
„Die Kathedrale brennt!" sagte!'
Einige.
„Was seid ihr für Narren!" riefen
Andere; „es sind doch teure Flammen
zu sehen!"
„Es ist ein Tieb, den man ertappi
hat, als er den Altar bestahl! Faßt ihn,
den Kirchenräuber!"
„Schweigt doch, ihr Dummköpfe! Ich
sage euch, eS ist ein Mörder, welcher
eben einen Mann ermordet hat. Jean,
mein Sohn, sah die Gendarmen hinein
gehen."
Hin- und hergestoßen von der Menge,
ohne Kopfbedeckung, stand Frau Saint
Alban vor dem Glockenthurm, welcher
gespenstisch mehr als zweihundert Fuß
gerade vor ihr aufstieg. . Mit ver
wirrten, geistesabwesenden Blicken
blickte sie aus die erregte Menge um sich.
Sie hatte ihren Mann in die Kirche
lausen sehen, sie hatte einen Versuch ge
macht. ihm nachzufolgen, aber durch
die VolkSmassen war sie daran verhin
dert worden. Jetzt stand sie hier in
wilder Aufregung, wie in einen'
Traum.
„Sieh, sieh!" schrieen Hunderte von
Leuten, nach der Spitze des Thurmes
zeigend, „da ist ein Mann! Das ist
der Dieb, der Mörder! Was wird er
machen? Heilige Jungfrau, was wird
er machen?"
Der Glockenthurm wurde ausgebes
sert, an der Spitze war ein hölzernes
Gerüst angebracht und aus dieser
schwindelnden Höhe, am äußerste»
Rande dieser Platform von Zimmer
werk stand ein Mann, welcher hastig du
Arme bewegte. Bon unten aus sah er
in der Höhe nur wie ein Zwerg aus,
aber er war deutlich zu ertennen und
seine Arme wintten der Menge zu.
Jetzt wandle er sich um.
.Sie sind hinter ihm! Er spricht mit
ihnen!" schrie die Menge. Es dauerte
nicht lange. Der Mann dort oben
wandte sich wieder der Platsorm zu.
In diesem Augenblick wurden andere
Gestalten sichtbar, welche auf ihn zu
sprangen.
„Nehmt euch in Acht!" Hieß es, „er
wird sich herunter stürzen!"
Durch das Brausen der Stimmen
schien ein teuflische» Gelächter hörbar zu
werden.
„Gebt Acht, gebt Acht! Er stürzt sich
herab!"
Auf diese WarnungSrufe drängte die
Menge unter d<m Glockenthurm mit
plötzlicher Anstrengung rückwärts und
ließ einen offenen Platz. Tie Gestalt
kam mit einem wilden Sprunge herab,
wurde größer und größer, bis sie mit
einem schrecklichen Krachen aus die
Pflastersteine ausschlug. Ein wilder
Aufschrei des Entsetzens solgte! Viele
Arme erhoben sich, um den leblosen
Körper auszuheben. TaS Gesicht war
eine 'einzige Masse von Blut, furchtbar
entstellt, unkenntlich —neben dem Leich
nam stand eine Frau, die ihr Kleid
abschüttelte, das mit dem Blut und
dem Gehirst des Todten bespritzt war;
mit wilden, irren Blicken lachte sie vor
sich hin.
„Sie ist wahnsinnig!" flüsterte man
sich in der Menge zu.
35.
Ein Jahr nach diesen Ereignissen,
oelche die sriedliche Stadt TourS in
Aufregung fetzten, saß der Ehes der
Londoner Kriminalpolizei, Mister Nor
solk, eines Morgens eisrig beschästigt an
seinem Schreibtisch. Ein leises Klopfen
wurde gehört. Mister Norsolk rief „Her
ein!" und sogleich trat ein großgewach
sener Herr in'S Zimmer.
„Ah, Inspektor Brusel!" sagte Mister
Norsolk sreundlich, „eS sreut mich, daß
sie so früh kommen. Ich habe nach
Zhnen gesandt, da ich Ihnen etwas In
teressantes zu sagen habe, —etwas, daS
Zhnen Freude machen wird." '
„Ich habe zusällig auch eine Neuig
keit sür Sie, Sir," erwiderte der Ju
spector, denn jetzt ist er Jnspector
Lrusel „und zugleich auch eine
Litte!"
