Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, January 07, 1892, Page 2, Image 2

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    2 «tn Vrlginal.
Von Kahle, dem alten Jenenser
Hellen, werden unzählige Geschichten
erzählt. Der Biedere wollte einmal
einen Studenten abfassen, der sein Heil
in der Flucht suckte. diese auch nicht
unterbrach, als ihm der Pedell drei
Mal die verhängnißvollen Worte: „Im
Namen des Prorectors, halt!" zuge-!
rufen hatte. Vor dem Universitätsamt
sahen sie sich wieder. Der Amtmann
begann: „Warum sind Sie nicht stehen
geblieben, als Ihnen der Ped<V im
Namen Prorectors Halt zurief,
Sie wissen, daß daraus die schwersten
Strafen stehen?" „Ich werde den
Deibel thun," erwiderte der Student,
eS war ein »oller Hund hinter mir her,
ich wollte nur mein Leben retten."
„Ein toller Hund," fragte der Amtmann
erstaunt, „wie kam der dahin?"
„Ja, das weiß ich nicht; er kam mit
dem Pedell, es war ein ganz abscheu
liches Thier, mit Triesaugen und einem
ruppigen Sckwanz." Das erzählte er
mit dem Ausdruck tiessten Ekels im
Gesicht lind begleitete seine Aussagen
mit en! brechenden Gesten. „Ich bin
sehr nervös und habe eine ange
borne Angst vor tollen Hunden."
„Kahle, haben Sie einen Hund,
und war der damals bei Ihnen?"
Jawohl, Herr Amtmann." Bringen
Sie ihn einmal hierher." Da das
treue Thierchen seinem Herrn bis an
die Thür gesolgt war, konnte es bald
erscheinen; es war ein kleiner Pinscher,
der allerdings weit sichtbare Zeichen der
Räude an sich trug. Der Amtmann
betrachtete das Sckeusal eine Zeitlang
schweigend, und, offenbar hoch ersreut,
einen Grund gesunden zu haben, den
Studenten freisprechen zu können, sagte
er:„Allerdings, Kahle, schaffen Sie daS
Thier ab." Der Herr Schinder erschlug
den Hund noch an demselben Tage; der
Student aber wurde außer Versolgung
gesetzt. Als dies bekannt wurde, frag
ten die Studenten bei jeder Gelegen
heit: „Herr Kahle, wo ist denn Ihr
Hund?" „Na, hinüber!" „Ol Wie
ist denn das gekommen?" Kahle legte
dann die geballte Faust an die Seite
seines Halses, und sagte: Na, der da
...!" Damit wollte er sagen, er habe
ihn auf Befehl deS Herrn Universitäts
amtmannes abschaffen müssen. Dieser
liebenswürdige Herr war nämlich In
haber eines gewaltigen Kropfes, womit
Kahle, indem er die Fanst an seinen
Hals legte, ihn ebenso drastisch wie un
verkennbar bezeichnet«.
Galgenhumor.
Die letzten Wünsche der zum Tod»
derurtheilteu Verbrecher sind oft schwer
erfüllbar. So bat sich in Cartwright ein
»um Strick verurtheilter Verbrecher als
letzte Gunst aus, daß man ihm den
Htrick nicht um den Hals, sondern um
die Achseln lege, da er zu kitzlich wäre.
Bekannt ist auch der Wunsch eines
lebenslustigen TodeScandidaten, der an
Altersschwäche zu sterben wünschte.
Weniger bekannt ist da« Factum, daß
der berüchtigte, albanesische Räuber-
Hauptmann Hadschih Pill»,an als Hen
tersmahlzeit einen Hammelgoulafch mit
Remoulade verlangte. Da der türkische
Koch aber die Zubereitung des Goulasch
nicht verstand, so schob der TodeScan
didat den Teller mit den Worten zu
rück: „Das esst ich nicht, davon kriegte
ich mindestens acht Tage lang Leib
schmerzen!"
. *
Ein Mordbrenner in Newcastle, der
früh um 7 Uhr gehängt werden sollte,
verlangte Abends um 8 Uhr als Hen
kersmahlzeit einen Teller frische Wald
erdbeeren.
„DaS ist ein unbillige» Verlangen",
erklärte ihm der Gesängmßdirector,
„wir haben jetzt November und vor
Juli gibt es keine Walderdbeeren."
„Na, ich kann ja warten!" erwiderte
der Delinquent gelassen.
*
Sensationelles Aussehen erregte vo»
Kurzem die Begnadigung eines jugend
lichen Verbrechers. Die Hinrichtung
desselben mußte nämlich so lange aufge
schoben werden, bis fein letzter Wunsch
erfüllt war. Der strebsame junge
Mann, der kaum lesen und schreiben
kann, verlangte vor seinem Ende noch
die englische Sprache zu erlernen. Die
sem Wunsche wurde gewillfahrt, leider
besitzt aber der Delinquent einen so ge
ring anschlägigen Kopf, daß die Er
füllung seines Wunsche» in absehbarer
Zeit nicht zu erwarten ist.
Vom Cylinder. Aus Pari»
fchreibt man Wiener Blättern: Ein Pa
riser, der im Winter keinen Cylinder
trägt, existirt ebensowenig wie ein Mai
ohne Poesie. Nun aber ist der Cylin
der bekanntlich nichts weniger als poe
tisch in seiner Gestaltung, und die
Phantasie der Gigerln arbeitet unab
lässig daran, das ungraciöse Thema
schwungvoll zu variiren. So hatten wir
im Vorjahre die zugespitzten Cylinder,
die sich in ihren K onturen immer mehr
und mehr den persischen Lammsellmützen
näherten und in den Herzen braver
Hausfrauen freundliche Erinnerungen
an die in der Speisekammer Wacht hal
tenden Zuckerhüte wachriefen. Doch
Alles nimmt bekanntlich hienieden ein
Ende, so auch die spitzigen Cylinder,
and wir halten jetzt vor einer neuen
Wandlung: dem halben Cylinder! So
und nicht anders muß man nämlich jene
seltsamen Dinger nennen, die nun auf
den Boulevards des Italien» das Bür
aerrecht zu erwerben fuchen. Es sind
die« regelrecht „gebaute" Cylinder, nur
halb so hoch gehalten wie ihre Vorgän
ger. Auf dem Kopfe älterer —mit
unter sehr gealterter Herren zwischen
20 und 30 Jahren wirkt der halbe Cy
linder unwiderstehlich komisch.
