Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, December 04, 1890, Page 2, Image 2

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«t« tn Zkenschengtft«»»»
John Hanson Eraig, der
Riese.
Das Städtchen Danville, welches IS
Meilen westlich von Indianapolis, Jnd,
an der „Big Four" - Eisenbahn belege»
nndderCountysitz von Hendricks
ist, hat unter seinen 2000 Einwohnern
«inen Mann, wie ihn wohl die übrig«
Welt nicht aufzuweisen hat. Es ist dies
der Riese John Hanson Eraig, dessen
Körpergewicht die Kleinigkeit von 907
Pfund beträgt. Die Länge dieses
lebendigen Fleischklumpens ist nicht un.
gewöhnlich, da John nur «! Fnß 5 Zoll
vom Scheitel bis zur Sohle miftt. De,
Mann, welcher jetzt 35 Jahre zählt uui
sich stets der besten Gesundheit erfreut
hat, ist in lowa Eounty, lowa, als
Sohn von Eltern geboren, deren Kör
perdimenfionen nicht einmal das Nor
malmaß erreichen. Seines Vater?
Körpergewicht betrug kaum 120 Pfund,
während seine Mutter um 5 Psund we
niger wog. Als John das Licht dei
Welt erblickte, wog er nur 11 Pfund.
Bald nahm er an Leibesfülle zu und in
Alter von 11 Monaten war er bereits
77 Pfund schwer; sür jeden Monat sei
nes Lebens hatte er somit 7 Psunt
Fleisch auszuweisen.
In seiner srühesten Jugend wurde er
Tiach der berühmten Blaugras-Gegend
von Kentucky gebracht und unter den
»Corncrackers" nahm er in phänome
naler Weise an Fleisch zu. Als zwei
jähriger Knabe wog er bereits 206
Psund und ein Jahr später erhielten
feine Eltern auf Barnum's „Baby-
Ehow" in New Uork sür ihren Johnnie,
als das schwerste Baby, den ersten
Preis im Betrage von tIOOO. Im
Alter von S Jahren wog der Knabe 302
Psund und in den nächsten 6 Jahren
nahm er um weitere 103 Psuud zu.
Als l 9 Jahre alter Jüngling hatte er
bereits ein Körpergewicht von KOl
Psund und als junger Mann vvn 2S
Jahren wog er 72S Psund. In den
nächsten zwei Jahren nahm er nur um
33 Pfund zu, das Jahr daraus machte
ihn wieder um 34 Pfund schwerer, so
daß er im Alter von 28 Jahren 792
Pfund wog. In den letzten sieben
Jahren ist sein Körpergewicht stetig ge
wachsen und beträgt dasselbe jetzt 907
Psund. Aus seiner bisherigen stetigen
Zunahme an Fleisch ist zu schließen, daß
er sein Maximalgewicht noch nicht er
reicht hat.
John Hanson Eraig verdankt übri
gens seine colossale Beleibtheit nicht
seinem übermäßigen Appetit; er ist
vielmehr im Essen und Trinken sehr
niäßig. Die Fleischmassen seines Kör
vers verursachen dem Manne nicht die
geringste Last. Welche Dimensionen
fein Körper hat, mag daraus entnom
men werden, daß er um die Hüften 3
Fnß 4 Zoll mißt. Selbstverständlich
gebraucht er sür seine Kleider ganz rie
sige Qualitäten Stoff. Für einen vol
len Anzug, Rock, Hose und Weste, muß
sein Schneider 41 Hards nehmen und
drei Psund Garn gehen aus ein Paar
seiner Strümpfe.
In Eraigs Adern rollt eine Mischung
von deutsche«!, irischem, schottischem unk
englischem Blut. Sein Großvater müt
terlicherseits war ein Schotte und seine
Oroßniltiter eine Deutsche aus Frank
surt. Sein Urgroßvater mütterlicher
seits war der in Irland geborene erst«
Gouverneur von Vermont, Ehittenden.
Sein GroHvater war in England gebo
ren und ftarb nach 35jährigem Dienst
-als Assistant Generalarzt der Ver.
Staaten zu East Liberty, Pa. Eraig
Zyat sich trotz seiner riesigen Beleibtheit
«in Weibchci. von zierlicher F!gur ge
iwmmen u«d diese Ehe ist vor
einigen Tage« durch die Gebert eines
MädckenS ge-exnet werden, das sich in
Nichts von den BabieS normale Väter
unterscheidet.
