Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, March 25, 1892, Page 3, Image 3

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    Dir Kltinrn Wtrr.
Ueber den blühenden Liixembourg-
Garten hinweg verkündete die Senats
uhr mit cigenartigem Silberklang die
Feierstunde, und gleich daraus bestätigt
auch die ual>e Kirche von Saint-Jacques
in ihrer brummige» Weise mit sieben
bedächtige» Schläge» das viclersehnte
<sreigniß. Die schwere» Flügelthüren
der Druckerei von Testn ck Maisin thun
sich zögernd aus. wie neidisch auf die
goldene Freiheit der Arbeiter nnd Ar
beiterinnen, die in hellen Schaarcn wie
eins eine»! Ausfallsthor hervorbrechen,
«ls gälte es eine andere, außerhalb
ihrer Mauern belegene Bastille zu stür
men. Sie achten nicht auf den Oran
geiiduft ans den gegenül erliegenden
Treibhäuser» und Gärten ; das äthe
rische Oel der Zwiebel, lieblich aufduf
teiH aus d<m vielgeliebten Hammel
ragout. würde auf ihre Nasen einen
ganz auderen Zauber ausüben, ja,
einige der letzteren scheinen es sogar,
dank irgend einem spiritistischen Wun
der. au» der Ferne zu wittern, in so
beschleunigter Gangart eilen sie ihren
glücklichen Besitzern voran.
Schnell vertäust sich die buntcSchaar
Den breiten Boulevard Saint - Michcl
und die!>!ue Denser - Rocheran hinab
bis in die Vorstadt von Moutrouge.
alt und jung, bestieselt 'nnd bepantof
felt, in Gruppen oder zu zweien, fast
«lle eifrig schwatzend und gestikulirend.
Zwei junge Leute in blauem Drillich-
Anzüge mit schwa:zer Seidcnmutze, die
Hände in den mächtigen Taschen der
bauschigen Hose, welche in ihrer Uu?
förmlichlcit an eine aus den Kopf ge
stellte Criuoline erinnert, sondern sich
von ihren Mitarbeitern ab und bleiben
«inen Augenblick vor dem Wein-,
Schnaps- nnd Tabakladen stehen, der
von seinen« Besitzer mit weiser Berect
uuug an der Ecke dervorgennnnten bei
den Straßen eröffnet worden ist nnd
so spitz zulauft wie ein Schiffsschnabel.
Emil, sagte der achtzehnjährige Au
gust zu seinem etwa drei Jahre jüiigeui
Bruder, hole Schwesterchen aus der
breche ab, indessen ich das Diner zube
reiten werde.
Der Angeredete, dessen Züge sich von
denen dcü Bruders dnrch den Ausdruck
größerer Pfiffigkeit unterschied, aber
gleichwohl angenehm berührten, nickt
mit dem Kopf.
l>ropos, ruft August dem in das
Tabatbureau Tretende» »ach, sprich
doch auch bei der Wäscherin vor nnd
frage sie, wann wir Elisens Schürzen
bekommen können!
Emil nickt abermals, kaust sich für
zwei Sous Tabak sowie Cigaretteu
papier nnd widersteht der Versnchnng
seiner Kameraden, die an dem
den Zinlcomptoir Absyuth trinken, um
dieEßlustzu vermehren, nnd geht dann
bis hinter das Pantheon, wohin die
beiden kleinen Väter ihr Kind, wie so
manche andere Arbeiterfamilie, jeden
Morgen zn geleilen Pflegen, nachdem sie
ihm ein Stück Brot uiid einige Sous
ins Körbchen gelegt haben. Dort wird
«s von wohlthätigen Damen verpfleg!
und überwacht, dort kann es spielen
und spielend das A, B, C erlernen.
Inzwischen war August die enge
Rne de l'Abbe-de-lEppee an der Taub
stummenanstalt vorbei hinabgeschrittcu
und in die noch engere Rue Saint-
JacqueS ciugcbogen, welche dereinst die
Hauptverkehrsader des lateinischen Vier
tels gewesen war, aber wie alle Herr
lickMten aus Erden in Trümmer sinkt,
immerhin aber noch lange Strecken auf
weist, wo Dürftigkeir oder Elend eine
Heimstätte finden können. Schmale,
meist mir vierswckige Häuser, grau voi
Schmutz und Alter, vorspringend oder
lichtscheu zurücktretend, wie eine schlecht
ausgerüstete Front von Hellebardieren,
welche statt ihrer mittelalterlichen Waffe
in weite» Abständen eiserne Gasständer
gegen den Leib gedrückt halten.
Bunt genng ausstaffirt sind die übri
gens, wenigstens bis hinaus zum erste»
Stock, über dessen Fenster der Farben
kops des HäusermalerS nicht empor
steigt. Grün nmrahmt ist der kleine
Poiamcutirladen, blutroth tivil <!»
tioonk der vergitterte Schlächlerla
den, nnd so hat jedes Geschäft ganz
nach dem Muster der Staaten nnd der
Jockeys, seine Farben, die es ebenso
kennzeichnen, wie der Straßenruf und
seine Leitmotiv den fliegenden Händ
ler. Grelle Farben, grelles Geschrei,
das Gerassel schiversälliger Fuhrwerle,
ein reges Hin und Wieder einer Bevöl
kerung von Arbeitern und Handwer
kern, dir Schmutz dxr Abfülle und de,
Kohlenstaub, der widrige Anblick zahl
loser Schnapslüden nnd verräucherter
Gashuiscr alle diese Eindrücke
Ärang.u iu wildem DuMieinaiider ans
den Besucher ein, der zum ersten Mal
aus dem schmaleil Bürgersteig oder aus
dem holperigen Pflaster zwischen de»
hohe», de» geringsten Schall unbarm
herzig zurückwerfende» Häuscrwäiideu
die von den französischen Romanziers
einst vielbesungene Straße des heiligen
Jakob liinab- oder hinaufsteigt.