Der Praktiker. DirtÄir:
Hür welche Rolle suchen Sl- i:«ntt
eigentlich Engagement, Fräulein? «elt
liche Schauspielerin: Am liebsten spiele
ich Naive. Director: Naive Großmüt
ter werden nicht oelckrieben.
Met« Urcu»d Asrtunatu».
Ich reiste mit meinem Freund For
tunatuS von Novara bis Genua zu
sammen. Obgleich das nur eine kurze
Strecke ist, so währt diese Fahrt sehr
lange, denn solch ein italienisches
Dampiroß bat den Rheumatismus in
allen Gliedern, und die Eilzüge stehen
nicht, wie bei uns, nur auf dem Fahr
plan. sondern vor jedem Sechshundert
seelenstädtchen. Da lobe ich mir doch
mein liebes Vaterland wenn man
das Glück hat, wird man aus der Eisen-'
bahn schneller vom Diesseits inS Jen
seits besördert, al» hier von Novara
und Genua.
Mein Freund FortupatuS, mit dem
ich nach Genua fuhr, ist ganz ander»
geartet als ich. Er hat im Leben und
in der Liebe nie lange aus einem Stuhl
sitzen können; wenn er einen Berg
hinaufsteigt, will er unterwegs zwölf
Mal umkehren, und Karten spielt e?
auch nur so lange, als er gewinnt. Da»
Unangenehmste aber für mich war, daß
er Glück bei Frauen hatte.
Wir steigen in Genua in dem be
rühmten Hotel am Hasen ab, in dem
einst Fiesco, der bekannte Verschwörer,
gewohnt haben soll. In den reich auf
geputzten Zimmern, in denen die Ver
schwörer zusammenkamen, wohnen jetzt
meist Hochzeitsreilende. So erzeugt
ein Geschäft das andere.
Daß man aus dem Palast des Gra
sen von Lavagna ein Hotel gemacht
hat, finde ich sehr entschuldbar. Wie
viel Aehnlichkeit zwischen dem Damals
und dem Heute! Die Hausknechte und
Stubenmädchen mit den geöffneten
Händen, das sind die Unzusriedenen
Genuas, die Schiller uns zeigt. Und
Oberkellner haben mit Verschwörern
die peinliche Eigenschaft gemeinsam, daß
sie sich manchmal ve/rechnen.
Es war gerade Allerseelentag, als
wir ankamen, und es war ein merkwür
diges Drängen und Treiben in der
Stadt. Aus der Piazza Deserrari, wo
die Wagen der OmnibuSgesellschasten
halten, schlug man sich um ein Plätzchen
in diesen schmutzigen Gefährten, wie
man sich bei uns in Berlin vor dem
Zoologischen Garten am „billigen
Sonntag" schlägt. Und in all' den
enge» Straßen war ein Gedränge von
Leuten mit Festtagsgesichtern, Blumen
kränze:' und Wachskerzen, daß man die
Arme einstemmen mußte wie ein Höker
weib, um hier durchzudringen.
Und das alles lies nnd fuhr und
humpelte hinaus nach dem Campo
Santo, dem großen Kirchhos Genuas,
der draußen sich hindehnt vor der Stadt.
ES lag eine abscheuliche Luft über der
langen Chaussee, eine graue bustenerrc
gende Luft. Nie habe ich eine so stau
bige Stadt gesehen und niemals ist'mir
des alten Predigers Wort wahrheits
voller erschienen, als an diesem
seclentage, das Wort, daß Alles nur
Staub sei auf Erden.
So wie die Genueser im Leben woh
ne», in der terrassenförmig an den Ber
gen emporkletternden Stadt, so wohnen
sie auch im Tode. An dem Berge stei
gen die Gräderreihen empor, eine Rie
sentribüne, von der die Todten ihre
Vaterstadt grüßen. Lange, endlos
lange MulenhaUen bergen dort die
Gräber der Reichen, aber über den klei
nen Hügeln der Armen lacht der blaue
Himmel. .
In jenen Säulenhallen, die unten
den Berg umschließen, die sich an ihm
hmaufwinden oder in ihn hineingebaut
sind, ist all' das vereinigt, was Genua
an moderner Kunst aufweisen darf.
Und vielleicht gibt es keinen Ort in der
weiten Welt, wo der Schmerz so viel
gestaltige künstlerische Verklärung ge
sunden, wo daS Märchen von dem
Kinde, das Vater und Mutter verloren
und mit deni Thränenkrüglein suchend
durck's Land irrt, so Hundertsach von
Künstlerhand variirt worden ist, wie
hier. Es sind marmorne Hymnen des
Leids, marmorne Bitten um Trost,
marmorne Schwüre, nie zu vergessen,
ewig zu gedenken. Dort sitzt der Tod
als alter bärtiger Pilger gedanken
schwer auf dem Sarge, hier tritt er als
mildleuchtender Engel mit liebendem
Kuß an das Bett des Kranken und
es ist immer wieder der Tod und ewige
Uns warmorarmen Deutschen aber,
uns rauscht dieses Lied von Leid gar zu
gewaltig. Wir, die wir immer noch
die alten poetischen Stimmungen mit
uns herumschleppen, die wir von unse
rem lieben Heine geerbt haben und
von Eichendorss und den Andern, wir
sind solche gottsjämmerlich unverstän
digen Barbaren, daß uns der schweig
samen Trauerweide leiser Todtengruß
schöner dünkt, als die verschwenderische
Pracht dieser Todtenpaläste. Und in
dem leichten Dust unserer purpurnen
GrabeSrosen ahnen wir mehr von der
Zaubermacht der Göttlichkeit, als in der
dochaussteigenden Verkündigung aus den
Grüften Genuas.