«tag..
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Und was ich dagegen nur thu?
Ich hwbe jetzt factisch hier oben
Auch lucht einen Augenblick Ruh'.
Fast jeder germanische Jüngling
Erpreßt sich aus mich eine» Reün.
Es suchen mich, heinebegeistert
Die deutschen Backfische heim.
Der Maler mit leuchtenden Blicken
In himmelhochjauchzender Pein,
Er kritzelt mich, sehnsuchtdurchschauerk.
Entzückt in sei« Skizzenbuch ein.
In jammervcll-ichrecklichen Tönen,
In Solo, Duetten, im Chor,
Steigt täglich zu m-inen Ohren
Ein Heer von Gesängen empor.
Es spähet zu meinem Scheitel
Der Britte monoclelnd hinan
DaS hat mit seinem Singen
Im Leichtsinn der Heise gethan.
- Mißverstanden. Lehrer
<in, Examen) giebt den Satz zum Nie
derschreiben auf: „Die Frau, erschreckt,
entfloh." Schulratl, prüft das Ge
triebene bei einem sckwachen Schüler
der letzten Bank und finoet: .Die Frao
erschreckt den Floh."
Bet Beide«.
Schweigend, aber sichtlich doch tief
ergriffen, hatten die jungen Ehegatten
dir Worte des Predigers angehört, der
mit dem geistlichen Sühneversuch in
ihrer Ehescheidung? Sache gerichtlich be
traut worden Ivar. Nachdem er ihnen
eindringlich zugeredet, hatte er sie eine
halbe Stunde allein gelassen zn gegen
seitiger Aussprache. Als er zurück
kehrte, war keine Annäherung erfolgt,
der Gatte stand am Fenster und trom
melte ans die Scheiben, die jnnge Frau
saß in der entserntesten Ecke bleich wie
der Tod. Der Ehescheidungsproceß
mußte seinen Verlauf nehmen.
Sie gingen heim, aber nicht mit ein
ander. Martha wählte tief verschleiert
den nächsten Weg, um i» ihrem Zimmer
den Thränen freien Lauf zu lassen.
Heinrich trat in eine Restauration, um
zu Mittag zu essen nnd nach den An
strengungen des Tages ein gutes Glas
Wein zu trinken. Auch schmeckte ihm
Beides wider Erwarten gut. Daun
eilte er in's Geschäst. Es gab viel zu
thun, und die Arbeit zerstreute ihn an
genehm.
Gegen Abend ging er, um seine Kin
der zu sehen. Aber auch jetzt nahm er
einen Umweg über die Promenade, nm
zu überlegen. Bis zum heutigen, na
türlich resultatlos verlansenen Sühne
versuch war man in der Entwickelung
der schwierigen Angelegenheit glücklich
angelangt. Glücklich? Das Wort
klang wie Hohn, aber es war doch
Galgenhumor, der eS ihn laut aus
sprechen ließ. Die jüngstvergangene
Zeit war für die Betheiligten so unend
lich peinvoll gewesen, daß man gegen
wärtig eine unwillkürliche Erleichterung
empfinden mußte. Wie die traurige
Sache gekommen war? Wer vermöchte
es zu sagen! Nicht äußere Rücksichten
hatten sie zusammengeführt, sondern di«;
leidenschaftliche Liebe. Und diese Liebe
war über sie gekommen wie ein Götter
strahl — nun waren sie Beide vom Blitz
getroffen! Allmälig war ein erstes,
Mißverständniß gekommen, welches sie
erkennen ließ, daß sich ihre Geister doch
nicht so schnell verstanden hatten wie
ihre heißliebenden Herzen. Und nach
dem das erste Mißverständniß unge
schlichtet geblieben, und die Lücke nur
mit einem Kuß zugedeckt, war bald ein
zweites und drittes daraus emporge
wachsen. Das Nachgeben ward nun
schwieriger, zumal sie eigentlich früher
niemals Gelegenheit gehabt hatten, eS
auszuüben er so wenig als sie.