Angnst sreilich war dagegen abge
stumpft, auch mochte ihm wohl ein lieb
licheres Bild, ein lauschigerer Erden
uud Hauswiiikel vor Auge» stehe» und
alle feine Gedanken in Anspruch neh
men. Gelehrte Astronomen und Ka
lcndcrinachcr haben die kühne Behaup
tung ausgestellt, daß die Tage im Mo
nat luui sehr laug seien. Aber i»
der Rue Saint-Jaqucs zuckte man über
diese grauen Theoretiker die Achsel, und
grau uud dämmerig war es bereits,
zumal in den Tiescii der klaffenden
Häuserspalten, als unser Wanderer,
trästig ausschreitend, sein fünfstöckiges,
vier Fenster breites Tuseulum erreichte.
Gleich darauf tauchte er in die finstere
Nacht des endlos langen, schmalen
Hausflurs, a» dessen Ende eine steile,
gewundene Treppe bis zu seiner Woh
nung emporsührte.
Durch di -beiden großen Dachfenster
blickte die Sonne noch vollängig hinein,
das große Zimmer entstanden zu
einer Zeit, wo der Raum noch weniger
theuer eingeschätzt wurde sreundlict
erhellend. Es enthielt nebst dem an
stoßenden, kaminlosen Cabinet die be
scheidenen Möbel, welche die beiden
Brüder uud das Schwesterchen von der
vor fünf Monaten im Hospital verstor
benen Mutter ererbt hatten. Das große
Mahagonibett, in dem jetzt August und
Emil schliefen, der übliche Mahagoni
schrank, aber ohne Spiegelthür, als
dann einige Tische, Stühle, zwei oder
drei Bilder, das kleine Bett Elisens
nebenan das war so ziemlich Alles,
was die kleine, arbeitsame Geschwister
samilie außer vier kräftigen Armen
und zwei gesunden Köpfen ihr eigen
nennen durfte. Das Letzte war freilich
auch das Beste uud wuchs recht eigent
lich an Werth, während das Andere
sichtlich alterte »nd hinfällig wurde,
auch wohl niemals sehr fest aus deu ei
genen Füßen und auf den rothen
Steinfliesen des Gemaches gestanden
hatte.
Die LieblingSmclodie des Tages pfei
fend eine Beschäftigung, welche die
kostspieligere des Eigarektenrauchens
überflüssig machte war August ein
getreten. Zuerst stellte er einen Liter
Wein und die bereits gekochte» grünen
Bohnen, die er »»lerwegS in der
Fruiterie gekauft hatte, auf den run
de». mit einer sauberen, weißen Wachs
leiuwcind überzogenen Tisch in der Mitte
des Zimmers: daneben legte er ein gro
ßes Brot, ein kleines Hammelrippchcn
sür Elise und kalten Ausschnitt für sich
und Emil. Der kleine Kochofen im
Kamin bedurfte nur weniger Holzkoh
len, die sich schnell entzündeten, wäh
rend nn'er Koch mit dem Tischmesser
große Schnuten vom Brode abtrennte
und sie in die Suppenschüssel warf, nin
darauf beim Schlächter nebenan sür
sechs Sous heiße Bouillon ansfüllen zu
lassen. Als er wieder eintrat, fand er
seine kleine Familie bereits versammelt
und die aus ihn zueilende Else zupfte
ihn mit so begehrlichem Ungestüm am
Arm, daß sich der dampfende Inhalt
fast auf de» Blondkopf entleert hatte.
Achtgegeben! Bouillon ist's! siehst
du—? rief das Faniilienobcrhaiipt und
hielt ihr die Suppe unter die Nase, in
dem er sie gleichzeitig auf die Stirn
küßte. So—bist dn nun zufrieden? —
na, dann laß mich, sonst gibts nichts zu
essen! Aber Schwesterchen will wohl
nachher essen, aber keineswegs vorher
still sein, packt bald das rechte Bein
Augusts, der Butter in die Kasserolle
that, u»'. die Bohnen zu kochen, bald
das linke Emils, welcher den Salat
wäscht und die Väterchen sehen sich
dann verstohlen und schmunzelnd än,
stolz wie ein junges Ehepaar auf feinen
Sprößling.
Es währt nicht lange und die Mahl
zeit ist bereitet. Emil hal die Kleine
schon ans ihren großen Stuhl gesetzt
zwischen den beiden andern.
Dn hast ihr ja die Schürze noch nicht
vorgebunden! rust Angust.
Schnell die Aermchen her! sagt Emil,
die blaue Schürze in der Hand. Aber
Kleinchen wehrt sich, wie sich ein an
gehendes Trotzköpfchen wehrt, und will
die rotl>e haben, welche der Brnder in
seinem Päckchen von der Wäscherin mit
gebracht hat.
Nein, nein—die rothe Schürze bleib!
für den Sonntag.
Elise schmollt, strampelt mit de»
Beinchm.
Gib sie ihr doch, meint Angnst. dir
Suppe wird sonst kalt.
Emil zögert, Elise weint, daß die
Thränen wie große Tautropfen an der
rosigen Wange hängen bleiben, ihre
Thränen siegen und sie lacht vor Frende
über die rothe Schürze, die ihr Anglist
vorgebunden hat.
Schnell iß deine Suppe, bevor sie
kalt wird!