Aber an diesem Allerseelentage
huschte aus tausend Lichtern und Lämp
ckcn der matte Flammenschein über all'
den bleichen Marmor, er huschte hinaus
zu den Engeln der Liebe und de» Todes
und ging streichelnd über die Wangen
der Trauernden und Büßenden, wie
ei» einziger Schein von dem großen,
strahlenden Himmelslicht in der andere»
Welt.
Aber die Trauernden und Büßenden
richieten sich nicht auf, wie aus den
stillen Gräbern in der Heimath die
rothen Rosen gläubig sich aufrichten,
wenn der Sonne wärmender Strahl zu
/hnen niedersteigt, und die festlich ge
kleideten Leute schoben sich langsam
hindurch zwischen diesen Gräberrechen
und nannten sich die Namen der großen
Künstler, die daS Alles geschaffen, und
Alle», wir Kei uns die Leute aus der
Provinz im Panoptikum.
Sonderbar, wie verschieden die Völ
ker geartet sind! In Genua hat man
aus dem Friedhof einen Tempel der
Kunst gemacht und nun ,st man bei un«
am Werk, den Tempel der Kunst in
einen Friedhof zu verwandeln!
Aber während ich so mit lehrreichen
Vergleichen mich besaßte und bei diese»
genuesischen Marmorgräbern der freud
lose und doch so duftumsponnene Hügel
mir in's Gedächtniß kam, unter dem
aus dem sernenMontmartre mein armer,
verkannter und verlästerter Sänger des
nenen Frühlings modert, so ein echte,
Dichterhügel während ich so die un
vernünftigen Gedanken in weiter Fremd,
spazieren wandern lieh, hatte ich ganz
vergessen, meinen guten Freund Fortu
natuS. der zwischen Marmorbildern noch
niemals glücklich war.
Ich suchte ihn und bald fand ich ih«
hoch oben, auf der Spitze des Berges,
wo der kleine Tempel mit dem Sarko
phag Mazzinis steht. Dort sah ich
meinen FortunatuS, in den Eingang
deS Tempel» gelehnt, lauernd, wartend.
Ich begriff sofort, daß ihn Mazzini ei
gentlich weniger interessirte, als di«
kleine Engländerin mit dem blonden
Lockenköpschen, die dort drinnen mii
andächtiger Neugier vor dem todter
Mazzini stand, vor diesem Mazzini, von
dem man ihr vor einer Viertelstund,
gesagt hatte, daß er ein großer Mar.»
gewesen war.
Ich aber machte meinen Freund da
raus auimerksam, daß sie sehr verheira
thet schien, und Italien bekanntlich das
Land der sauren Trauben sei. Dai
leuchtete ihm seltsamer Weise ein unt
wir gingen. Dicht hinter dem Fried
hof saß die Wahrsagerin mit verbünde
nen Augen, ganz wie Kassandra i«
Troja. In der That, es mußte ein
hölzernes Pferd fein, das zu diese,
Kassandra kommen konnte!
Der Fremde findet Genua schön, son
derbar schön, weil es vom blauen tyrre
nischen Meer so gar wirksam wie aus
Treppenstufen emporsteigt. Aber si«
waren doch nur Barbaren, diese Genue
sen, und sie sind es geblieben. O, si«
baden nie etwas besessen von dem köst
lichen Kunstsinn ihrer Nachbarn in
Oberitalien, sie haben eS me verstan
den, wie herrlich eS ist, seine Stadt,
sein Reich in ein rauschendes Götterland
der Kunst umzuwandeln, sie haben im
mer mit kaltem Lächeln zu jenen hinü
bergeschaut, die zu der großen Meiste,
Herrlichkeit den Duft aus güldenen
Weihrauchkesseln emporsteigen ließen.
Wie selten ist ein Hauch von jenein
hohen Geist zu ihnen gekommen, der zu
Raphaels, zu Lionardis, zu Tizzians
Zeiten durch das jubelnde Italien ging,
und während das verhaßte Venedig in
einem Künstlertaumel schwellte und
längs des Kanals eine Zauberwelt auf
erstehen ließ in Formen und Farben,
malten Genueser wie die
meisten Indianer in ihren bunt
bcklecksten Dörfern, in den Festsälen
ihrer Paläste, ihres Palazzo Rosso,
ihres Fiesco-PalasteS, Säulen und
Kamine mit schlechter Oelsarbe an die
Wand. Ueberall diese miserable Farbe,
hineingetragen in die Renaissancebauten
deS alten verständigen Meisters Alessi.
Nichts ist da drinnen echt "tut tc>
iinita-icmo", wie der Führer in der
Villa Pallavicini in Pegli sagt, nach
dem er all' die denkwürdigen Ereignisse
erzählt hat, die dort sich zugetragen
haben sollen tut to alles
Schwindel!
Nur der eine alte Doria, dieser brave
Andreas, den man im Doriapalast zu
sammen mit der treuen Lieblingskatze
auf dem Bilde sieh', dieser tüchtige
Greis hat in seinem vielvergitterten
Hause hübsch Alles aus Marmor und
echtem Stuck Herrichten lassen. Das
kann man wenigstens in den sünf oder
fechsZimmern konstatiren.die denFreun
deii sür gewöhnlich gezeigt werden in
den andern wohnen jetzt Verdi und ei
nige viel weniger berühmte Leute. Aber
was man sieht, ist echt, und darum rufe
ich „es lebe Doria und nieder mit dem
Grasen von Lavagna!"