„O. wirklich?" sagte der Ehef. „nun.
lassen Sie zuerst hören, meine Nachricht
ist nicht so eilig."
„Ich möchte gern auf kurze Zeit ver
reisen." sagte Mister Brusel, „und
möchte Sie sragen, ob es angeht, daß
ich Urlaub bekomme?"
„Versteht sich, Jnfpector, versteht
sich!" erwiderte Mister Norfolk, „Nie
mand hat denselben mehr verdient, als
Sie! Sie haben in letzter Zeit präch
tige Arbeit geliefert! Gehen Sie. wann
Sie wollen, auf einen Monat, auf
sechs Wochen! Bestimmen Sie selbst!
Aber was ist eS mit Ihrer Neuigkeit?
Sie sagten, Sie haben mir etwas mit
zutheilen?"
„Ja, Sir, aber das hängt mit mei
ner Bitte zusammen, die Äie so gütig
bewilligt haben. Ich habe eine Ein
ladung zu einer Hochzeit erhalten, da
ist nämlich ein junger Mann, der Hei
rathen will!"
„Ein Mann, den wir Beide kennen?"
sagte Mr. Norsolk aufspringend, „doch
wohl nicht —"
„Doch, doch," erwiderte Mr. Brusel
nickend und vergnügt lächelnd, „Doctor
Power will in den Stand der Ehe tre
ten. und mit Ihrer Erlaubniß werde ich
eine Anssahrt hinüber nach Rouen ma
chen, um darauf zu sehen, daß Alles
ordentlich vor sich geht."
„Ich brauche nicht zu fragen, wer
die Dame ist," sagte Mister Norsolk,
„Lady Hunter hat mir schon Alles er
zählt."
„Ja, Sir. und d!» Dame scheint mit
der ganzen Sache sehr einverstanden zu
fein. Power hat Glück, er bekommt
ein schönes und gutes Mädchen zur
Frau und noch ein Vermögen dazu.
Der alte Herr wird es sich etwas kosten
lassen, wie man mir sagt; wenigstens
meint die gnädige Frau so. und sie hat
es von dem alten Herrn selbst gehört."
„Es freut mich, das zu hören," sagte
Mister Norfolk, „er hat aber auch ver
dient, daß ihm endlich einmal das
Glück lächelt, nach allen den Widerwär
tigkeiten. Aber auch ohne das Ver
mögen seiner tünstigen Frau scheint
Doctor Power sich in sehr guter Lage zu
befinden. Sir John sagt, er habe sich
eine vortreffliche Praxis in Rouen unter
den dort wohnenden Engländern und
selbst unter der französischen Bevölke
rung erworben."
„Ja, Sir. seit er, auf Monsieur Tu
viviers Rath, England verlassen hat
und sein Zelt in Frankreich ausschlug,
ist es Power gut gegangen, und ich
hätte daraus schwören können, daß das
Ereigniß. von dem ich eben sprach, nicht
ausbleiben werde. Er hat das Mädchen
gerettet, daran ist kein Zweisel."
„Aber nicht ohne die Hilfe eines ge
wissen. tüchtigen Beamten, welcher un
genannt bleibt,bemerkte Mister Nor
solk. „Aber die Sache freut mich in
der That sehr! Gehen Sie nach Rouen
und bringen Sie Power meine besten
Wünsche zu seinem künstigen Glück. Ich
werde ihm aber auch noch schreiben. ES
ist merkwürdig, wie die Dinge oft ver
laufen," fuhr Mister Norfolk fort,
„aber wir sprechen hier von den Haupt
personen in jenem Fall von Sandbank,
und davon eben wollte ich Ihnen sagen,
als Sie eintraten."
„Wirklich. Sir?" sagte Inspektor
Brusel. das ist ein merlwürdiges Zu
sammentreffen."
„Was glauben Sie, daß ich diesen
Morgen erhielt? Ich erhielt die Nach
richt, daß die verloren gegangene Reise
tasche und die Kleider endlich gesunden
worden seien."
