Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, June 17, 1892, Page 3, Image 3

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    Die gnädige Fra«.
I.
Es ist gegen die sechste Abendstunde.
Ein seiner, durchdringender Regen
fällt bereits seit Tagesanbruch herab
und hüllt die gauzeAtmosphäre in feuch
te» Nebel. Der nahende Winter kün
digt sich diesmal zeitiger an, als sonst;
das Unbehagen des unwirthlichen Wet
ters theilt sich unwillkürlich der Stim
mung der Menschen mit; verdrießlich
und sröstelnd eilen sie unter ihren tri«-
senden Ütegenschirmen an einander vor
über, und begleiten das unvermeidliche
Anstoßen der gewölbten Bedachung mit
mehr oder minder lauten Verwünschun
gen. Denn wer mag bei solchem Wei
ter höflich sein? Selbst der Berliner
verliert seinen natürlichen Humor, nicht
allein wenn er hungrig und durstig ist,
sondern auch, wenn er vor Frost mit
den Zähnen klappert.
Darnm ist der stattliche Herr in
mittleren Jahren, welcher eben, vom
Schloßplatz kommend, in die Mitte der
Stechbahn eintritt nnd hier mit seinem
ausgespannten Regenschirm gegen eine
ähnliche Schirmwehr stößt, augenschein
lich wohl kein Berliner. Denn obgleich
bei dem jähen Zusammenstoß sein
neuer Schirm tödtlich getroffen zusam
menknickt, hat der Inhaber des unglück
lichen Schlachtopfers doch keinen Aus
ruf des Zornes odcr nur des Un
willens. Nicht einmal das naturge
mäße „Nanu —!" entringt sich als ein
Präludium zu unheilverkündenden Ex-
Pectorationen seinen Lippen.
Er blickt seinem Gegner unter das
Visier des zierlich gebauten Schirmes
und bemerkt, daß der Gegner eine
Gegnerin ist. Sollte es der bloße An
blick sein, der ihn entwaffnet? Die
Möglichkeit wäre nicht zu bestreiten.
Aus einem zwax nicht regelmäßig schö
nen, aber desto ausdrucksvoslere» Ge
stüte blicken ihn zwei dunkle Augen keck
und herauSsordernd an, und ein paar
srische Lippen spitzen sich schon zu einer
turzangebundenen Replick, falls der
Beschädigte sich bis zu einer lauten Be
schwerde über die ihm zugefügte Unbill
versteigen sollte.
Allein der Fremde scheint nichts der
gleichen zu beabsichtigen. Er fixirt die
ihm gegenüber stehende Erscheinung
einige Augenblicke, läßt ganz flüchtig
den Blick an der schlanken Gestalt
hinabgleiten, und hat bequeme Gele
genheit. unter dem aufgeschürzten Ge
wände ein schön geformtes Bein zu ge
wahren, welches durch Rundung ersetzt,
was ihm an Zierlichkeit mangelt.
„Pardon!"
Mit diesem höflichen Wort» lüftet e
den Hut und geht wei.dr.
„ Bitte recht sehr!"
Weiter wußte die Schöne in der
Uederraschling nichts zu entgegnen,
auch kam selbst diese kurze Gegenrede
noch zu spät, denn der Herr hatte sich
bereits einige Schritte entsernt, und
die moderne Diana setzte ihren Weg
unbehindert sort, nachdem sie sich noch
eiiinial nach dem lakonischen Herrn
umgeblickt und sich zu wirksamerem
Schutze gegen das unsaubere Pflaster
beträchtlich höher geschürzt hatte.
Aber wir können ihr nicht folgen, wir
Haben den Herrn zu begleiten, welcher
sich rechts nach dem Ausgange der
Stechbahn wendet. Indessen scheint
«s, als sollte er heute aus lauter Hin
dernisse stoßen. Diesmal ist es eine am
Boden hockende, zusammenkauernde
Gruppe, über welche er iu dem Däm
merlicht der nur schwach erhellten Pas
sage beinahe gestolpert wäre.
„Was Teusel haben wir denn hie»
wieder?"
Damit bückte er sich, um den Gegen
stand näher in'S Auge zu nehmen, über
den er beinahe gefallen wäre.
Aber Kind! Warum bleibst Du bei
diesem abscheulichen Wetter nicht zv
Hause?"
Mit diesen Worten redete er das
kleine Mädchen an, welches zusammen
gekauert hinter einem der Pfeiler sitzt,
und ein Bündel im Arme zu halten
scheint. Das Kind blickt aus, unwill
kürlich regt es die Arme, und das kleine
Packet, das auf feinem Schooße liegt,
gewinnt Leben und Bewegung. Ein
armseliges, verkümmertes kleines Ge
schöpf, nothdürftig in dünne Lumpen
eingehüllt, hebt den Kopf empor, ver
dreht den Mund zum Weinen, läßt
aber, als mangelte ihm selbst dazu
die Kraft, gleich wieder den Kopf
auf die Brust seiner Wärterin zurück
sinke».
.Weshalb gehst Du denn nicht nach
Hause?" wiederholt der Herr seine
Frage.
Das Mädchen sieht ihn an. als ver
stände es seine Worte nicht, streckt ihm
mechanisch die Hand entgegen und ant
wortet mit heiserer Stimme:
„Einen Dreier, lieber Herr!" Als
ihre Bitte nicht sofort gewährt wird,
zieht sie das bloße Aermchen wieder un
ter das dünne Tuch zurück und bleibt
mit gesenktem Kopse in ihrer vorigen
Stellung sitzen.
Der Fremde ist von dem Anblicke so
betroffen, daß er ganz gegen seine milde
Gesinnung, der Aufforderung der klei
nen Bettlerin nicht sofort entipricht.