In dem Hotel traf ich eine von den
alten Damen, die ich liebte, eine von
jenen alten Damen mit grauem Haar
und klugen Augen, die wie jene prächtige
Herzogin in der „Welt, in d sicher man
langweilt" nicht leugnen, daß sie auch
einmal jung gewesen sind und daß
sie noch die Jugend in sich verspüren.
Ach, es ist sehr selten, daß die alten
Frauen noch jung sind, heutzutage, wo
die jungen Frauen so oft schon alt
sind!
„Wo haben Sie denn Ihren
Freund?" sragte mich die alte Dame
mit den klugen, jungen Augen „Ih
ren Freund FortunatuS?"
Richtig, ich hatte ihn wieder ver
loren !
„Ich will es Ihnen sagen, wo er ist",
sagte meine Herzogin wieder denn
ich dachte immer.es müßte die Herzo
gin aus der französischen Komödie sein
„er schmachtet. Ja, er schmachtet
vor der jungen englischen Schönheit,
die auch einen Mann hat und oben in
FiescoS Zimmern wohnt".
„Ah, die ist also hier?"
„Ja. Und ihr Gatte ist sehr trau
rig sehen Sie ihn nur an, dort
kommt er".
Ich sah ihn an. Er sah wirklich sehr
traurig aus. So ungesähr wie ein
Kaninchen, dem man ans Leben will.
„WaS sehlt ihm?" fragte ich mit
leidsvoll.
„Er wünscht sich einen Nachkommen.
Einen Erben. Nun, er wird ihn schon
bekommen, seien wir beruhigt. Der
gleichen kommt manchmal überraschend
schnell wie der Wind, bei dem auch
Niemand weiß,wober er plötzlich kommt.
Und bei diesem Klima ist Alles mög
lich. ES läulet wollen wir zu Tisch
gehen?"
Mein Freund FortunatuS saß einige
Plötze entsernt von der kleinen
Engländerin. Sie war wirklich rei
zend; sie hatte ein wunderhübsch feine»
Köpschen mit einer blonden Frisur, der
Thusneldafrisur ganz ähnlich, ober auf
gelöst in lauter einzelne, goldschim
ziernde Löckchen.
Hinter allen Schüsseln und in »llen
Blumenvasen auf dem Tisch saßen die
kleinen Liebesgötter und schössen ihre
Pfeile hinüber und herüoer. Und sie
sah, daß mein guter FortunatuS drei
Schüsseln vorübergehen l»eß, und wußte,
daß er daS that, um sie besser anblicken
zu können. O, sie bemerkte das Alles!
Die Andern am Tische aber bemerkten
Vichts, sie ließen sich all« Schüsseln zwei
mal reichen, denn da» Diner war seh»
theuer.
Er halte wirklich Glück, dieser ver
verteufelte FortunatuS! Er fand ein,
Schleife der kleinen blonden Englände
rin und schrieb es der Angebeteten ir
einem Briefchen, dessen letzte Worte lau
teten. „Darf ich sie behalten? Ich wil
Sie immer verehren. (Nein, ich hab,
mich geirrt—nicht „Sie" mit einen
großen „S". nur „sie" mit einem klei
nen „s")."
Und sie antwortete umgehend: „Di,
Schleife war mir werth. Ich möcht,
Sie wiedersehen. (Nein, ich irrte mick
nicht „Sie" mit einem großen „S".
nur „sie" mit einem kleinen „i")." ,
Da er nun glücklich war, überließ iä
ihn seinem Schicksal und ging mit mei
ner Herzogin hinaus zu dem Balkon,
um die Sonne niedersteigen zu sehen
weit hinter dem Mastenwald des Haseni
in den blauleuchtenden Finthen dei
tyrrhenischen MeereS.
Rechts sah man hinunter bi» zun
Palast des alten Doria, dem die demo
kratischen Genuesen den herrlichen Gar
ten zerstört haben, um ihre Bahnlini,
hindurchzufühlen, dem Einspruch unt
den Bitten des Prinzen Doria zuni
Trotz. Es war die letzte Verschwörung
gegen die Doria.
Und man sah an den Bergen die bun
ten Häuser emporklettern und hoch ober
aus dem dunklen Wald der Berge di«
weißgrünen Mauern der Festungswerk,
heraustreten.
ES war ein ewiges Hin und Her ii
dem Hasen, ein ewiges Lärmen unt
Rufen, ein Knarren der Taue, ein Pfei
fen der Dampfschiffe. Dort drüben ir
derDarfena, dem einstigen KriegShasen,
an der Stelle, wo gerade jetzt die klein,
Dampsbarkasse vorwärtspustet, dort isi
vor dreihundert und sünszig Jahre»
Fiesco sammt seiner Verschwörung in'«
Wasser gefallen.
Ich habe einmal einen Schauspielei
gekannt, einen tüchtigen und liebens>
würdigen Schauspieler. Der konnt«
nie den Fiesco spielen, denn um
einen Bühnenausdruck zu gebrauchen
er schwamm zu gut.
Der Arme einmal hat er doch ir
einer französischen Posse nicht weiter ge
konnt. Ich erinnere mich, es war ein«
gewagte Situation, bei der viele Da
men hinausgehen würden, wenn daS
nicht so störend wäre. Da konnte e»
nicht weiter. Er war plötzlich im Koth
stecken geblieben.
Aber nun sitze ich in Genua auf dem
Balkon amZHasen und denke an Deutsch
land und seine sranzösischen Possen.
So wandern manchmal die Gedanken
mit den Worten über die Berge, sie ver
irren sich —sie gehen gern zu den sran
zösischen Possen, aber eS ist immer eine
Verirrung.