„Die Reisetasche und die Kleider,
Sir? Ist es wirklich möglich ?"
„Ja. Sie waren im Keller des Ma
rinchotels. Tie Seewasserleitung sür
die Bäder mußte neulich rep'ärirt wer
den, und da sie sich unter den Kellern
befindet, so mußten die steine aufge
rissen werden. In einer Ecke des Kel
lers. welcher niemals gebraucht wurde,
da er sehr seucht ist, fand man eine
Reisetasche, einen Damenmanlel und
Andere Sachen. Das gehörte diesem
Manne, wie hieß er doch? Saint
Alban! Er hat die Sachen dort verbol
zen!"
„Und ein ganz schlaue» Versteck war
das!" sagte Mr. Brusel. .Wie konnle
ich nur so thöricht sein, dort nicht nach
zusuchen."
„Ich glaube nicht, daß Sie das hät
ten thun können, die Stell« war ganz
unzugänglich! Nur St. Alban als Ei
genthümer hatte die Schlüssel für jede
Thüre, das wußte er."
„ES war ein schlauer Bursche," sagte
Mr. Brusel mit nachdenklichem Kopf
nicken. „Dieser Sprung von dem
Thurm der Kathedrale herab, eben als
Power ihn am Kragen sassen wollte,
macht mich noch heute schaudern. Ja,
Sir. wir haben nicht oft mit einem sol
chen Menschen zu thun."
„Seine Frau ist wohl noch immer
wahnsinnig?' fragte Mr. Norfolk.
„Ja, und sie wird eS bis zu ihrem
Ende bleiben, ihr ganzes Vermögen steht
unter Verwaltung und man ha» sie in
einem Asyl untergebracht."
„Nun, die Sache ist anders gekom
men. als wir dachten, aber schließlich
macht daS keinen Unterschied, Sie und
Power haben bewiesen, daß Sie von
Ansang an auf der richtigen Spur
waren."
O, Sir, schreiben Sie mir das nicht
zu," sagte Mr. Brusel bescheiden, „das
war alles sein Werk!"
„Mag sein, aber Sie gingen Beide
tapser an die Arbeit! Was mir schließ
lich den meisten Spaß machte, war das
lange Gesicht des Inspektors, als end
lich die Sache an den Tag kam, nie
mals habe ich gesehen, daß ein Mensch
solches Bedauern empsand. Wie hieß
er doch?"
„Sie meinen Mr. Gadd wahrschein
lich?"
„Ja, richtig, Gadd! Und diese
dumme, alte Person, die Wirthin,
welche, wie ich glaube, noch bis aus den
heutigen Tag der Meinung ist. sie
habe eine Frau und nicht einen Mann
gesehen."
„Ja, gewiß, Sir, sie war ganz nnd
gar verrannt! Aber die Nachricht von
der gesunkenen Reisetasche und den an
deren Sachen wird für Power etwas
fein; ich werde ihm eine hübsche Ge
schichte zu erzählen haben."
„Aber nehmen Sie sich in Acht und
sprechen Sie nicht beim Hochzeits
schmauS davon," sagte Mr. Norsolk.
„Die Tragödie war einmal eine Tra
gödie, obgleich sie seinen Rus auf die
glänzendste Weife wieder hergestellt hat
und zu seinem Glück sührte. aber zur
HochzeitSfrende paffen leine düsteren
Mordgeschichten."
„Sie haben Recht, Sir." erwiderte
Mr. Brusel, im Begriff, sich zu verab
schieden, „ich werde mich mU einem
Toast aus das Brautpaar begnügen,
höchstens noch vielleicht mit einer glück
lichen Anspielung auf die Tage, da ich
ihn zum ersten Maie sah, als ein aus
gezeichnetes Mitglied der Polizei von
Sandbank Polizeiserzeant Num
mer 21."
(Ende.)
Eheliche Romantik.
Sie ist so unendlich romantisch
Poetisch ganz und gar!
Ich les' es aus ihren Blicken,
Aus ihren Acuglcin klar.
Ich ahn' es bei jedem Seufzer,
Bei jedem AbschiedSgruß,
Ich hör' es aus jedem Worte,
Ich fühl's bei jedem Kuß.