„Ist das kleine Kind Deine Schwe
ster?" sagt er. »och näher zu der Gruppe
herantretend.
Das Mädchen scheint aus seinem
Halbschlummer wieder zu erwachen,
aber es antwortet auch diesmal nur mit
dem nämlichen heisern Klagelaut:
„Einen Dreier, lieber Herr!"
17 „Hast Du Hunger?" fragte der Herr.
Das Kind schüttelt sich. „Kalt!" ant
wortet es mit zitternden Lippen.
„Wo wohnst Du?"
der Gartenstraße."
„Wo ist das?"
„Vor dem Rosenthaler Thor."
„Aber das ist ja eine Stunde Weges
von hier! Und so weit schleppst Du Äch
mit dem Kinde?"
Die Kleine hat sich jetzt einigermaßen
aus ihrer Erstarrung aufgerafft und
gibt bereitwilliger Antwort.
„Nach Hause brauch' ich sie nicht zu
tragen, um zehn holt uns die Pincker
ten "
„Wer ist daS: „Die Pinckerten"?"
„Das ist die Mutter."
„Wessen Mutter? Deine odcr des
Kleinen? Seid ihr denn Geschwister?"
„Nein, das Kleine ist der Waffelguste
ihres, und die Pinckerten ist die Zieh
mutter. ..."
„Und Du? wer sind Deine Eltern?"
„Meine Eltern.... ich habe keine."
Der Regen begann stärker zu strömen
und gewährte selbst hinter dem Pseiler
kein trockenes Asyl mehr.
„Tu kannst bei diesem Wetter un
möglich länger hier sitzen bleiben. Ich
werde Dich nach Hause fahren."
Das Kind horchte hoch auf. und
schickte sich an. mit seiner kleinen Last
auszustehen.
Aber es besann sich wieder.
„Ich darf nicht "
„Und weshalb nicht?"
„Ich habe noch nicht meine Zahl."
„Welche Zahl?"
„Das Geld, das ich alle Abend nach
Hause bringen muß."
„Und wie viel ist das?"
„Zwölf Silbergroschen."
„Und was geschieht Dir. wenn Du
nicht so viel mitbringst?"
Das Kind wars einen scheuen Blick
auf den Fremden, welcher so sonder
bare Fragen stellte, und zuckte dann
leicht mit den Achseln, als wollte es an
deute«, diese Frage beantworte sich von
selbst.
Der Fremde besann sich einen Au
genblick.
„Ich werde Dich nach Hause brin
gen," sprach er dann, „komm!"
Ein glücklicher Zufall fügte es. daß
in diesem Augenblicke eine leere Droschke
vorbeisichr; er winkte dem Kutscher, zu
halten und bedeutete das Mädchen, mit
seinem kleinen Pflegling einzusteigen.
Das Kind wußte noch nicht recht, ob
diese Aufforderung ernstlich gemeint sei.
Der Fremde sah aber so ernst und be
stimmt orein, daß sie unwillkürlich ge
horchen mußte.
Sie erhob sich mit dem eingeschlase
nen Kinde, und wie sie nun aufrecht
dastand und ungewiß aus großen dunk
len Augen auf den Fremden blickte, er
schien sie diesem älter und größer, als
die zusammengekauert?, fröstelnde Ge
stalt des am Boden hockenden Kinde?
hatte vermuthen lassen.
„Wie alt bist Du. mein Kind?"
fragte er.
„Zwölf Jahre."
„Zwölf Jahre....!" murmelte der
Herr für sich, „und da wundere sich Ei
ner über die zunehmende Verderbniß.
Das ist ihre gepriesene Musterwirth
schast. Wenn sie den Unfug riesengroß
haben anwachsen lassen, dann erheben
sie einen Lärm.... Nach der Garten
straße!" ries er dem Kutscher zu. nach
dem er dem Mädchen mit dem Kinde in
den Wagen geHolsen.
„Da soll dochgleich ein Donnerwetter
drein schlagen —!" fluchte der Drosch
kenregent ingrimmig, „bei dem Wetter
so 'ne Fuhre —!"
Der Herr nahm aber nicht die min
deste Notiz von dem kräftig geäußerten
Unwillen des Rosselenkers, forderte ihm
kaltblütig die Marke ab und stieg ein.
Die Fahrt war eine vollkommen
schweigsame. Die kleine Bettlerin ver
mochte der schaukelnden
Bewegung des Wagens nicht lange zu
widerstehen und schlies ein. Erst als
der Wagen vor einem kleinen, unan
sehnlichen Hause hielt, dessen Nummer
dem Kutscher bezeichnet worden war. er
wachte sie.
„Geh' voron", sagte der Herr, nach
dem sie ausgestiegen waren, „ich werde
Dir solgen".
Das Mädchen schien zu zaudern,
wagte aber leinen Widerspruch, und
schritt, nachdem es nicht ohne Mühe die
knarrende Hausthür geöffnet, den
finstern Hausflur entlang, über einen
ungepflasterten, lothigen Hos. eine
schmal?, winklige Stiege hinauf. Sie
traten in eine finstere Stube, das Mäd
chen legte das kleine Kind auf ein in der
Finsternis nicht erkennbares Möbel und
tappte nach dem Feuerzeug. Dert
Fremde stand in der Nähe der Thür
und harrte mit einiger Spannung der
Scene, welche sich aus der Duntelhei
entwickeln sollte.
Draußen strömte der Regen unabläs
sig und schlug knisternd gegen die Fen
sterscheiben. Das Zimmer war mit
»iner schweren, drückenden Lust ange
füllt, die fast den Athem benahm.