„An was dachten Sie?" fragte di«
kluge Herzogin.
Und ich sagte ihr, daß ich an Meilhac
und Hennequin gedacht hatte. Sie
nickte: „Ja, der arme Himmel sieht
wunderliches Zeug aus dieser Erde."
„Aber halten Sie den Himmel sür
moralischer?"
„Gewiß; haben Sie e» denn noch
nicht bemerkt das Erste, was er
thut, wenn er Morgens die Erde sieht,
ist, daß er erröthei. Und dann Abends
wieder sehen Sie nur dort!"
Wirklich, er erröthete in wunderbarer
Pracht, Feuerströme flutheten herrlich
an ihm entlang, als stünden dort hin
ten im Hafen verborgene Riesenflotten
in Brand. Und zwischen den schweren
Schissen schössen diese glühenden Bäche
über das Wasser des Hafens hin, aus
dem die kleinen Barken schaukelten und
die Matrosen fluchten und die Damps
barkassen pusteten.
„Ja", sagte die alte Herzogin, wi«
traumverloren, „er erröthet. Viel
leicht steht Ihr Freund hier über uns
und giebt ihm Recht."
Ich sah unwillkürlich hinauf. „Sie
meinen?" sragte ich.
„Ich meine garnicht?. Ich denk«
nur, daß die kleine Frau im nächsten
Jahre vielleicht wieder hierherkommt,
daß wir sie dann sehen. Aber dann
wiederum nicht „Sie" mit einem gro
ßen „S" sondern sie mit einem kleine«
.s."
Ballspiel.
Wo seid ihr Zeiten geblieben,
Ihr Jahre der Jugendzeit,
Da ich mich als sröhlicher Knabe
Am lustigen Ballspiel erfreut!
Das Ballspiel ward immer verweg'ner,
Es drehte mich wirbelnd im Kreis,
Staub schluckt ich auf manchem Balle
Und Flüssiges kalt und heiß.
So ist es schließlich gekommen,
Daß ich mit taumelndem Sinn
Dem Schicksal im Laufe der Jahre
Ein Spielball geworden bin.
Röllingho ff
Schuldlosen Seelen sei
da» in der Pfalz gelegene Dorf Dahn
als busn rsliro empfohlen. In die
sem, durch seine Eselzucht berühmten
Oertchen überlassen die 1400 biederen
Bewohner die Wahlen vertrauensvoll
der hohen Obrigkeit. An einetn der
letzten Montage sollte dort wieder ein
mal die Stimme des Volkes zum Aus
druck kommen. Die „Münch. N. N.",
denen wir die Kunde von diesem Bor
gange verdanken, erwähnen nicht, ob es
sich um eine Ersatzwahl zum bayrischen
Landtag, oder um eine Provinzial- oder
Kreisangelegenheit gehandelt. Aber
die Sache war die: Bei der Wahl der
Wahlmänner mußten, um den Ausschuß
zu Stande zu bringen, die Feldschützen
und Straßenwärter herbeigeholt wer
den. Nachdem so der Ausschuß gebil
det war, wurde durch die Ortsschelle be
kannt gegeben, daß bis ein Uhr die
Wahl geschlossen wird. Dann wartete
man, bis die Wählcr'kamen.eS kam aber
Niemand und so vollzogen die Mitglie
der de» Wahlausschüsse» auch die
Wahl.
Der Sletne.
«u» »e «-»»»sson«.
Lemonnicr war als Wittwer mit ei
nem Kinde zurückgeblieben. Er hatte
«eine Frau wahnsinnig gern gehabt, sie
während der ganzen Zeit ihrer Ehe init
ingeschwächter, überschwänglicher Zärt
lichkeit geliebt. Ein herzensguter, ehren
hafter Mann, schlicht, ausrichtig, ohne
eine Spur von Bosheit oder Miß
trauen.
Von Liebe zu einer Nachbarin, einem
armen Mädchen erfaßt, hatte er ihr
'eine Hand angetragen. Er betrieb da
zumal einen einträglichen Tuchhandel,
verdiente ein hübsch Stück Geld und war
keinen Augenblick darüber im Zweifel,
daß er, um seiner selbst willen, von dem
jungen Mädchen nicht angenommen
worden wäre.
Aber sie machte ihn glücklich. Nu»
fie war für ihn auf der Welt, er dachte
nur an sie und betrachtete sie unaufhör
lich in demüthiger Bewunderung. Wäh
rend der Mahlzeiten beging er tausend
Ungeschicklichkeiten, nur um den Blick
nicht von dem geliebten Antlitz abwen
den zu müssen; er goß den Wein in sei
nen Teller, da» Wasser in'S Salzfaß,
und dann begann er zu lachen, herzlich
v- ein Kind, und wiederholte immer:
„Ich bin doch recht ungeschickt! Aber ich
habe Dich gar zu lieb, weißt Du!"
Sie lächelte, sanft ergeben: dann
wandte sie den Blick ab, als setzte sie
die Bewunderung ihres Gatten in Ver
legenheit, und versuchte daS Gespräch
auf irgend etwas Anderes zu lenken,
ihn plaudern zu machen. Aber er
faßte über den Tisch hin nach ihrer
Hand, hielt sie in der seinigen und
flüsterte:
„Meine süße kleine Jeanne, meine
süße kleine Jeanne!"
Endlich wurde sie ungeduldig und
sagte:
„Nun also, jetzt sei vernünftig! Iß
und lass' mich essen "
Er seurzte, brc ch ein Stückchen Brod
herab und kaute cS langsam.
Fünf Jahre blieb ihre Ehe kinderlos.
Da pli>tzlich ward sie guter Hoffnung.
DaS war ein unsinniges Entzücken! Er
wich nicht mehr von ihrer Seite, so daß
seine Dienerin, eine alte Magd, die ihn
ausgezogen hatte und im HauS das
große Wort sührte, ihn öfter gewaltsam
hinausdrängen und die Thür hinter
ihm abschließen mußte, damit er srische
Lust schövie.