Emil liebte seine kleine Schwester
nicht minder als sein älterer Bruder,
und seinem Alter entsprechend verstand
er sogar viel lustiger mit ihr zu spielen
uud ihr kindliches Vertrauen zu wecken
als der andere, aber als der gewecktere
vo» beide» empfand er instinctiv, daß
es nicht gnt sei, ihr in allem nachzuge
ben. 'Andererseits sah er i» Angnst,
dessen Selbstlosigkeit »nd Opfcrwillc
ihm eine geheime Bewiindernng ein
flößlcn. zumal so kurz nach dem Tode
der Mutter, beinahe seinen Vorgesetz
ten. Er war zwar früh reis, wie die
Elise inil ihren auffallend ausgeprägte»
Zügen leider auch, aber von dem Finnin
lls l'ari!, hatte er fast nur die guten
Seile» und vo» den schlechte» höchstens
nur einen leisen Anflug von Blasirt
heit. Er besaß ein sehr entwickeltes
Ehrgefühl und liebte den Mann zn
spielen, worin er durch seine selbstän
dige Stellung und die gutmüthige
Schwäche des Bruders verstärkt wurde.
Gern brüstete er sich seinen Kameraden
gegenüber mit Redensarten wie: „Ich
habe meine Miethe zu bezahlen", wobei
er das „meine" entsprechend betonte,
oder: „Ich habe meine Schwester z» er
ziehen." Das Nebe „Ich" wurde stets
in die richtige Beleuchtung gerückt, aber
es war wirklich ei» liebes, ei» herzens
gutes „ich", das die brüderliche Liebe
mit gleicher Innigkeit erwiderte, und
zwar seit zartester Jugend.
Die Mahlzeit machte den beiden
Kochen Ehre, denn ein dritter, der
sprichwörtlich beste, war in ihrem
Bunde, und das während derselben herr
schende, kaum unterbrochene Schweigen
war wie eine Huldigung der Arbeil, die
sich Muße »nd Stärkung ehrlich ver
dient hat. Nur von Zeit zn Zeit häm
merten Elisens Absätze behaglich gegen
die Stuhlbeine, bis dann endlich, als
das in den Cognac getauchte Stückchen
Zucker, der Eanard. verzehrt war und
Emils Eigarette vor dein Cafe aus
slauiuite, die Kindcs»»ged»ld wieder
völlig zum Durchbruch toiiimcn durfte.
Das gab ein Tnmmcln im Zimmer,
ei» Gekicher nnd Geschwätz über die
kleinen Zwischenfälle im Afyl, über die
in ihrem Bericht bunt durcheinander ge-
würfelten Gespielinnen, Puppen und
Aufsichtsdamen, daß es selbst August
beim Lesen des Petit Journal fast zu
viel wurde. Dann nahm sie plötzlich
die Zeitung in die Hand, in welche der
kalte Aufschnitt eingewickelt gewesen
war, warf sich in den Stuhl zurück wie
Emil, nahm eine ernste Mie»e an wie
August »nd hielt das Blatt dicht vor
die kleine Stumpfnase.
„Was machst D» denn?" sragte
Emil schmunzelnd, indem er seinem
Bruder mit dem Fuh einen Wink gibt.
„Laß mich zufrieden", ruft der Pa
pagei. ohne die Augen aufzuschlagen.
„Kannst Du mich nicht ruhig die Zei
tung lesen lassen!"
Beide Brüder brachen in ein herzli
ches Gelächter aus. wofür sie durch
eine» mißbilligenden Blick gestraft wer
den, und bringen die Sträubende und
Schmollende endlich zu Bett. Aber
damit ist der Sieg noch nicht errungen,
das Geplapper und Gekicher beginnt
von neuem und August muß sie im
Hcmdchen wieder ins Hauptzimmer
tragen, damit sie ihren Liebling noch
einmal küssen und ihm heimlich die
Cigarette entreißen kann, die er wie
eine Feder über dem Ohr trägt.
Warte, du
leuc und verfolgt die kleine, hurtige
Diebin bis an ihr Bett. Aber diese
Jagd hat sie munterer denn je gemacht,
und nu» muß sich Emil an ihr Bett
setzen und Geschichten erzählen, während
August das Eßgeschirr am Kamin
wäscht.
Träume mir aber nicht davon, rief
dieser, damit ich nicht wieder dreimal
aufzustehen brauche, wie gestern Nacht!
Aber wer nicht hört, ist Elise, oder
vielmehr sie hört nur zu gut. aber aus
Emils Geschichte.
Ich hatte gestern, als dn einschliefst,
gerade die Geschichte von Blanchettc und
den sieben Zwergen begonnen....
Nein, nicht Blanchette Elise!
Richtig! Da hast du Listige ja Ko
mödie gespielt und spiouirt. gleich
viel! Also Elise und die sieben Zwerge!
Der älteste von ihnen hieß August....
Und der zweite Emil? rief die Kleine
fröhlich.
Natürlich! Und wenn sie zur Arbeit
gingen
In die Druckerei?
Jawohl. tief unten in der Erde-
Da, wo Mama ist? unterbrach sie
ihn mit harmlos fragendem Blick.
Ein Schatten glitt über fein Gesicht.
Nein, nicht so tief, Elise, aber wo
es auch pocht und hämmert nnd schnurrt:
alle Walzen sind da von Gold, die Ty
pen—lauter Diamanten. Der Lohn
wird aber doch nur iu sous ausgezahlt,
setzte er. halb sür sich sprechend, ironisch
hinzu.
Und Elise? sragte die Kleine unge
duldig.
Die ließen die Brüder, ich meine die
sieben Zwerge, daheim.
Ganz allein? Da mußte sie sich ja
zu Tode langweilen. Warum brachte»
sie die siebe» Zwerge denn nicht in'S
Asyl?
Weil sie schon viel größer und ver
nünftiger war als du!