Durch das Geräusch des an die Fenster
schlagenden Regens hindurch konnte
man deutlich die tiefen Athemzüge eines
Schlafenden vernehmen. Das kleine
Kind war erwacht, aber es machte seine
elende Existenz nicht durch naturgemäßes
kräftiges Schreien, sondern nur durch
ein schwächliches Wimmern bemerkbar.
Es dauerte lange, ehe das Mädchen
Feuerzeug fand.
„Da haben wir'S". rief sie unmu
thig, „nicht ein einziges Schwefelholz
haben sie übrig-gelassen. Warten Sie
einen Augenblick, ich werde gleich welche
vom Kaufmann holen".
Sie ging, und da ihr der Windzug
die Thür aus der Hand riß, so fiel diese
krachend in'S Schloß, daß der Schläser
erwachte.
„Warte. Nickel! Dir soll der Teusel
aus den Kops sahren!" Das waren die
Begrüßungsworte, mit denen der Schliß
fer sich vollends ermunterte.
„Wo ist das Geld?" fuhr die rauhe,
heisere Mannsstiinme fort. „Wird's
bald?" schrie er laut und zorniger, als
keine Antwort ersolgte.und dann spranp
er aus die Füße.
Der Fremde befand sich in einer
eigenthümlichen und nicht allzu behag
lichen Situation. Indessen rief er
dem Ungeduldigen, den er auf sich zu
schreiten horte,' mit möglichster Ruhe
,u:
Sie sich nur «inen Au-
genblick, bi» Licht kommt, das Mäd
chen ist eben nach Feuerzeug gegan
gen.
Der Inhaber der finsteren Wohnung
blieb einen Augenblick betroffen stehen,
als er den Klang einer ihm ganz frem
den Stimme hörte, die noch dazu etwas
entschieden Polizeimäßiges an sich zu
haben schien. AW er sich von seiner
Ueberraschung erholt hatte, schrie er den
Fremden mit heftigem Tone an:
„Wer sind Sie? Was wollen Sil
hier? Wie können Sie sich unter
stehen "
Der Fremde war unwillkürlich eine»
Schritt zurückgetreten, da er aus einer
branntweindunstigen Luftströmung di«
bedrohliche Annäherung des Trunken
boldes gewahrte. Mit fester Stimm«
entgegnete er:
„Sie werden wohl thun, sich ruhig
zu verhalten, es möchte Sie sonst
gereuen...."
Wer weiß, ob trotz dieser Mahnung
ein unerquicklicher Zusammenstoß ver
mieden worden wäre, hätte nicht in die
sem Augenblicke das Mädchen mit an
gezündetem Lichte die Stube betreten.
Der Fremde überflog mit schnellem
Blicke seine Umgebung, und fand die
Wahrnehmungen, die er jetzt machte,
derjenigen entsprechend, welche er be
reits mit dem Organe des Geruchs in
der Finsterniß gemacht Hatte. Die
Aermlichkeit der ganzen Einrichtung
war das noch am mindestkn Abstoßende.
Eine große, zerbrochene Bettstelle bildete
den Hauptbestandtheil des Mobiliars;
ein Haufen Lumpen in einem Winkel
und ein defekter Korb schienen die La
gerstätten der beiden Kinder zu bilden.
Eine geleerte Flasche, welche am Fuß
ende des Bettes stand, deutete die Art
der Recreation an, welche der würdige
Hausherr sich zum Abendbrot gegönnt
hatte. Dieser selbst, ein langer Mensch
mit eingefallener Brust und aufgedun
senem Gesicht,»aus welchem ein paar
gläserne Augen unstät um sich blickten,
stand dicht vor dem Fremden, als das
Zimmer durch das Eintreten des Mäd
chens plötzlich erhellt wurde. Seine erste
Bewegung war, mit erhobener Hand
auf das Kind loszufahren. Der
Fremde kam ibin jedoch zuvor und hielt
ihn von der beabsichtigten Mißhandlung
zurück:
„Was wollen Sie von dem Kinde?
Es hat nichts gethan, was Strafe ver
dient —am allerwenigsten von Ihnen
—" setzte er mit unwilligem Blicke
hinzu.
„Ich frage Sie nochmals, was Sie
hier suchen? Hier ist nichts zu spio
niren!"
Der Fremde blieb ruhig.
„Wo ist Ihre Legitimation zeigen
Sie mir Ihre Medaille, wenn Sie hier
was zu suchen haben, icy kenne Sie
nicht!" fuhr er, heftiger werdend, fort
und trat drohend dem Fremden näher.
„Ich habe weder eine Legitimation,
noch eine Medaille," antwortete dieser
gleichmüthig, „das ist auch gar nicht
nothig."
„Meinen Sie, Männeken? entgegnete
oer Trunkenbold höhnisch, „na. warten
Sie, Sie scheinen noch etwas in der
Kultur zurück zu sein".
Damit wandte er sich zu einem klei
nen eisenbeschlagenen Koffer, welcher in
einer Nische der Wand am Bette stand,
kramte dort unter allerlei Lumpen und
Geräth umher und brachte endlich ein
kleines, schmutzig Büchelchen zum Vor
schein.
„Kennen Sie das hier?" rief er fra
gend, indem er dem Fremden dys son
derbare Opus auf der linken Hand
präsentirte und mit der flachen Rechten
darauf schlug, „das nennt man Straf
gesetzbuch! Verstehen Sie mich?"
Der Fremde mußte lächeln. Jener
aber blätterte einige Zeit in dem Bü
chelchen herum und rief endlich:
„Hier! Jetzt passen Sie aus: Para
graph 3461! MitGeldbuße bis zu fünf
zig Thalern oder Gefängniß bis zu
sechs Wochen wird bestraft, wer in die
Wohnung, das Geschäftszimmer oder
das befriedigte Besitzthum eines Anderen
widerrechtlich eindringt...."