Er hatte mit einem jungen Mann,
der seine Frau seit ihrer Kindheit
kannte, und der jetzt SouS-Ches »m
Präfectur Bureau war, innige Freund
schaft geschlossen. Herr Duretour di
nirte dreimal die Woche bei Herrn Le
monnier und brachte der Gnädige»
Blumen, manchmal eine Loge in'»
Theater. Und oft beim Nachtisch wandte
sich der gute Lemonnier gerührt zu sei
ner Frau: „Mit einer Lebensgefährtin
wie Dich und einen Freund wie ihn,hat
man das vollkommene Glück auf Erden."
Sic starb im Wochenbett. Fast wär«
auch er vor Schmerz vergangen. Aber
der Anblick des Kindes gab ihm Muth.
Ein armes, hilfloses Wesen, daS wim
mernd nach Hilse verlangte.
Er liebte eS mit einer leidenschaft
lichen, schmerzlichen, krankhasten Liebe,
mit der sich das Andenken an den Tod
mengte, aber auch etwas von der Ver
götterung fortlebte, die er sür die Todte
gehegt hatte. ES war ein Theil ihrer
Selbst, ihr sortlebendes Sein, wie eine
Quintessenz ihres Wesens. Es war,
als wäre ihr Leben in einen andern
Körper, in de» Körper dieses Kindes
übe, gegangen, sie war verschwunden,
damit es zum Dasein erwache. Und der
Vatcr umarmte den Knaben mit wilder
Leidenschaftlichkeit.
Aber dieses Kind hatte sie auch ge
tödtet.es halte dieses angebeteteLeben au
sich gerissen, geraubt, es hatte sich davon
genährt, seinen Daseinsodem daraus
geschöpft.
Und Herr Lemonnier legte den Kna
ben in die Wiege und setzte sich zu ihm
und Hinz tausend traurigen oder süßen
Gedanken nach. Dann, als der Kleine
schlief, deugte er sich über fein Gesicht
chen und weinte in seine Kissen.
« « «
Der Knabe wurde größer. Der
Vater konnte keine Stunde mehr ohne
ihn zubringen; er schlich sich um ihn,
sührte ihn spazieren, zog ihn selbst an,
wusch ihn, gab ihm zu essen. Sein
Freund, Herr Duretour, schien den Kna
ben auch zärtlich zu lieben; es überkam
ihn manchmal, daß er ihn umarmen, an
sich drücken mußte, mit jener frenetischen
Zärtlichkeit, wie sie Eltern eigen ist.
Er hob ihn hoch in die Luft, bis zur
Zimmerdecke, ließ ihn stundenlang aus
den Bnnen reiten, dann legte er ihn
plötzlich aus den Knieen um und küßte
seine dicken Schenkel und die kleinen
runden Waden. Herr Lemonnier stam
melte cntzückt:
~ :>t er nicht allerliebst,ist er nicht al
lerliebst !"
Uno Herr Duretour schloß das Kind
in dieArine und vergrub seinen Schnurr
bart in den weißen Hals.
Nur Celeste, die alte Magd, schien sür
den Kleinen gar keine. Zärtlichkeit zu
fühlen. Seine Schelmenstreiche mach
ten sie ärgerlich, die Schmeicheleien der
b.'iden Männer schienen sie außer Rand
und Band zu bringen. Sie rief:
„Wie kann man nur ein Kind so
schlecht erziehen! Sie werden einen
schöne.« Thunichtgut aus ihm Machen!"
Jahre vergingen und der kleine Jean
war inzwischen neun Jahre alt gewor
den. Er konnte kaum lesen, so sehr war
er verzogen worden, so sehr mußte Alle»
nach seinem Kopfe gehen. Er hatte sei
nen hartnäckigen Willen, Ansälle von
wüthendem Zorn und hartnäckigstem
Widerstand. Der Vater gab immer
nach, erlaubte Alle». Herr Duretour
kaufte und brachte unaufhörlich Spiel
zeug, daS der Kleine begehrte, und füt
terte ihn mit Kuchen und allerhand
Dann war Celeste immer zornig und
schalt:
„Eine Schande ist'S, Herr, eine
Schande! Sie machen diese» Kind u» l
glücklich, vcr'tehen Sie wohl, unglücklich
Aber das muß ein Ende nehmen!
ja, das wird ein Ende nehmen, ich sag's
Ihnen, ich verspreche es Ihnen, und da»
bald!"
Herr Lemonnier erwiderte lächelnd:
„Was willst du haben, meine Liebe?
Ich habe ihn zu gern, ich kann ihm
nickt widerstehen; darein wirst du dich
wohl ergeben müssen."
. *
Jean fühlte sich etwas unwohl und
schwach. Der Arzt constatirte Blut
leere und verordnete Eisen, halbgebra
tenes Fleisch und kräftige Suppe.
Aber der Kleine wollte nur Kuchen
habe»; er wies jede andere Nahrung
zurück, und der verzweifelte Vater stopfte
den Kleinen mit Cremetörtchen und
Chocoladekrapfen.
Eines Abends, al» sie sich zu Tische
setzten, brachte Celeste die Suppenschüssel
mit einer Zuversicht und einem bestimm
ten Anstreten herein, wie eS ihr sonst
nicht eigen war. Rasch nahm sie den
Deckel ab, tauchte den Schöpflöffel ein
und erklärte:
„DaS ist eine Suppe, wie ich noch
keine gekocht habe; heute muß aber der
Kleine davon essen."
Herr Lemonnier senkte den Kops.
Er sah wohl, daß das schlecht ausgehen
werde.
Celeste nahm seinen Teller, füllte ihn
selbst und stellte ihn dann rasch vor ihm
nieder.