Sie spielte uicht mit den Streichhöl
zern?
Emil lüclMc.
Im Gegentheil, sie machte damit
Feuer an. um den kleinen Zwergen ihr
Süpplcin zn kochen, wie du es machen
wirst, wenn dn erst groß bist!
Wie klein waren denn die Zwerge?
Nun, so wie du!
'l'u rief Elise, ei» Pariser
Argot wiederholend, das sie von ihre»
Brüdern oft vernahm.
Von der Kirche von St. Jaques herab
tönten zehn Schlage, schwer und schlum
mertrnnkeu.
Horch! rief Emil, die Thilrmuhr hat
Mitternacht geschlagen!
Mitternacht? Ach, das ist ja nicht
wahr!
Ich weiß auch, warum es nicht wahr
ist: du willst mit meiner Uhr spielen.
Sieh, ob's uicht wahr ist?
Und das kleine Spielzeug an's Ohr
nnd dann wieder vor die Augeu hal
tend, wie die Zeitung, bemerkte sie klein
laut: Ja, es ist wahr.
Morgen erzähle ich dir die Geschichte
zn Ende.
Endlich sind die Brüder allein, und
sie dämpfen die Stimme, um das
Schwesterchen hinter der nur halb ge
schlossenen Thür nicht anfzuwecken.
Sie halten sich nicht viel Neues zu sagen,
den» sie waren den ganzen Tag über
in denselben Rälime» zusammen gewe
sen. Aber ans dem gemeinsamen Ver
zicht ans jene' Zerstreuungen, welche ihre
Arbeits- und Altersgenossen liebten, zu
Gunsten eines und desselben kleinen
herzigen Mcuschcntindes ergab sich eine
solche Fülle seelischer Beziehungen, daß
sie sich oft im Geiste miteinander be
schäftigten und ihre Gedanken aus
taufchien. ohne sie aussprechen zu brau
chen. DieS brüderliche Verhältniß war
für diese kleinen Arbeitcrexistenzc»,
deren Weisheit die der in unserer mate
rialistischen Zeit so zahlreichen, genuß
süchtigen Egoisten um die Höhe des
Eissellthurms überragte, der allersüßeste
Lohn.
Aligust hatte das „Petit Journal"
wieder in die Hand genommen, wäh
rend Eniil dem Eigarcttendamps »ach
blickte, der, wie die Gläser und Tassen
aus dem Tisch, von dem Gerassel des
vorüberfahrenden schweren Omnibusses
iu leise Schwingungen versetzt zn wer
den schien. Dabei traf sein die Spal
ten mechanisch hinabgleitender Vlick ans
solgendeAnzeige: „Kausen Siedießro
schüre: ,Was sollen wir unsere Kinder
lernen nnd werden lassend Dreißig
Centimes."
Das ist nicht theuer! bemerkte er halb
sür sich.
Was? fragte Emil, aus seine» Träu
men erwachend.
August hielt ihm die Zeitung hin.
Seltsam! bemerkte er, daß wir eigent
lich noch nie so recht darüber nach
gedacht haben, was aus Etile werden
soll.
Nun was wir geworden sind!
August schüttelte bedenklich den Kopf.
Du kennst das Schicksal der Arbeite
rinnen, sie sind noch unglücklicher als
wir. Wie wenig verdienen sie, »nd
wenn sie nun gar ihre Arbeit verlieren!
Erinnere dich: wenn Arthur und
seine Frau sich der armen Ernestine nach
dem Tode ihrer Mntter nicht angenom
men hätten, was wäre dann aus'ihr
geworden?" Das erräth sich.!
Ja, sreilich, aber Elise hat uns!
August nickte, stützte die Ellenbogen
auf den Tisch, den Kops zwischen die
Hände und bemerlle nach einer Weile
nachdenklich: Wenn man's ihr ersparen
könnte!
Was?
In die Werkstatt oder in die Fabrit
gehen zn müssen mit uuseresgleichen!
Mich dünkt, wir gewinnen in Ehren
unsern Lebensunterhalt und Elisens
dazu!
Gewiß, gewiß! erldiderte der ältere
Bruder. Tu könntest wohl mal mit
deinen Kameraden in's Theater ge
hen.
Warum soll ich mich amüsireu, wäh
rend du bei der Kleinen bleibst. Und
wenn man mit den Kameraden ist, muß
man's wie sie machen....
Das grade sürchte ich für Elisen?
unterbrach ihn August lebhaft.
Emil zuckte mit den Achseln.
Aber lvaS willst du denn aus ihr
machen? Millionäre sind wir hoch
nicht!
Nein, aber wir verdienen mehr als
wir brauchen, und wir vertreten ihr
Varer und Mutter! rief er stolz.
Augusts dunkle Augen entflammten
sich, als er nun endlich mit seinem
Licblingsgcdanken hervorkam, den er
so lange heinilich in sich bewegt und in
dem er in seiner Selbstlosigkeit für alle
feine freiwilligen Entbehrnngen reich
liche Entschädigung gefunden hatte.
Ich möchte, daß sie etwas mehr
würde als wir, die wir unseres
Lebens das wiederkäuen müsse», was
andere gedacht haben. Sie soll selbst
denken.. ..!
Willst dn de»» aus ihr eine Schrift
stellerin oder eine Gelehrte machen?
fragte Emit erstaunt.
Nein, aber da sie intelligent ist.
vielleicht eine Lehreriu!
Der jüngere Bruder lücheltc etwas
spöttisch.