„Lassen Sie es nur dabei bewenden,
ich beabsichtige nicht, wider Ihren Wil
len hier zu bleiben; ich komme, um
nicht zu sagen, als Ihr Freund, doch
jedenfalls iii freundlicher Absicht."
„Das müßte mit dem Teufel zuge
hen," brummte der Dozent des preußi
schen Strasrechts.
„Ich bin auch kein Polizeibeamter,
wie Sie anzunehmen scheinen, sondern
ein Privatmann, und ein Fremder,
den ein, vielleicht nicht allzu gerecht
fertigtes Mitleid bewog, sich dieser ar
men Kinder anzunehmen. Ich möcht«
helfen, wenn Hilfe noch möglich
i5t...."
„Das Mädchen, welches sich in einem
Winkel mit dem kleinen Kinde zu schaf
fen gemacht hatte, näherte sich schüchtern
der Gruppe der beiden Männer, und
bedeutete den Haustyrannen, daß der
fremde Herr sie und das „Ziehkind" in
einer Droschke nach Hause gefahren
habe. Die Branntwein-Nebel in dem
Gehirn des Biedermannes schienen sich
endlich so weit zu lichten, daß er begriff,
es lasse sich aus dieser Situation Vor
theil ziehen.
„Sie werden es nicht ungütig neh.
men," sprach er. von äußerster Grob
heit zu niedriger Unterwürfigkeit über
gehend. „daß ich Ihnen verkennt habe.
Wenn ich gewußt hätte, daß Sie von
der inneren Mission sind —"
„Lassen Sie das gut sein," entgeg
nete der Fremde, „ich bin ebenso wenig
von der inneren Mission als von der
Polizei. Ich habe den guten Willen,
sür das Madchen etwas zu thuu, damit
es nicht vollends der Verwahrlosung
entgegen gehe. Das Mindeste, was ich
dafür verlangen kann, ist offene Aus
kunft über ihre Aerhältnisse."
„I. von Herzen gern, mein bester
Herr Baron! Sie sollen Alles erfah
ren, was Sie nur wollen —"
„Wer sind die Eltern dieses Mäd
chens?"
..Ja. sehen Sie, bester Herr, d« liem
eben der Hase im Pfeffer! TaS weiß
so zu sagen, kein Mensch. Ich vertrete
so zu sagen, Vaterstelle an ihr, das heißt
als Vormund."
„DaS Mädchen ist also eine elternlose
Waise?"
„Nu freilich! DaS ist es za eben;
wenn ich sie nicht erhielte."
„Das heißt, das Kind muß für Sie
betteln, um Ihnen abliefern, was es
bekommt?"
Der Ehrenmann zuckte die Achseln.
„Bei den schlechten Zeiten und der
Theuerung muß man Vieles thun, was
man nicht möchte. Sie glauben nicht,
bester Herr, wie schwer es einem ehr
lichen Manne fällt, anständig durch
zukommen. jetzt, wo alle Lebensmittel
so im Preise gestiegen sind "
Der Fluß seiner Rede stockte: er sah
sich nach einem Anknüpfungspunkte zu
weiteren Auslassungen um, gewahrte
aber nichts, als die geleerte Brantwein
flasche.
„Sie sind verheirathet?" nahm der
Fremde wieder daS Wort.
„Verheirathet das heißt ja
w0h1...." lautete die etwas proplema-
Antwort.
Das Erscheinen einer weiblichen Per
son gab der Unterhaltung eine andere
Wendimg. Die eintretende Dame war
Niemand anders als die „Pickerten".
von welcher das Kind gesprochen. Sie
präsentirte sich als eine Erscheinung,
welche die Harmonie des Familienkrei
ses in keiner Weise störte. Als sie
nothdürftig über die Bedeutung des
seltsamen Besuches informirt war, er
goß sich ihr Redeschwall in ungezügel
tem Fluß, und sie wußte nicht Worte
genug zu finden, um ihre Noth und
Aufopferung für die „fremden Kinder"
zu schildern.
Ans ihrem verworrenen Gewäsch ent
nahm der Fremde ungefähr Folgendes:
Sie war mit dem „Vormund" noch
nicht kirchlich getraut, weil ihre Sache,
wie sie sich ausdrkckte, noch beim Ober
kirchcnrath liege. Denn obgleich sie
von ihrem bisherigen Ehemanne gesetz
lich.geschieden war, nachdem derselbe sie
böswillig verlassen hatte und hinterher
wegen verschiedener Verbrechen zum
Zuchthaus verurtheilt worden war, so
hatte das „Consistorium" dennoch Be
denken gehegt, ob der vom Richter ange
nommene Scheidungsgrund ein „schrift
mäßiger" wäre, und Aufgebot und
Training waren vor der Hand inhibirt
worden.
„Da müssen wir uns denn vorläufig
so behelfen," meinte die Pinckerten, „bis
der Oberkirchenrath endlich ein Einsehen
hat. Aber getraut will ich partout
sein, und wenn sie uaS auf's Aeußerste
treiben, na denn ist es ihre eigen«
Schuld, wenn wir aus der „Landes
kirche" ausscheiden, wie der Maurerpo
lier hier im Borderhause, den sie auch
hingehalten haben, bis er tückisch wurde
und auf's Stadtgericht ging, wo die
Geistlichkeit nichts drein zu reden hat!"