Er kostete die Suppe und sagte:
„Sie ist wirklich vortrefflich!"
Nun packt- die Magd den Teller de«
Kleinen und füllte ihn ebenfalls mit
Suppe. Dann that sie zwei Schritte
zurück und wartete.
Jean roch an dem Teller, stieß ihn
zurück und machte eine Geberde des
Ekels. Celeste war bleich geworden.
Heftig näherte sie sich, ergriff den Löffel
und steckte ihn, mit Suppe gefüllt, ge
waltsam in den halbgeöffneten Mund
des Kleinen.
Er bekam die Suppe in die unrechte
Kehle, hustete, räusperte sich, spuckte und
faßte heulend nach seinem Wasserglas,
das er mit aller Kraft gegen die Magd
schleuderte. Es flog ihr gerade an den
Bauch. Da faßte sie erbittert den
Kops deS kleinen Bengels und begann
ibm die Suppe Löffel auf Löffel in die
Kehle zu gießen. Er spie sie immer
wieder aus, stampfte mit den Füßen,
wand sich, verlor den Athem, fuchtelte
mit den Händen in der Luft umher, al»
ob er ersticken wollte.
j Der Vater war erst so verblüfft, daß
er bewegungslos dastand. Dann stürzte
er urplötzlich mit der Wuth eines rasend
gewordenen TollhäuSlerS auf die Magd
IoS, packte sie bei der Kehle, warf sie ge
gen die Mauer und rief:
! .Hinaus! Hinaus! Hinaus! Un
geheuer!"
Aber mit einem Ruck stieß sie ihn zu
rück, ihr Haar löste sich, die Haube lag
im Nacken, die Augen glühten und sie
- schrie:
„Was glauben Sie denn? Sie wol
len mich schlagen, weil ich dem Kinde,
daS Sie mit Ihrer Nachgiebigkeit töd
ten werden, ein wenig Suppe zu essen
i gebe?"
j Er wiederholte, vom Kopf bis zu den
Füßen bebend:
„Hinaus! Pack' dich pack' dich,
Ungeheuer!"
l Wie rasend kam sie wieder auf ihn
IoS und Aug' in Aug' mit bebender
Stimme:
„Ah, Sie meinen.... Sie meinen,
daß Sie mich so behandeln dürfen, mich,
mich? O nein! Und das Alles wegen
dieses Grünschnabels, der nicht einmal
Ihr Kind ist! Nein, nicht Ihr Kind!,
l Nicht Ihr Kind, nein, nein! Alle
Welt weiß es ja, potztausend, außer
Ihnen! Fragen Sie nur den Krämer,
den Bäcker, den Fleisch:r, Alle
, Alle!"
Sie stotterte vor Zorn und Auf
regung, dann schmieg sie und sah ihn an.
Er stand bleich und regungslos mit
herabhängenden Armen da. Dann,
nach einigen Secunden, stammelte er
mit erloschener, bebender Stimme, in
der dennoch eine gewaltige Erregung
zitterte:
„Was sagst du? Was sagst
du? Was?"
Sie schwieg, erschreckt von seinem
Gesicht Sarsdruck. Er machte einen
Schritt nach vorwärts und wieverholte:
„Was sagst du? Was?"
Da erwiderte sie mit beruhigterer
Stimme? „Ich sage, wa» ich weiß, was
alle Welt weiß, meiner Treu!"
Er erhob seine beiden Arme, warf
sich auf sie mit thierischer Wildheit und
versuchte sie zu würgen. Aber sie war
kräftig und beweglich trotz ihre» Al
ter». Sie entschlüpfte ihm, lief rings
um den Tisch und kreischte in erneutem
Zorn:
„So sehen Sie ihn doch an, blicken
Sie bin, Dummkopf, der Sie sind, ob
er nicht ganz das Ebenbild de» Herrn
Duretour ist. Sehen Sie doch seine
Naie an, seine Augen! Haben Sie
solche Augen ? und die Nase? und die
Haare? Oder hatte sie etwa solche?
Alle Welt, lag' ich Ihnen, weiß e» ja,
alle Welt, Sie ausgenommen! ES ist das
Gelächter der ganzen Stadt! Sehen Sie
ihn nur an —"
Sie kam an der Thür vorbei, schloß
sie auf und verschwand.
Jean blieb entsetzt und unbeweglich
vor seinem Suppenteller sitzen.
.
Nach Verlauf einer Stunde kam sie
wieder herein, um nachzusehen. Der
Kleine war nun, nachdem er die Kuchen
und das Compot verspeist hatte, daran,
den Confilurentops mit seinem Suppen
löffel zu leeren.
Der Vater war ausgegangen.
Celeste umarmte das Kind, trug eS
leisen Schritte« in sein Zimmer und
legte eS zu Bett. Und sie kehrte in'S
Speisezimmer zurück und brachte Alles
in Ordnung. Sie war sehr beun
ruhigt.
Man vernahm gar keinen Lärm im
Hause, gar keinen. Sie horchte am
Zimmer ihres Herrn. Nichts rührte
sich. Sie l-gte das Äuge an'S
Schlüsselloch. Er schrieb und schien
ruhig.
Dann ging sie in die Küche und setzte
sich nieder, um sür jeden Fall bereit zu
> sein: denn sie witterte wohl etwas
Schlimmes.
Sie schlief auf ihrem Stuhle ein und
wachte erst des Morgens auf.
Wie gewöhnlich des Morgens be
sorgte sie den Haushalt; sie kehrte,
staubte ab und bereitete gegen 8 Uhr
den Kaffee für Herrn Lemonnier.
Aber sie wagte es nicht, ihn in'S
Zimmer zu bringen, da sie nicht reckt
wußte, wie er sie empfangen würde, und
sie wertete ab, b>S geläutet werde. Er
! läutete nicht. Es ward g Uhr, 10
! Uhr.