Da schicke sie nur lieber in die
Druckerei, wo sie unter unsern Augen
bleibt. Ich habe neulich erzähle» höre»,
was aus de» Lchrcriniie» wird. Für
hundert Bewerberinnen eine Stelle nnd
die anderen iie»iil»id»t»»zig bleibe»
auf der Straße
Uud wie ein vielerfahrener Beobach
ter, wie ein alter Prakticus schilderte
der srührcije Kuabe das LooS so man
cher dieser Unglücklichen, August aus
allen seinen Himmeln reißend.
Schließlich einigle man sich dahin,
die kleine, vierjährige Elise, die in
ihrem süßen Schlummer schwerlich
ahueu konnte, daß zwei große Knabe»
bereits über ihre fernste Zukunft die
Würfel der Euttcheiduxg fallen ließen,
für die Complabilität vorbereiten
zu lassen.
Emil war milde geworden, was bei
einem Knaben nach zwölf
stündiger Arbeit nicht eben erstaunlich
ist. und kaum im zweischläfrigen Bett,
auch fosort eingeschlafen. Angust aber
halte sich »och au s Fenster gesetzt, um
von seinem verlorene» Ideal zu träu
men.
Die warme Abendluft, die einströmte,
mar zwar nichts weniger als eine bal
samische, von Orangeiiduft geschwän
gerte, mic am Lureniboiirg-Garten,
aber man nimmt eben vorlieb mit dem,
was man hat. und das mit bcfviidcrcr
Leichtigkeit, weu» man es nie besser ge
habt hat und la»m je ans dcinHänfer
meer der Großstadt an ein grünes Ge
stade verschlagen ward. Das Licht der
Gaslaternen, Läden und Privatwoh
nungen dämmerte aus den Tiefe» der
Straße empor, dein Winkelche» des
Sternenhimmels entgegen, welchen die
Stadtwohnung ihre»! glückliche» Inha
ber neben aiider», allerdings sehr viel
düstere» Winkel» u»d Lochern gönnt.
Po» der Straße selbst vermochte Au
gust nicht-Z zu sehen, weil eine mächtige
Dachrinne, die einem schwindelfreien
menschlichen Wesen sehr wohl als Bal
con dienen tonnte, dein Manfardensen--
ster vorgelagert war. Man Hot das
Leihhaus de» Bankier dmArmen ge
nannt, diese Dachrinnen des alten
Paris, d'ren Verschwinde» nicht nur
von den Kapeii und Katern ver Arbei
terviertel beweint wird, sind die schwe
bende» Gärte» des vierten Standes.
Der Garten unserer kleinen Glschwi
sterfamilie, welche sich um ihn den Tag
über nicht kümmern tonnte, beschränkte
sich freilich ans einigc Töpfe mit halb
vertrockneten Blattpflanze», die noch
ans der Zeit der Mntter stammten.
August war hcnte Abend besonders
weich gestimmt, weil er endlich jenes
Geheimste offenbart hatte, das er selbst
vor dem Bruder mit mädchenhafter
Keuschheit verborgen hatte, und weil es
nn» vor dem Licht des brüderliche» Ur
theils doch uicht ganz so bestanden hatte,
wie er es wohl gehofft hatte. Und »nn
saß er still da, das achtzehnjährige Ober
haupt eiiier kleinen Familie, deren leise
Athemzüge nnd deren kräftiges schnar
chen ihn an seine verantwortlichen
Pflichten gemahnten, und die armen
Blumentöpse vor Augen, die ihn a» ein
heiliges Vermächtnis; erinnerten.
Ihm gegenüber, nur etwas tiefer,
hatte» sich die Fenster des vierten Stocks
entzündet, und die hin und wieder
flackernden Schatten, das srvhliche Ge
lärm männlicher nnd weiblicher Stim
me», die Tanzweise» einer nicht gerade
ans Eremona stammenden Fiedel ließen
keinen Zweisel darüber auskommen, daß
sich die Studenten in ihrem möblirirn
Hotel trefflich ainüsirten. Aber in der
Seele des jungen Mannes weckte diese
Kiiiidgebnng eine wehmüthige Gegen
stiimmuig. und versetzte ihn in die Ver
gangenheit in einem Alter, wo man den
Blick noch mit Vorliebe vorwärts schwei
fen läßt.
Vor sechs Wochen hatte die Mutter
zum letzten Mal diese armen Pflanze»
gepflegt und auf eben diesem Stuhl der
Heimkehr ihrer Söhne geharrt, ihrer
besten Aerzte, wie sie die nannte, deren
Kunst midieren Zärtlichkeit sich gegen
die Verheerungen des Tuberkelbacills
leider ebenfalls ohnmächtig erweisen
sollten. Dann war sie ins Hospital
Cochin geschafft worden, beinahe ster
bend. nachdem sie wie so viele ihres
Standes, abgehärtet gegen körperliches
Leiden ihre Muttc'rpflicht bis zum
letzten Augenblick erfüllt und sich an
ihren kleinen Haushalt nie an das Le
ben selbst geklammert hatte. Was war
das für ein herzzerreißender Abschied ge
wesen, und dann der letzte am Sterbe
bette in dem langen, weißgetünchten
Saal, der ihnen wie eine Todtenhalle
erschienen war! Bei dem bloßen Ge
danken an diese Stunden, deren Ein
zelheiten sich seinem Gedächtniß tief
eingeprägt hatten, traten August die
Thränen wieder in die Augen. Ver
sprich nzir, August, daß du deine Ge
schwister nie verlassen wirst! hatte sie
gesprochen, indem sie ihn mit den schon
halbverglassen Augen anstarrte. Nie,
nie! hatte er gerufen, seine weinenden
Geschwister leidenschaftlich an die Brust
ziehend. Da war ein leises Lächeln der
Befriedigung, ein letztes dankbares
Lächeln über ihre Lippen geglitten,
dann war sie entschlummert, um in
der Abwesenheit der Ihrigen, einsam
heimkehrenden, selbst einsam den letzten
Athemzug zu thun.