Ueber das Mädchen erfuhr der Fremde
nur, daß das würdige Paar das Kind
als eine Erbschaft von einer vor mehre
ren Jahren verstorbenen Verwandten
überkommen hatte, und daßdie Armen
direttion monatlich zwanzig Silbergro
schen Pflegegelder sür das zwölfjährige
Mädchen gewährte. Das kleine Kind
war dagegen ein Pflegekind einer un
verheirateten jungen Person, welche,
obgleich im lleberflusse lebend, dennoch
schon seit geraumer Zeit mit den zu
zahlenden Unterhaltungskosten im Rück
stände war, so daß man sich des „ar
men Wurms" nur aus reiner „Chri
stenpflicht" annahm.
Nachdem der Fremde alle diese De
tails vernommen, ward er mit nieder
drückendem Gesühl inne, daß er an
»m gar nicht zu bewältigendes Unter
nehmen gewagt hatte. Was konnte er
unter solchen Umständen für das Kind
thun? Das Erste wäre gewesen, sie aus
dieser Umgebung zu entfernen. Abe»
wohin mit ihr?
„Hast Du die Schule besucht? fragt
er das Mädchen.
„Ja. bis vor einem Jahre."
„Hättest Du wohl Lust, etwas Recht'
schaffenes zu lernen?"
Die Augen des Kindes glänzten,
seine Gestalt hob sich höher.
„Sprich' srei heraus was möchtest
Du wohl gern »och lernen?"
„Ich möchte Kunstreiteriu werden!"
Es sind mehrere Jahre vergangen.
In den Straßen der Hauptstadt fällt
eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit des
Verkehrs auf, welche auf einen beson
deren Anlaß schließen läßt, der, abge
sehen von dem schönen Herbsttage, die
Menge nach dem Thiergarten lockt.
Denn dorthin mündet der zunehmende
Strom von Equipagen, Reitern und
Fußgängern, um sich nach den verschie
denen Richtungen hin zu zerstreuen, von
denen her rauschende Musik entgegen-
klingt.
Beim Ausgange aus den verschiede
nen Portalen des Brandenburger Tho
res treffen zwei Herren dicht zusammen.
Der Eine von ihnen ist der uns aus
dem vorigen Capitel bekannte Fremde.
Er hat sich wenig verändert. Sein
Gesicht hat den nämlichen Ausdruck
ruhigen Wohlwollens wie srüher, aber
der ernste Zug um Mund und Auge
fordert zu keiner Annäherung auf.
Der zweite Herr ist erheblich jünger an
Jahren, der äußeren Erscheinung nach
einer der jungen Elegants groß'ftädti
scher Lebenskreise, die kein besondere«'
Signalement haben.
„WaS Tausend! Sie hier in Ber
lin. und kein Mensch erfährt etwas da
von? «sie haben sich entschlossen, Ihre
pkwrn» ru?» jetzt, in der Erntezeit zu
verlassen, um hier wohlthätige Zwecke
fördern zu helfen? Das nenn' ich
Aufopferung!"
„Sie erweisen mir zu viel Ehr«, lie
her Baron." erwidert der ältere der
beiden Herren, „erstens ist die Ernte
vorüber, was Sie natürlich als ehema
liger landwirthschastlicher Akademiker
nicht zu wissen brauchen, zweitens habe
tch Geschäfte, und Ihres neumodischen.
humanen Concert-Beitels wegen werden
Sie mir im Ernste keu.'e Reise nach Ber
lin zutrauen."
„Hab' ich'S Ihnen nicht>drophezeit,"
lachte sein Begleiter, indem' Beide ihren
Weg gemeinschastlich fortsetzt, „daß
Sie früher odcr später vou Ihren phi
lantropischen Schwärmereien zmiickkom
men? Ja, ja! eS geht nichts über eon
irete Anschauungen, das curirt von
manchen Utopieen —"
„Was wissen Sie davon ?" ver
setzte der Andere, „Sie haben sür
das Studium concreter Zustände viel
zu viel Nervosität! Sie sind nicht im
Stande, zwei Stunden in einer Kossä
tenstube, in einem Spital, oder nur in
einer Proletarierbehansung Ihrer stol
zen Hauptstadt auszuhalten —"
„Sie vergessen, mein gestrenger Herr,
daß ich ein ganzes Jahr lang
rathsamts-Verweser war."
„Richtig! Beinahe Hütte ich'S vergessen,
sreilich, freilich! Und dieser undank
bare Staat, der Ihre Verdienste nicht
zu würdigen wußte !"
„Spotten Sie nur! Sie wissen recht
gut, daß ich nicht gerade meiner tadelns
werthen Eigenschaften halber übel ange
sehen wurde. Ich danke meinem Schöp
fer. daß ich aus dieser vermaledeiten
Tretmühle heraus bin. Die innere
Hohlheit unseres ganzen Adelthums
zeigt sich namentlich in dem Eiser, mit
dem unsere StandeSgenossen sich zu
„Bediensteten" machen lassen. Sie
wissen, daß ich mich den politischen
Streitfragen gegenüber ziemlich indiffe
rent verhalte, aber mindestens muß es
überall „Avntlsm»nliks" hergelien,
sonst stelle man lieber gleich Lohnbe
dientc an, nicht Männer von Erziehung
und Selbstachtung...
„Und welches sind denn gegenwärtig
Ihre Pläne sür die Zukunft?"
Der junge Mann säuberte sein Au
genglas an dem seinen Battisttaschen
tuche, blickte sorschend in die Gruppen
der Lustwandelnden und wandte sich
dann wieder, nachdem er vergeblich
gesucht zu haben schien, zu seinem Be
gleiter.
Das ist eine ganze Litanei, und ich
weiß kaum, was ich sagen soll. Ver
waltungsbeamter mag ich nicht bleiben,
man würde mir auf die eine oder an
dere Weise die Sache zu verleiden wis
sen. Meine Familie wünscht, daß ich
in die diplomatische Carriere eintrete.