Ich merke eS an dem Staube,
Der auf den Möbeln liegt,
Ich seh' es an uns rem Zeisig,
Der nichts zu fressen kriegt.
Ich seh' es an meiner Wäsche,
Die sie zu plätten vergißt.
Ich schmeck' es aus jeder Suppe,
Daß sie romantisch ist!
Das Gift im Dienst«
einzelner Staaten. Welcher Mittel
sich vor Zeiten selbst Regierungen be
dienten. um ein vorgestrecktes Ziel zu
erreichen, dafür liesern uns unter
Anderem die geheimen Staztsprototolle
der Republik Venedig ein interessantes
Beispiel. Am 4. Januar 1514 wurde
da im „Rathe der Zehn" und in (Ge
genwart der „Meisen von beider Hand"
ein Antrag eines gewissen Johann von
Ragusa verlesen, in welchem Letzterer
sich erbötig macht, durch verschiedene
Giste Jeden, den man wolle, aus dem
Wege zu räumen, falls man geneigt sei,
ihm für diese seine ,<?unst und Mühe
eine entsprechende „Provision" zu be
zahlen. Der Antrag wurde einer de
taillirten Beratschlagung unterzogen
und nach erfolgter Abstimmung mit
einer Majorität von 1t) gegen 6«ZtiiN'
men auch angenommen. Tie erste
Probe seiner Geschicklichkeit sollte er an
dem deutschen Kaiser vollsühren, wofür
im Falle des Gelingens ein Honorar
von 15Vl) Dukaten festgestellt wurde,
und um falls man seine Dienste auch
ferner in Anspruch nehmen sollte
aller weiteren Unterhandlungen entho
ben zu sein, stellte man gleich solgenden
Preiscourant fest: „Braucht man
mich" so heißt eS wörtlich in der be
treffenden Urkunde— „den Großsnltan
aus dem Wege zu räumcu, so verlange
ich dafür si)o Dukaten; sendet man
mich gegen den Markgrafen von
Mantua, erhalte ich in Allem blos 5V
Dukaten. Für den König von Spa
nien begehre ich Unkosten und eine Be
lohnung von 15» Dukalenr, sür den
Herzog von Mailand begehre ich nicht
mehr als 60 Dukaten, mit einem
Worte, je mehr der Mann, dem es gel
ten soll, die Mühe und Plage werth ist.
die man sich um ihn gibt, desto schwerer
fällt er auch in'S Geld." Und das Al
les ist erst vor kurzen drei Jahrhunder
ten geschehen! Erscheint einem dies nicht
wie ein Märchen, wenn wir aus unse
rer humanen, offenen, rechtlichen Zeit
auf jene Jahrhunderte zurückblicken?
Und trotzdem gibt eS noch Pessimisten,
welche behaupten, die menschliche Ge
sellschaft fei im Rückschritte begriffen.
Das größte „Unglück"
vieler Menschen ist ihre Vorstellung von
.Glück".
«uf Wache.
Oben tanzen sie; gegenüber, in der
kinsamen Straße, geht der Nachtposten
iuf und ab.
ES ist jeden Abend ein anderer, der
oor der Kommandantur die Wache hat;
für die da droben iit'S immer derselbe:
ein Soldat im Mantel. Sie haben
leine Ahnung, wie erregt, wie sehnsüch
tig der Soldat im Mantel zu dem einen
HauS emporblickt, mit dem Erker und
i>en kleinen Balkons, zu den hellerleuch
teten Fenstern im zweiten Stockwerk,
hinter deren Vorhängen eS so lustig hin
und herbewegt, daß förmlich ein Strom
von Vergnügen und Uebermuth herun
terfluthet in die frostige Herbstnacht.
Manchmal hört man auch bis in die
stille Straße herab daS Klavier klingen,
das unermüdlich gespielt wird: Walzer!
Immer Walzer! Dann macht der Sol
dat da unten wohl ein finsteres Gesicht
und stampst wie zornig mit dem Fuße
auf.
Welch' öde Stunden für ihn! Und
sie, sie tanzt und lacht!