Aber noch weiter träunitt sich August
in die Vergangenheit zurück und un
willkürlich suchte sein Blick die Bilder
seiner Eltern, die über seinem Bette
hingen. Wie der unter ihnen mit tie
fen gefunden Athemzügen schlummernde
Emil doch der Mutter glich! Nur der
Zug stiller Duldung im Ausdruck der
Augen uud der Mundwinkel fehlte ihm.
Gottlob! Ach, sie hatte in der That
viel zn dulden gehabt i» der Ehe, »nd
der, welcher nun seine Ellern vertrat,
erinnerte sich noch ganz ivohl der
rauhen Art, in der sein Nater die rast
los fleißige Mutter behandelt hatte.
Er war arbeitsscheu, unstet, eine
echte Noiuadennatur gewesen. Kurz
vor der Geburt Elisens ließ er seine
Familie Hülflos zurück.
Anfangs glaubte man, ihm fei etwas
zugestoßen, was um so möglicher er
schien, als er dem Absynlh ergeben war
und alle Bcrsuchc, ihm dies Laster ab
zugewöhnen, sich als vergeblich erwiesen
hatten. Wie oft hatte August im Auf
trage seiner Mutter in die Schenke
gehe» müssen, am den Vater abzuholen,
und wie selten mit Erfolg! Einmal
war die Fra» auch selbst hinübergegan
gen, »m dem Manne den Inhalt des
Glases, das er sich trotzdem wieder stil
len ließ, mit dem Ausdruck trotziger
Verzweiflung wegzugießen nnd noch
mals wegzugießen. Der Manu hatte
die Zähne zusammengebissen und in
der Schenke nichts gesagt, aber welche
Scene hatte das naclcher zu Hause ge
geben! Und so wäre es denn leicht
möglich gewesen, dliß er, ein Opfer der
Triinkleidcnschast, in der Seine oder—
im Rinnstein geendet hatte. Aber in
der Morgne Halle die Unglücklich, die
für den Vater ihrer Kinder gleichwohl
noch Liebe hatte, jeden Morgen vergeb
lich geforscht, »nd erst viele Monate
später erfuhr sie, daß er in Brüssel in
weiblicher Gesellschaft gesehen worden
war, errieth sie, dcch die Furcht vor der
Last und Pflicht, die ihm d' Vermeh
rung seiner Familie auserlegen werde,
den Herzlosen vertrieben habe.
So manches Mal hatte August seine
Mutter in jener Tranerzeit an eben
dem Fenster sitze» sehen, wie er selbst in
diesem Augenblick. Von ihrer Con
sectionsarbeit die geratheten Auge» er
hebend, hatte sie denn auch in das kleine
Sternciiwinkelchen gestarrt, der den
ganzen Himmel und die ganze Hoff
nung ihrer engen Arbeiterexistenz aus
machte. als sei der beruseue Ernährer
der Familie dahin verschwunden und
als müsse er von dorther wiederkehren.
Und der junge Mann dachte sich, den
Blick auswärts, so lebendig in die Seelx
seiner Mutter zurück, daß er wie sie die
Empfindung hatte, als müsse sich jeden
Augenblick die Thür austhnn, um den
Vater ei»z»lassc», »nd als werde anch
dann die Mutter wieder da sei», um
ih» zu empsailgc» und ihn zur Ruhe
zu bringe», ahne daß die im anstoßen
de?, Kalnnet in dem jetzigen Bett Eli
sens schliiinmerndc» Knaben von seinem
Zustand etwas merkten.
Aber sie merkten es doch, so jung sie
auch noch waren, und so unbeweglich
sie sich auch verhielten, und das gab
dann jedesmal in ihren kleinen Köpsc»
ei» seltsames Gemisch von Granen
und Mitleid, schattenhaft vergrößert
durch das Nahe» des Schluinmcrgottcs,
der sür die Kinder den süßesten Balsam
hat. Und a»ch für Auglist, dessen
Lider schwerer wurden, hatte er den
verdienten Lohn, während das all
mählich verhallende Gerassel des letz
leii Omnibus der Rue Saint Jacques
anzukündigen schien, daß des Tages
Arbeil vollbracht sei.
Schon halb im Traum, aber da
rum des Gelübdes, das er am Sterbe
bett der Mutter gethan hatte, nicht
minder eingedenk, lauschte er au der
halbgeöffneten Thür de» Athemzügen
der Ileineu Schwester, überzeugte er sich
»iil schluinmcrtrnnlenem Blick, ob sie
anch g»t zugedeckt sei, und wenige Se
kunden slinimte er, a» der «weite des
BruderS, in den Chorus seiner Ge
schwister ein. Tan» schlug die Kir
che» uhr Mitternacht, leise und vor
sichtig wie eine Mntter, die ihre Kin
der nicht wecken will, und gewissenhast,
als habe sie August abgelöst in der hei
ligen Pflicht, iiber di» Verwaisten zu
wachen.
2.
Zehn Jahre sind vergangen. Wit-
der kündigt vom Luxembourgpalast her
> eine völlig llar und frisch gebliebene
Silberstimme, auf welche eine alternde
Primadonna neidisch sein könnte, die
Feierstunde, die Kirche von Saint-
Jacques quittirt ihr grämlich ihre
Pünktlichkeit und die schwere Eichenthür
des DruckcreigebäudeS öffnet sich noch
ebenso zögernd wie ehedem, als Habesich
inzwischen nichts geändert. Und in der
That auch die.Arbeiterschäar, die
daraus ungeduldig und lärmend her
vorbricht, scheint dieselbe geblieben zu
sein, alt nnd jung stehen noch in dem
selben Zahlenverhältniß und der Jüngste
der Jungen ist immer dreizehn oder
vierzehn Jahre alt. Aber wieviel hat
sich trotzdem für den geändert, der vor
zehn Jahren hier vorüberging!