Wird sehr amüsant werden, als zweiter
oder dritter Attache bei der Legation
eines der kleinen Raubstaaten zu figu
riren, dick, alt und häßlich zu werden
vor Langeweile, und so seine Mission
als sittliches Individuum im Dienst'
dea höchsten Staatszwecke "
Unser Diplomat wurde in seiner Her
zensergießung durch eine ihm ganz un
erklärliche Wendung seines Begleiters
unterbrochen. Dieser wandte sich näm
lich unmittelbar nach der Stelle eines
Kreuzweges, an der ein nicht sehr ein
ladend aussehender langer, hagerer
Mann einen fliegenden Cigarrenkram
hielt, dessen Vorräthe er in einem um
den Hals gehängten Kasten den Vor
übergehenden feil bot, während er in der
Rechten ein glimmendes Tau-Ende zum
Anzünden präsentirte. Was dieser
lockende Anblick und Duft nicht ver
mochte. mußte der heisere Ruf ersetzen:
„Cigarro! Cigarro, meine Herren, mit
„Barmherziger!" rief der angehende
Diplomat mit ungeheucheltem Entsetzen,
indem er den Vorwärtsschre tenden zu
rückhielt. „Sie werden doch nicht im
Ernste —?"
„Und was wäre dabei so Entsetz
liches?" fragte dieser ernsthaft.
„Wie? Der Gedanke,' eines dieser
scheußlichen Fabrikate in den Mund zu
nehmen, flößt Ihnen nicht Grauen ein?
Ich bitte Sie. hier —" suhr er fort,
indem er ein zierliches Eigarren - Etu>
hervorlangte.
„Beruhigen Sie sich, es war nicht
aus die Cigarren abgesehen, sondern
nur auf den Mann. Ich glaube, einen
alten Bekannten in ihm zu erkennen."
Damit trat er. unbekümmert um das
Erstaunen seines Gefährten, auf den
fliegenden Cigarrenhändler zu, der
nicht sobald die Annäherung eines ver
meintlichen und noch dazu vornehmen
Kunden gewahrte, als er dienstbeflissen
in seinem Vorrathe zu wühlen begann
und die Vorzüge seines Krauts mit
einem neuen Schwall lobpreisender Re
densarten ausschrie.
De« also Bedrohte nahm aber von
diesen Manövern nicht die mindeste No
tiz, sonder» richtete den prüfenden Blick
fest auf den heiseren Cigarrenkrämer,
und, die dargebotenen Glimmstengel
kurz abweisend, sragte er:
„Kennen Sie mich?"
Der Angeredete, dieser Diversion
nicht gewärtig, nahm den Fragenden
näher in Augenschein, verfärbte sich ein
wenig, faßte sich aber bald, und einen
Ton dreister Vertraulichkeit anschlagend,
erwiderte er:
„I, sehen Sie mal. auch mal wieder
in Berlin? Wo werde tch Ihnen denn
nicht kennen? So einen vornehmen und
spendablen Mann —"
Der Gepriesene schien wenig von
diese» Lobeserhebungen erbaut, und
weitere Ergießungen ähnlicher Art kurz
abschneidend, fuhr er fort:
„Ihr seid eine saubere Gesellschaft,
Sie sammt Ihrer „Pinckerten". Ich
konnte meine guten Absichten nicht
schlimmer in's Werk setzen, als indem
ich Euch zu deren Vollstreckern machte.
Ich kann inir denken, welchen Weg die
mir abgenöthigten Unterstützungen ge
nommen habe», und was davem zur
Erziehung und Ausbildung des Kindes
verwsndei worden ist. Was ist denn
aus dem Mädchen geworden? DaS we
nigstens werde ich doch von Euch erfah
re» können. ES wird schwerlich viel
Gutes zu berichten sein."
Der Ehemann der „Pinckerten" hatte
mit dem ihm eigenen scharfen Instinkt
bald eingesehen, daß sich aus dieser
Situation schwerlich noch irgend ein
Vortheil ziehen lasse. Denn es war
nur zu begründet, daß er und
seine würdige Gefährtin die reichlich
gespendeten Unterstützungen de« fr^a
de» Wohlthäters fast gänzlich skr sich
verwendet hatten, ohne sich im Ent
ferntesten an die Absichten desselben zu
lehren. Damit ihre ergiebige Quelle
nicht zu früh versiege, wurde der
Fremde durch ein System von Lügen
und Täuschungen in dem Glauben
erhalten, daß des Mädchen sich in jeder
Beziehung auf das Vortheilhaftist«
entwickle, und während dasselbe wenig
mehr als seinen Namen schreiben
tonnte, gingen in regelmäßigen Zwi
schenräumen lange und wohlstilisirt«
Danksagungsschreiben des Schützlings
an den theuren Wohlthäter ab.
Endlich wurden diesem die Angen
geöffnet, als er sich nach etlichen Jahren
bei Gelegenheit seiner persönlichen An
wesenheit von der Sachlage selbst über
zeugen wollte, aber weder die Pflege
eltern noch das Mädchen ' ausfindig
machen tonnte, anderweit jedoch
ermittelte, daß er in srechster Weise
hintergangen worden sei.