Heinrich Wildhagen hatte das Ge
schäst des Vaters in jungen Jahren
selbstständig übernommen, man hatte
ihm, bei der Kränklichkeit des Prinzi
pals, eigentlich schon als Knaben
wie dem Herrn gehuldigt. Martha war
als liebreizendes, einziges Töchterchen
mit ein paar Brüdern im Elternhause
ausgewachsen und hatte es immer selbst
verständlich gefunden, daß man jede
Rücksicht auf sie nahm. Der Gatte aber
sand das bald unbequem und war auch
nicht gewillt, ein Geheimniß daraus zu
machen. Schroff trat er ihr entgegen,
anfangs mit Thränen, später mit
Trotz wehrte er sie ab. DaS gab harte,
böse Scene», die ihn aus dem Hause
trieben. Einflüsterungen vvn außen
kamen nun dazu, es sielen ungezählte,
bittere, schreckliche Worte. Endlich,
nach einem Lähmungskramps beschloß
man, sich zu trennen. Ja, es war
besser, tausendmal besser aus diese
Weise.
Nur die Kinder was sollte mit
ihnen werden? DaS Gesetz sprach sie
,-im zurückgelegten vierten Lebens
ahre der Mutter zu, dann gingen sie
ik, tmmer in die Obhut des Vaters
liber. Marthakind war fünf Jahre alt
und mußte somit die Heimath beim
Later fiiiven, während der dreijährige
Felix in der Pflege der Mutter verblieb.
Auch die Geschwister würden somit aus
tinander gerissen werden.
Freilich dürsten sie bald wieder zu
sammenkommen, wenn Felix gleichfalls
>aS vierte Lebensjahr zurückgelegt ha
ben würde. Aber gerade dieser Um
stand gab Heinrich, neben dem Triumph
über seinen vollständigen Sieg, auch ein
unbehagliches Gefühl. Trotz feines
leidenschaftlichen Hasses gegen feine
Frau konnte er sich von einer angebore
nen Großmuth nicht frei machen, die
ihn ihre künftige lebeuslange Einsam
leit Vellage» ließ. Mochte Martha als
Nattin reizbar und eifersüchtig, launen
haft und trotzig gewesen sein, als Mut
ler war sie tadellos. Er brauchte sie
nur nach der heftigsten Secne in sonni
ger Dämmerstunde aus der Ofenbank
sitzen zu sehen. Marthakinds braunen
Hopf an ihre Brust gedrückt, während
Felix an den Falten ihres Kleides wie
in einer Himmelsleiter emporkletterte,
am die Uhr ticken zu hören, so war er
wieder versöhnt. Wenn die Leidenschaft
verstummt war, mußte sie eine unend
liche Leidenschaft erfassen und ihr bei
ihrer zarteu Gesundheit ein frühes Grab
bereiten.
Was thun? Er nahm sich vor, die
kleinen schars zu beobachten, um un
parteiisch zu ergründen, in ivessen Ob
hut sie sich wohl am besten befinden
würden.
Er sand sie mit der Bonne im Gar
len. Da ihn die Kleine« während des
ganzen T-geS nicht gesehen, ließ Felix
sofort seinen hölzernen Rappen aus der
Landstraße stehen, um zu ihm zu eilen,
auch Marthakind schmiegte sich mit ihrer
Puppe an seine Seite.
„Wollen wir zusammen spielen?"
'rüg er.
„O ja, Papa!"
„Zuvor aber wollen wir die Blumen
begießen sie sind durstig. Wo ist die
Gießkanne?"
Mcr hakind brachte eine kleine Gieß
kanne herbei und ging, um Wasser zu
schöpfen. Dann überließ sie dieselbe
dem Vater und ihrem Brüderchen und
begann aus dem maifrischen, reichlich
mit Apielblüthenschnee übersäten Rase«
Veilchen zu pflücken.
.Wer soll denn Deine Blumen haben,
Marthakind?" frug Heinrich lauernd.
„Wer? Nun Mama!"
„Warum bringst Du sie denn nicht
Papa?-
„Weil, weil Mama nickt mehr wei
nen soll." Dann, in einem unbestimm
ten Gefühl, setzte sie altklug hinzu:
.Männer tragen keine Sträuße!"
Martha, die hinter der rothbesranz
ten Gardine der Veranda saß, empfand
Wonne und Weh zugleich im Herzen
und beugte sich tiefer auf ihre Näharbeit
nieder. Stich um Stich zog sie den
Faden, es war so süß, für da» ihr bald
entrissene Marthakind noch schaffen zu
können.