Unter die alte Firnia „Testu »K Mas
sin" hat sich ein „Champenois Nachfol
ger" geschlichen, das, so unscheinbar die
Lettern anch sind, doch recht deutlich ver
räth. daß selbst die Großen, selbst die
Reichen dieser Welt dem ewige» Wandel
unterworfen sind. Neben dem mächti
gen Dritckereigebände hat sich seruer ei»
Vcrmicthcr von Velocipcdcn niederge
lassen, als wollten diese, flüchtig wie die
Zeit, mit deren stolzestem Erzeugnis;,
der Schnellpresse, in Wettbewerb treten.
Auch ist es Winterszeit. Etliche der
Arbeiter haben ihre Jacken nach italie
nischer Art um die Schultern geworfen
und August und Emil tragen kurze
braune Jacken aus Wolleutricot. Aber
das ist nicht die einzige Veränderung,
die mit ihnen vorgegangen ist.
Der eine, nun bald dreißig Jahre
alt, trägt einen dichten kurzen Schnurr
bart, dessen tiefschwarze Farbe sich von
dem blassen, starkknochigen Gesicht scharf
abhebt. Und blaß ist änch des anderen
etwas ovaleres Antlitz, das neben dein
Schnauzbärtchen noch durch einen aus
dem halben Wege zu den Kinnbacken
etwas stutzerhaft abschließenden Backen
bart geschmückt ist. Aber nach einem
kurze» Ausschreiten dnrch die schneidend
kalte Winterlust strömt das in der
Werkstatt gleichsam abhanden gekom
mene Bl»t i» die Wangen zurück.
Jetzt sind sie Bilder blühender Gesund
heit und Kraft, haben sie doch der Ver
suchung des verhäugnißvollen Alkohol
genlisseS siegreich widerstanden.
Die Kälte, der leere Magen, die
Zehnsucht nach dem alten Heim, in
m jetzt die Schwester als Hausfrau
waltet, treiben sie die Rue Saint
Jacques hinab, welche der Winter noch
düsterer gefärbt hat. Sie haben sich
wenig zn sagen weniger noch als
ehedem. Etwas ist zwischen sie getre
ten sie wissen selbst nicht was, denn
die Selbstbeobachtung gehört nicht zu
den Künsten, die man bei Testu und
Massin und ihrem Nachfolger, bei dem
fla<keruden Hin und Her der Setzer-
Hände, bei den oft aus der größte»
Entfernung geführten Wechselgesprä
chen, bei dem Austausch von oft gesal
zenen Scherzworte» zu erlernen pflegt.
Dies „etwas" nun ist—Schwester Elise,
um derentwillen sie auseinander eifer
süchtig sind, die sie beide verhätscheln,
aber in verschiedener Weise, über bereu
Erziehung sie mehr und mehr verschie
dener Ansicht wurden, bis sie einander
tast entfremdet sind.
(Fortsetzung folgt.)
Es darf als bekannr
vorausgesetzt werden, daß jede Bewe
gung aus einer Reihe zusammengesetzter
Bewcg»ngscrschcinnngcn besteht, welche
so schnell a»s einander folgen, das; sie
unserem Blicke nur als eine einzige er
scheinen. Unser Auge ist nur im
Stande, die Bilder der Gegenstände,
welche an ihm vorüberziehen, für den
einen Augenblick festzuhalten, in wel
chem sie sich (einzeln oder in Massen) in
sichtbarer Entfernung direkt vor dem
selben befinden. Die Moinentphoto
graphie steht nun zur Zeit aus einer fo
hohen Stufe der Vollkommenheit, daß
wir mit sehr sinnreich eingerichteten
Apparaten in der Zeit des Brnchtheils
einer Sekunde die einzelnen Phasen
einer scheinbar einzigen Bewegung mit
tels einer photographischen Ausnahme
festhalten können. Die davon erhalte
ren Abbildungen klebt man der Rei
henfolge nach in gleichen Abständen
auf einen Streifen Papier, welcher
kreisförmig zusammengelegt wird, so
daß Ansang nnd Ende sich berühren.
Dieser BilderkreiS wird in eine» An
schütz'schcn Schnellseher gebracht, des
sen oberer Theil ebensalls kreisförmig
(aber breiter als ver Bilderkreis »iid
mit einer Spaltöffnung versehen) ist
und aus einer Scheibe in Drehung ver
setzt werden kann. Indem dies ge
schieht, beobachtet man durch einen
Spalt die genaue Reihcnsolgc der
(scheinbaren) Bewegung der abgebilde
ten Gegenstände. Die Herren Deine»
ney nnd Marey vom College de France
.jaben nach Angabe von Guy Toinel
im „Figaro" diesen.Umstand benutzt,
uni die Lippcnbewegungen einer spre
chenden Person zu photographircn »nd
deren Bilder, wie oben gezeigt, im
schnellseher zu vereinigen, so daß die
Taubstummen durch Nachahmung der
vor ihre» Augen sich abspielenden (schein
baren) Lippenbewegungcn «ach uud nach
lernen, sich init jedermanns» verstän
digen, ohne sich der ost recht lästigen und
umständlichen Zeichensprache zu bedie
nen, welche? nicht jedermanns wache ist.