Aber wenn er dann wieder zu dem
Eckfenster, mit dem blauen Stoffgewoge
dahinter, empor schaut, lächelt er ganz
weich und gerührt:
! „DaS süße Ding! Seine liebe Edy!
iSie weiß eS ja nicht, wer da unten
steht! Ja. wenn sie's wüßte!"
Mit einem Seufzer lockert er dann
wohl das Gewehr, das ihn aus die
Schulter drückt.
Eduard Fernhagen ist ein wenig spät
>aran sür den Freiwilligen-Dienst; er
ist fünfnnzwanzig Jahre alt, ein Mann
mit einem Vollbart, dem'S nun nicht
leicht fällt, sich unterzuordnen und in
die strenge Disziplin zu füge»; denn zu
Hause, in der kleineren Stadt in Fran
len, ist er bereits Herr über viele hun
dert Arbeiter, der Prinzipal einer gro
zen. weitbekannten Fahrik. Eben weil
er so früh sein Erbe anzutreten und die
Verantwortlichkeit, die Verpflichtungen
tines großen Betriebes zu unternehmen
hatte, war eS ihm bisher unmöglich ge
ivesen. ein ganzes Jahr abzukommen,
-im seiner Militärpflicht zu genügen.
Aber nun mußte es einfach sein.
Im Sommer hatte er aus einer Reise
!in Mädchen kennen gelernt, das ihn
bezaubert gleich in der ersten Stunde,
das er dann an jedem Tage des Zusam
nenseins lieber und lieber gewonnen
hatte, bis er sich sn seliger Begeisterung
zesagt: sie und teine Andere müsse sein«
Wcii werden.
Ö, die lieben unvergeßlichen Stun
>en in jenem kleinen, ländlichen Bade
irt! Wie er gezittert hatte um ein
Zeichen ihrer Gunst! Wie lange er
oiel zu scheu vor ihr gewesen war, um
nur ihre Hand zu drücken, um ihr ein
Wort zu verrathen. Und dann der
selige Tag ! Die wunderbare Gewiß
heit, daß auch sie ihm gut sei! Das
Plätzchen an dem kleinen Weiher, wo
sie unter einer süßduftenden Linde sich
gelobt hatten, auf einander zu warten,
in treuer, unerschütterlicher Liebe. Er
hatte sie um das heimliche Versprechen
bitten müssen. Er konnle noch nicht
vor ihre Eltern hintreten und um sie
werben, obwohl er ja berechtigt gewesen
wäre zu dem stolzen Wort: Ich ver
mag Ihrer Tochter eine schöne Zukunst
zu bieten. Aber der Militärdienst!
Wie ironisch würde ihr Vater ihm wohl
erwidert haben: „Mein lieber Herr
Fernhagen, dienen Sie doch erst, ehe
Sie Heirathen wollen. Ein Einjährig-
Freiwilliger als Bräutigam; das ist
komisch!" Darum hatte er schweigen
müssen ; darum sollte erst dieses einzig»
Hinderniß bei Seite geräumt sein.
Dem Fabrilherrn würden die Eltern
seiner Ed» wohl gern die Arme öffnen;
das wußte er.
Also in Gottes Namen noch rasch
durch s Fegeseuer, ehe das Paradies sich
ihm erschloß!
Er hatte seinem Liebchen nicht ge
schrieben. daß er in ihre Stadt komnie.
Er schämte sich, vor ihr, die ihn als
freien, eleganten Mann kennen gelernt,
nun in der schlichten Uniform zu er
fcheinen; schon die Vorstellung, er
könnte bei einem Besuch in ihrem
Hause einen Ossizier treffen und die
Honneurs machen muffen, er, der
Aeltere, vielleicht einem zwanzigjähri
gen Lieutenant, war ihm unerträg
lich.
Wenn einmal die schlimmsten, ersten
Wochen vorüber waren, dann erst sollte
sie seine Anwesenheit erfahren. Nein!
-in ganze» Jahr tonnte er es ja doch
nicht aushalten, ihr so nahe zu sein
und kein Wort mit ihr zu tauschen.