Celeste richtete bestürzt ihr Plateau
zurecht und machte sich klopsenden Her
zens aus den Weg. Bor der Thür
blieb sie stehen und lauschte. Nicht»
regte sich. Sie klopft». Keine Ant
wort. Da nahm sie ihren ganzen Muth
zusammen, öffnete, trat ein und ließ mit
einem entsetzlichen Schrei das Frühstück
zur Erde sollen.
Herr Lemonnier hatte sich an einem
mitten am Plasond befestigten Lampen-
Haken erhenkt. Die Zunge hing ,hm
entsetzlich heraus. Sein rechter Pan
toffel lag aus dem Boden. Der linke
war am Fuß geblieben. Ein umge
worfener Stuhl war bis zum Bett ge
rollt.
Celeste ergriff beulend und fast be
sinnungslos die Flucht. Alle Nach
barn liefen herbei. Der Arzt consta
tirte, daß der Tod gegen Mitternacht
eingetreten sein müsse.
Ein an Herrn Duretour adressirter
Brief wnrde auf dem Tisch des Selbst
mörders vorgesunden. Er enthielt nur
diese Zeile:
„Ich scheide, sorgen Sie sür den
Kleinen."
Ter Talai Lama.
In Murrans Magazin findet sich ein
interessanter Artikel über den Hxrrjcher
und das Volk von Tibet, dem wir Fol
gendes entnehmen: Der gegenwärtige
Dalai Lama so heißen TibetS Herr
z scher ist der siebente, der seit Beginn
dieses Jahrhunderts den Thron bestie
i gen hat. Keinem von ihnen ist es ver
l gönnt gewesen, das zwanzigste Jahr zu
erreichen. Mr. Sandborg, der Ver
fasser des ArtilelS, erklärt offen, dah
die Chinesen dafür verantwortlich se«,.
„Um ihre Stellung in Tibet zu behaup
ten," heißt e», „die Producte des Lan
des zu ihrem Vortheil auszubeuten und
andererseits wieder die alleinige Liese
rantin desselben zu sein, trägt die
chinesische Regierung kein Bedenken, dm
Mord jedes einzelnen Landessürsten zu
veranlassen, bevor er mündig wird.
So sind wenigstens fünf der Dalai La
mas während des laufenden Jahrhun
derts aus geheimen Befehl von Peking
aus mit Ueberlegnng zu Tode befördert.
Man läßt den jungen Herrscher ruhig
leben, bis er daS Alter erreicht, welches
ihn berechtigt, die volle Souveränität
auszuüben; dann kommt das Edict, daß
er sterben muß. und irgend ein gefügi
ges Werkzeug führt daS blutige Ende
herbes
Die hohen Würdenträger des Staa
tes scheinen sehr wohl zu wissen, daß
ihre geheiligten Herrscher das Leben
aus verrätherische Weise verloren haben;
aber Drohungen und Bestechungen der
chinesischen Gejaßdten in Lhassa
Hauptstadt) haben bisher jeden Ver
such, das Leben eines der jungen Für
sten zu retten, vereitelt." Die jetzige
Lage der Dinge bietet der nationalen
Partei günstigere Aussichten. DaS
Volk ist von Unwillen ergriffen gegen
die Anmaßungen Chinas, .der junge
Herrscher ist geistig und körperlich nn
voller Kraft und wird in achtzehn Mo
naten das Alter erreichen, um anstatt
des bisherigen Regenten die weltliche
Macht zu übernehmen, wie er schon vor
her von der geistlichen Gewalt Besitz
ergriffen hat.
„Man muß bedenken," fährt Herr
Sandberg fort, „daß von der großen
Masse des Volkes, den Mongolen
horden von Khoko-Nur und der chinesi
schen Tatarei, den Kalmüken und Bur
jaten deS asiatischen Rußlands, dieser
geheiligte Jüngling als eine Gottheit
betrachtet wird, die über allen Göttern
steht. Alle diese Völker, fromme und «
eifrige Buddhisten bis auf den letzten
Mann, würden auf jeden Ruf von dem
höchsten Haupte ihres Glaubens zum
Religionskrieg herbeieilen. Der Dalai
Lama, der Vertreter Buddhas auf Er
den, von dem Fremden bedroht, sein
Leben in Gesahr, daS würde in der
That ein Schlachtruf von zauberhafter
Wirkung sein. Bisher ist bei den er
gebenen Anhängern deS Dalai Lama
niemals der Gedanke an einen Kampf
ihres Oberhauptes gegen den chinesi
schen Kaiser erweckt worden; aber die
wenigen, die darüber zu urtheilen ver
mögen, können nicht daran zweifeln, daß
dieser Kampf bevorsteht. Di- Excesse,
welche neuerdings von Chinesen in Ti
bet begangen sind, haben eine Krisis
herbeigesührt, die nur auf das Erschei
nen eines gläubigen Vorkämpfers war
tet. um einen bluligen Kreuzzug zu er
öffnen.
Wohl zu merken!
Du magst darüber glücklich sein,
Wenn dich deS Fürsten Gunst bescheint.
Doch immer präg' dir Dieses ein:
Daß er der gürst und du der Freund.
„Aber, Lina, ich erfuhr,
daß gestern Jemand bei Ihnen ,n der
Küche gesessen und Sie wissen doch,
daß ich Fremde in meiner Wohnung
nicht dulde." „Aber, gnädige Frau,
mein Bräutigam ist mir doch kein Frem
der mehr!"
Doppelsinnig. Braut:
„Nicht wahr, Oskar, wenn wir verhei
rathei sind, bleibst Du immer zu Hause
und ich singe und spiele Dir was vor?l"
Bräutigam: „Jawohl, theure Olga,
ich hab' mir ohnehin nie etwas aus
Vergnügungen gemacht."