Der Cigarrenhändler, der. wie ge
sagt, erkannt hatte, daß hier nichts
mehr zu gewinnen sei, dispensirte sich
von dem Zwange jeder unfruchtbaren
Höflichkeit, und erwiderte grob:
„Lieber Mann, Sie jammern mir,
wissen Sie das? Wir hätten Ihnen zu
Gefallen den „Balg" wohl unter eine
Glasglocke stellen sollen, oder in eine
Schachtel mit Watte legen? Härten Sie
sich doch Ihre Zuckerpuppe mit nach
Ihr verwunschenes Schloß genommen,
wenn sie Ihnen bei reputirliche Leute
nicht gut genug aufgehoben war! Daß
uns der „Nickel" weggelaufen ist, wer
den Sie wohl lange wissen, und wenn
Sie sich auch noch so heilig anstellen, so
wissen wir doch, was mit der Sache IoS
ist. Wir'sind nicht von gestern—"
Der junge Baron hatte diesem, für
ihn ganz unverständlichen Zwiege
spräche mit Befremden und immer
wachsenden Mißbehagen zugehöH. Sein
älterer Begleiter wollte auf
, Reden des Cigarrenhändlers eben voll
Unwillen antworten, als ihn ein noch
maliger Blick auf die in den Gesichts
zügen und der ganzen Haltung seines
Gegners ausgeprägte vollendete Ge
meinheit noch zur rechten Zeit davon
abhielt, etwas jedenfalls Thörichtes zu
thun. Er begnügte sich daher, ihn mit
einem Mick stolzer Verachtung zu mes
sen, der jede minder verthierte Natur
verletzt oder doch gereizt haben würde,
in diesem Falle aber nur ein Hohnge
lächter hervorrief.
Eben wendeten sich die beiden
Freunde zum Weitergehen, als eine
vorbeifahrende glänzende Equipage mit
einem prächtigen Jsabellen-Gespann in
theatralischem Aufputz ihre Aufmerk
samkeit sowie die des Publikums fes
selte. Im Fond der offenen Victoria-
Chaise hatten zwei Tinnen Platz ge
nommen ; die eine jung, von auffallender
Schönheit, die andere wohl doppelt so
alt, als ihre Gefährtin, und von einer
grotesken Gesichtsbildung, die häßlich
und komisch zugleich war. Beide lagen
in weitbauschigen Roben nachlässig hin
geMssen im Wagen, die Füße gegen
den Rücksitz gestemmt und schienen
vollständig unbekümmert darum, daß
sie «n Gegenstand der allgemeinen,
wenn auch nicht der zartesten Ausmerk
samkeit waren. Der ältere unserer
beiden Bekannten wendete diesem Schau
spiel eine nur geringe Aufmerksamkeit
zu, sein seines Gefühl suchte vergeblich
der Verstimmung Herr zu werden,
welche die eben stattgehabte Begegnung
in ihm erweckt hatte.
Sein jüngerer Begleiter aber wurde
durch das Erscheinen der beiden Damen
leohaft erregt, er wechselte mit der jün
geren der Beiden BliÄe des Einver
ständnisses, Gruß und Gegengruß wur
den herüber und hinüber getauscht und
den Arm des älteren Freundes sasseud,
rief er diesem hastig zu:
„Kommen Sie, Sie müssen das rei
zende Geschöpf genauer betrachten, Sie
werden nach der Diana des Louvre
nichts Schöneres in diesem Genre fin
den."
Widerstrebend schickte sich der Fremde
an, der Aufforderung zu folgen, als er
oen Cigarrenhänvler seiner Seite
gewahrte, welcher, wiederum einen „ge
müthlichen" Ton anschlagend, ihm in's
Ohr zischelte:
„Na, das war ja Ihr „Schutzengel"
ist die nicht propper herausgemu
stert? Was geben Sie, wenn ich Jh
nen sage, wo sie zu finden ist?"
Sein Bemühen hatte indessen nicht
den gewünschten Erfolg, denn der A--
geredete, würdigte ihn keines Blickes,
auch keiner Antwort, und um den wi»
derwörtigen Gesellen IoS zu werden,
und sich, wenn möglich zu überzeug«,
ob der Strolch die Wahrheit gesprochen,
ließ er sich willig von dem eisrig vtir
wärts drängenden jüngeren Freunde
nach der Richtung dirigtren, in w«l.
cher sich die Equipage langsam vor
wärts bewegte.
ES fehlte nicht an zahlreichen Be.
segnenden zu Pferde, Officieren, jun
gen Cavalieren, und den mancherlei
Exemplaren blafirter Elegants, welche
jederzeit ein k»ikl« dafür haben, sich
auf's hohe Pferd zn setzen, wäre das
selbe auch nur ein MiethSgaul nieder
sten Ranges. Die Mehrzahl derselben
wechselte mit den beiden Insassen d«S
Wagens Grüße, welche den Charakter
einer ausgeprägten Familiarität an
sich trugen.
(Fortsetzung folgt.)
Homöopathische Kur.
Ein Arbeitsmann war durch den Ge
nuß von einem Quart Branntweiit
schwer betrunken geworden. Der Ho
möopath kam, tauchte eine Nadelspitze
in gleichen Branntwein, berührte damit
die Zunge des Betrunkene« und nach
zehn Stunden erwachte dieser wieder
nüchtern.
Ein Ersatz. Richter: „ES
ist doch merkwürdig, daß Ihr Bauern
Euch alle Sonntage prüaeln'müßt."
Bauer: „Ja, Euer Gnaden, a Theater
haben m'r halt net!"
Sin« Theaterseen«.