Es ist doch ein hübscher Zufall, daß
ihm der Posten an der Eommandantur
zugewiesen wurde, gerade ihrem Hause
gegenüber. Ja, trotz einem gewissen
eifersüchtigen Prickeln und Brennen in
seinem Herzen ist eS hübsch, daß er
Wache halten darf vor ihren Fenstern.
Wie sie die Andern da drinnen ver
gessen. wie sie das Fenster ausreißen,
sich herabneigen, ihm zunicken würde in
heißem Jubel, wenn sie nur eine
Ahnung hätte, wie nahe er ihr ist!
Droben tanzen sie. Edy hat einen
Walzer durchgerast und sitzt nun mit
ihrem Partner in einer ruhigeren Ecke,
und dieser sächelt ihr Kühlung zu.
Ter schwarze Seidensächer ist ein Ge
schenk Eduards, und er lelber hat mit
Joldlettern in eine Ecke geschrieben:
„Und treu gedenken sei die goldene
Brücke
Vom Scheidegruß biZ zum Wieder
sehen."
Die Buchstaben leuchten und flim
mern auf der schwarzen Seide, aber die
Augen des Mädchens gleiten über sie
hinweg und schauen lachend in das
lecke, hübsche Gesicht des jungen Man
nes, der ihr gegenübersitzt und ihr in
seiner übermüthigen Weise den Hof
macht.
Er weiß so amüsant zu plaudern.
Er sagt ihr so netle Schmeicheleien. ES
sallt ihr gar nicht ein. sie sür baare
Münze zu halten, wer würde den
ausgelassenen jungen Maler je ernst
nehmen wollen. Aber lachen muß fi«
mit Keinem so wie mit ihm.
„Ach Gott, Fräulein Edy." sagt er
mit einem Male mit einem ernsten
Ton, „wer weiß, ob wir nicht heut«
zum letzten Mal mit einander getanzt
haben, zum letzten Mal so lustig mit
einander schwatzen. Denn ein halbe»
Jahr bleibe ich sicher in Paris, und
mittlerweile, bis ich wiederkomme, sind
Sie am Ende verlobt, verheirathet?"
Sie sieht ihn an mit einem Lächeln,
das nicht widerspricht.
„Als ob Sie in Parts an mich den
ken würden! Als ob Ihnen dort irgend
etwas d'ran läge, ob ich verlobt oder
verheicathet, todt oder lebendig bin."
„Oh! Oh! Dagegen vertheidige ich
>nich gar nicht! Sie wissen, wie falsch,
wie grundfalsch diese Behauptung ist.
Wenn mir nur etwas daran liegen
dürste, ob Sie sich verloben, verheira
then! Aber habe ich denn ein Recht, nur
ein Wort dagegen zu sagen? ich, ein
Anfänger, ein Maler, ein Nichts, der
Junggeselle wider Willen. Ich muß
eS wohl so hinnehmen, daß ein Ande
rer nach Ihnen die Hand ausstreckt!
Ich weiß nur, daß Sie heute zum Ab
schied noch ein bischen lieb mit mir
waren."
„Ich finde, daß Sie sich gar nicht im
Geringsten über mich zu beklagen ha
ben," erwiedert sie mit einem koketten
Blick.
„Nein! Aber ich bin eben ein unver
schämter Mensch," sagt er leise unl»
sucht hinter dem Fächer nach ihrer
Hand, „unverschämt in meinen Wün
schen. Und ich hätte so schrecklich gern
einen Abschiedskuß von Ihnen, Fräu
lein Edy!"
Sie entzieht ihm ihre Hand; sie
springt aus.
„Sie sind unartig, mein Herr!" be
merkt sie mit snnkelnden Augen. Aber
der Zorn ist nicht groß, oder er sitz»
nicht tief, denn nach kurzer Weile hält
der Maler sie wieder im Arm. und sie
tanzen den „Rheinländer" in schönster
Harmonie.
Nun schweigt die Musik. Die Paare
gehen plaudernd aus und ab. Edy ist
aus dem Zimmer geschlüpft in den Sa
lon; sie hängt den weißen Pelzkragen
um die Schultern und öffnet die Bal
konthür. Es ist zum Ersticken schwül;
sie muß ihre brennenden Wangen küh
en.