Fürwahr, eine der großartigsten An
wendungen der schönen Kunst des Licht
bildners im Dienste der leidenden
Menschheit! Die Unglücklichen können
sich in dieser Weise buchstäblich jeden
Augenblick übe», und durch entspre
chende Leitung zu der höchste» Stuse
deutlicher Aussprache gebracht werde»,
und es leuchtet ein, daß hierbei unend
lich viel Mühe uud Zeit erspart wird,
denn selbst der gedntdigsle und men
schenfreundlichste Lehrer ist nicht im
Stande, fortwährend die, wenn auch
lautlose», so doch höchst anstrengende»
Sprechübungen seinen Zöglingen vor
jumachen. von der Präzision derselben
gar nicht zu reden.
Die Manguste.
Ackerbauminister Jeremias Rufk ha<
hoffentlich mit seinem Vorschlage, zu<
Vertilgung der Gopher-Plage im ge«
treidereichen Westen das indische Ichneu
mon oder Manguste einzuführen, eben«
soviel Erfolg wie bei der Ausrottung
des kalifornischen OrangenkäferS.
Wahrend früher Jahr für Jahr dt«
hoffnungsreichsten Ernten der goldenrti
Frucht durch diese schädlichen Kerf«
vernichtet wurden und so dem Staat«
ein Schaden von Millionen Dollars
erwuchs, hat es die Vedalia - Schlupf«
wespe aus Australien fertig gebracht
in kaum zwei Sommern den Orangen
seind und seine ganze Brut zu vertil
gen.
Die Mangnste wird in ihrer Heima
Indien hauptsächlich als Vertilger det
giftigen Schlangen geschätzt. Selbst der
tödtlichcn Cobra di Capello (Brillen
schlange) geht sie furchtlos zu Leibe und
achtet der wüthenden Bisse nicht, bis sie
dem Reptil den Garaus gemacht hat.
Die Manguste ist giftfest. Das rät
selhafte wasserhelle Alkaloid aus den
Giftdrüsen der Schlange, welches einem
kräftigen Manne unrettbar binnen
wenigen Minuten den Tod bringt, hat
keine Wirkung auf die Manguste,
welche kaum die Größe einer ansgewach
stnen Hauskatze erreicht. Diese Eigen
schaft der Giftfestigkeit theilt die Man
guste mit dem Igel, dem Schwein und
manchen Raubvögeln, von denen der
bekannte „Sekretär" als Schlangen
.äger brühmt ist. Aber auch gegen di«
Nager tritt die Manguste als unver
söhnlicher Feind auf. Wie die Katz«
des Schiffsjungen, späteren Lord
mayors von London, Richard Whtt
tington, unter den Ratten von Hawaii
furchtbar Musterung hielt, so hat auch
die Manguste Kreits auf anderen In
seln der Südsee, wohin man sie ver
suchsweise aus Indien importirt hatte,
unter de» Mäuse» und anderen schäd
lichen Nagern gründlich ausgeräumt.
Die Manguste ist leicht zu zähmen und
dem Menschen schließt sie sich zutrau
lich an.
Natürlich ist ein derartiger Versuch
immer ein gewagtes Experiment. Un
ter veränderten Existenzbedingungen,
verschiedenem Klima, verschiedener
Nahrung ändert ein Thier leicht seine
gewohnte Lebensweise. Der Schäfer
hund ist in Australien znni Raubthier
verwildert. Der europäische Spatz hat
sich hierzulande gänzlich auf die schlechte
Seite gelegt. Die aus China nach
Oregon importirten Fasanen haben
sich mangels natürlicher Feinde zu einer
wahren Landplage für die Farmer des
Willamette - Thals vermehrt. Jetzt
thun die Krähen, die den schmackhaften
Eiern der Fasanen nachstellen, der
enormen Vermehrung einigermaßen
Einhalt.
„Eine Hand wäscht die andere."
Dies Sprichwort gilt als Regel man
chen Leuten,
Die einen Dritten trachten auszubeuten;
Doch seltsam wohl, daß Hände, die's
so treiben,
Gewöhnlich beide dabei unrein bleiben.
Gedankensplitter.
Die Stümper der Kunst sind gewöhn
lich Genies der Reklame, und die Genies
der Kunst meist Stümper der Reklame.
Die Frauen sind niemals mit uns
zufrieden: sind wir eisersüchtig, ärgern
sie sich, sind wir es nicht, ärgern sich sich
noch mehr.
Erst wenn man selbst etwas wird,
sieht man, wie viel Neid es auf Erden
gibt.
Unglückliche Liebe endet gewöhnlich
mit— einer Heirath.
Erst hitzig nnd dann kühl und still
So wird dir nie das Werk gelingen!
Den Braten, den man schmoren will,
Muß man an stet'ges Feuer bringen.
Schlau meyer. Ameyer:
„Nun. wie steht es mitJhrem Proceß?"
—Bemeyer : „Welchen Proceß meinen
Sie?" Ameyer: „Den mit dein
Schurken, der Sie um 20,000 Mark
geprellt hat." —Bemeyer: „Ganz gut;
wir haben uns verglichen; er hat
meine Tochter geheirathet."
Beharrlich. Hausherr (der
einen zudringlichen Hausirer wiederholt
vergeblich aufgesordert hat, das HaiiS
zu verlassen): „Johann, kqminen Sie
'mal heraus und Wersen Sie diesen un
verschämten Menschen hinaus!"—Hau
sirer: „Bis er kommt, könnten Sie aber
doch anschau n meine Waar!"
Ein Optimist. „Bei Ihnen
wohnt jetzt eine Sängerin, die so ab
scheulich singen soll!?" „In, Gcgen
iyeil sie singt wunder chon!"
„Neulich solle» ihr aber vo» de» Nach
barn die Fenster eingeworfen worden
>ein!" „Jawohl, damit sie ihren Ge»
>ang deutlicher hören können!" 3