Der Erlaß der Kaiserlich russische,
Theake»i>irektion,in Petersburg/welche,
dem Publikum das Zischen in den Kai
serlichen Theatern untersagt, erinnert
einen Mitarbeiter des „B. B. E." a«
eine Scene, di« sich anfangs der achtzi
ger Jahre im „Alexandra-Theater" in
der Newa - St«M zutrug. Es würd«
ein rassisches Schauspiel, ein ganz
schauderhaft roh»? Stück gegeben. Di«
große Mehrzahl der Darsteller hatte be
trunken auf der Bühne zu erscheinen
und bemühte sich, das nationale Laster
in den grellsten Farben zur Anschauung
zu bringen. Es war geradezu wider
lich anzusehen —aber der süße Pöbel aus
dem Olymp schwelgte m diesem Kunst
genuß und klatschte, als der Borhang
nach dem ersten Akte wie wild Bei
fall. Im zweiten Akte wimmelte di«
Scene wieder von Betrunkenen. Aber
min schämte sich das bessere Publikum
im Parkett und in den Logen der skan
dalösen Vorgänge und begann zu
zischen. Namentlich besorgte das ein
Slkrrr Herr, der einen Eckplatz amZwr
schengange innehatte. Dicht vor ihm
war aber der Platz des wachthabende?
PolizeiofsicierS, der auch von diesem
besetzt war.
Der Ossicier wandte sich wiederholt
um und warf dem zischenden Herrn
drohende Blicke zu. die diesen aber nicht
im Geringsten zu beeinflußen schienen.
Als der Vorhang zum zweiten Mal
fiel, erhob sich der Ossicier und trat
auf den Herrn zn. „Was fällt Ihnen
ein." sagte er barsch, „hier solch' Aer
gerniß zn verursachen! Ich werde Si«
nach dem Udschastok (Polizeiwache)
bringen, wenn Sie sich nicht ruhig ver
halten!" „Aergerniß?" sagte der Herr,
einechter Russe, „wollen Me mir wohl
sagen, wen ich geärgert habe?" „Nun,"
erwiderte der Ossicier etwas besannen,
„das Publikum! Haben Sie denn
nicht gehört, daß Alle geklatscht haben,
während Sie für nöthig hielten, zu
zischen?" „Ja. bei Gott, das ist wahr."
sagte der Herr in größter Ruhe, und
drehte sich »ach dem Olymp um, „die
haben dort Alle geklatscht und ich hab«
gezischt. Aber sagen Sie mir, hat sich
denn Einer beschwert? Ich habe ja
gar nichts gesehen?" „Lassen Sie alle
unnützen Redensarten und verhalten
Sie sich während des Stückes still. Ich
wiederhole Ihnen, ich führe Sie sonst
nach' dem Udschastok!" „Ich werde
mich bemühen," sagte der Herr ver
bindlich.
Inzwischen hatte sich um die Beiden
aber eine stattliche Korona gebildet,
und im Nu verbreitete sich daS Ver
bot des OsficierS durch das ganz«
Theater. Der dritte Akt begann.
Aber kaum erschien der erste Betrun
kene, so erhob sich ein gewaltiges Zi
schen vom Parket bis zum höchsten
Platz des Olymps. Nur der zur Rede
gestellte Herr klatschte, daß seinem
Vordermann die Ohren dröhnen moch
ten. So ging es de» ganzen Akt
durch. Der Ossicier saß mit hoch
rothem Kopse starr auf seinem Platze.
Kaum senkte sich der Vorhang, so
erhob er sich nnd wollte schnell hin
ausgehen. Aber auch der Herr war
aufgestanden und rief mit lauter
Stimme: „Sie. Herr Pristaw, ich be
schwere mich! Das Publikum hat ge
zischt! Wollen Sie die Güte haben, es
nach dem Udschastok zu führen!" Der
Officier that, als hörte er nichts und
verließ »nter schallendem Gelächter den
Saal. Nur mit Mühe konnte das
Stück zu Ende geführt werden.
Glü<r und Unglü».
Unser Unglück nnd das Glück der
Anderen halten wir stets für echt.
Der Dumme hat das Glück, und
der Unglückliche hat die Klugheit.
DaS Glück erringen kann auch
die Dummheit, doch es festzuhalten,
dazu gehört Vernunft.
Manche Menschen wären sonst
ganz glücklich, wenn sie nur das Glück
ihrer Mitmenschen nicht geniren würde.
Oft sucht man das Glikk noch,
nachdem man es gesunden.
Man grollt auch dem «einsten
Unglück und ist auch dem größten
Glücke nicht dankbar.
Während sie mit ihrem Glück«
spirlen, verlieren die meisten Menschen
ihre schönste Zeit und ihre best«
Kraft.
Manche glauben Nur deshalb an
Gott, weil sie glücklich sind.
Wer fremdes Glück mitfühlen
kann, entbehrt leichter das eigene.
Der wahre Pessimist freut sich
jedes Unglückes, das ihn trifft.
Der Unedle fürchtet das Unglück,
der Edle das „Glück".
Wer den Schein des Glücks nicht
für das Glück selbst zu nehmen versteht,
der stellt zu hoheDnsprüche an'S mensch
liche Glück.
Alles darf man vom irdischen
Glücke fordern, nur Treue nicht un»
Gerechtigkeit.
Man bemerkt oft daS eigene
Glück nicht, weil man zu viel auf jenes
der Anderen sieht.
Das Glück berauscht Dich, im
Unglück bleibst Du nüchtern.
Glück ist oft nur die Sekunde,
welche zwischen zwei Unglücksfallen
liegt.
Wie glücklich der Arme, der sich
reich fühlt; wie unglücklich der Reiche,
de? sich arm dünkt.
Ob Dich nun das Glück ruhelos
verfolgt, ?der ob es mit feiner Gunst
geizt, gerecht versteht eS doch niemals zu
sein.
Das Glück macht uns feige dem
Leben gegenüber, das Unglück zu Hel
den des Schicksals.
Das kleinste vierfüßig«
Thier in der Welt ist die Zwergmauz
in Sibirien. 3