Der Soldat unten auf der Straß,
erkennt die helle Gestalt aus dem er
leuchteten Hintergrund. Er schaut zu
ihr einpor wie zu einer Lichterscheinung.
Jubeln, jauchzen möchte er! Es ist
ihm wie ein Beweis für die geheim«
Magie der Liebe, daß sein Mädchen sich
ihm zeigt, daß sie wie von einer Ah
nung getrieben herunterblickt auf di«
nächtliche Straße.
Aber während er steht und starrt,
wie anbetend, tritt neben die Lichter
fcheinung ein Schatten; eine dunkle
Minnergestalt.
Der Maler oben flüstert in Edy»
Ohr: „Bitte, bitte! Zum Abschied!"
und neigt sich zu ihrem heißen Gesicht
herab.
„Aber, gehen Sie doch, der Po
sten sieht herauf!" wehrte sie ab, ohne
Kraft.
„Ah bah, der Posten!" lacht er und
küßt sie heiß und lange auf d'.e Lippen,
die nicht widerstreben.
Nur ein flüchtiger Moment.
Aber für den Mann da unten ist die
Lichtgestalt plötzlich schwarz und häßlich
geworden; sein Paradies ist ihm fortge
löscht. zertreten.
Mit einem Lächeln auf dem Gesicht '
huscht Edy wieder zurück in den Salon.
Sie ahnt ja nicht, daß sie in dieser
leichtsinnigen Minute ein Lebensglück
verscherzt, eine glänzende Zukunft über
den kleinen Balkon hinaus geschleudert
und, was noch mehr ist, ein treue»,
warmes Herz verloren hat.
Droben tanzen sie; drunten wird der
Posten abgelöst; sein Schritt hallt durch
die Straße. Einmal blickt er zurück:
dort bei dem Schilderhaus liegt ein
Alück begraben.
ZurEoncurrenz der hei
ligen Röcke wird aus Paris geschrieben:
„Der Ruhm und auch wohl der reiche
Srtrag in klingender Münze, den die
Schaustellung des heiligen Rockes von
Trier einbringen, haben die Hüter des
heiligen Rockes von Argenteuil nicht
schlafen lassen. Heute zum letzten Male
ist die Schaustellung dieses RockeS, „den
Christus trug, als er gekreuzigt wurde",
in der „bescheidenen" Form verlaufen,
wie bisher. Vom nächsten Jahre ab
soll dem Trierer Rock Concurrenz ge
macht werden. Man will zu dem Zweck
eine ganz neue „Geschichte" des heiligen
Rockes ausarbeiten, auch soll er geflickt
und in seiner ursprünglichen Länge von
1.45 Meter hergestellt werden. Ein
kostbarer Reliquienschrein, in dem er in '
Zukunft aufbewahrt werden soll, ist
schon in Arbeit gegeben, und damit da»
Interesse erhöht werde, soll auch hier
fortan die Schaustellung nur alle sieben
Jahre stattfinden. Die nächste Aus
stellung ist sür den 10. August 1393
festgesetzt, „als Erinnerung des Tage»
und der Stunde, da Karl der Große in
das Dorf Argenteuil einzog und seiner
Schwester,- die damals Äebtifsin des
Klosters war. den heiligen Rock über
brachte." Wie werden sich nun Argen
teuil, Rom und Trier über die Frage
einigen?"
Ans der Schult. Lehrer
(den „Tell" erklärend, liest): „Also
Stauffacher spricht hierzu seinem Weib:
„Nach Uri fahr' ich stehn'den Fuße»
gleich!" Wer kann mir sagen, was
hier stehn'den Fvße» heißt?" Fritz:
„Vierter Klasse!"
Gaunerstolz. Richter: „Sie
geben an, in betrunkenem Zustand die
That ausgeführt zu haben ? Das glaud'
ich Ihnen einfach nicht!" Angeklag
ter: „Warum denn nicht, Herr Richter?
Glauben S', ich hätt' mich fangen las
sen, wenn ich nüchtern gewesen wäre!"
Geduld undLangniuth
gelten oft für Schwäche, während st«
der Ausdruck höchster K»«ft sind. 3