Inzwischen hatte Heinrich mit Felix
die Blumen begossen und späterhin so
gar kunstgerecht den Rappen einge
spannt. Es war lange her, daß er
nicht mehr mit den Kindern gespielt
hatte, ihre Fortschritte und Lebhaftig
keit verursachte ihm große Freude. Auch
die Kleinen schienen hochbeglückt, und
beklagten den Abschied, als sie in's
Haus gerufen wurden. Seines Sie
ges über die kleinen Herzen sicher,
konnte Heinrich nicht umhin, sie zu
fragen:
„Mögt Ihr lieber bei Papa oder bei
Mama fein? Bei wem wollt Ihr blei
ben? Bei Papa?"
„Nein!"
»Bei Mama?"
„Nein, bei Beiden!" sagte Martha
kind sehr bestimmt.
„Bei Beiden!" wiederholte Felix
chen.
Eine Geschäftsreise, die Heinrich zu
machen hatte, kam ihm diesmal sehr
gelegen, sie konnte eine Woche dauern
und mußte von der unangenehmen Zeit
des Interimistikums einen Theil hin
wegnehmen. Wenn er zurückkam, war
der Proceß spruchreif. Es handelte
sich überhaupt nur noch darum, ob die
Publieirung des Erkenntnisses ein Jahr
auszusetzen sei, um den Ehegatten Ge-
legenheit zur Versöhnung zu geben.
! Beide Anwälte hatten jedoch um sofor
tigen Richterfpruch gebeten.
Es waren unsäglich wonnevolle und
ebenso schmerzensreiche Tage, die
Martha allein mit den Kindern ver
lebte. Noch gehörten sie ihr. und sie
ihnen! Später würden sie nur zum
Besuch bei ihr sein, obgleich das Mut
terherz doch ihre eigentliche Heimath
war.
Marthakinds Geburtstag gab ihr
Gelegenheit, die Kleine mit Zärtlichkeit
zu überschütten. Jeder Wnnsch war
dem Kinde abgelauscht worden, der
Geburtstagstisch zeigte eine Ueber
schwenglichkeit und Fülle, wie nie vor
her. Als aber Nachmittags die Choko
lade auf dem Tisch stand, ahm die
Kleine plötzlich das beste Stück Kuchen
vom Teller, um damit zu verschwinden.
„Was willst Du thun? Wem willst
Du den Kuchen geben?" frug die Mut
ter ahnungsvoll.
„Nun, ich will es für den Papa auf
heben !"
Die Antwort gab Martha einen Stich
In's Herz. Sie hätte die Kleine dop
pelt lieben mögen und mußte ihr doch
gram sein. Um sich und die Kinder zu
zerstreuen, setzte sie sich an'S Piano und
! spielte einen Tanz. So kam der Abend
heran; müde vom Genuß streckten sich
die Kleinen endlich in ihren Bettchen.
! Martha trat heran, um sie das Nacht
gebet sprechen zu lassen, wie immer.
Nachdem sie noch den Gutenachtkuß em
pfangen hatten, frug sie eifrig und
schüchtern zugleich:
„Wenn nun Mama hinweggehen wird
von Papa. Marthakind, bei wem möch
test Du sein, bleiben? Bei Papa oder
Mama?"
„Bei Beiden!" sagte das Kind fast
vorwurfsvoll.
„Bei Beiden!" wiederholte Felixchen,
die Guckäuglein öffnend.
Martha biß sich auf die Lippen und
schluckte eine Thräne hinab. Dann be
zann sie sich auszukleiden,. um gleich
islls zur Ruhe zu gehen. Rechts und
links von ihrem Lager standen die Kin
derbettchen ach, es war so süß, noch
.wischen ihnen ruhen zu dürsen.
Schluchzend barg sie ihr Haupt in den
Kissen.
Schon am anderen Tage kehrte Hein
rich zurück. Die Begrüßung war kühl
and zwangvoll. Aber die Gewißheit
»es nahen Endes ihres Zusammen
lebens ließ Beide einander mit Rücksicht
begegnen.
Um eine äußerlich bemerkbare größere
Zuneigung der Linder begann jetzt ein
eifriges, offenkundiges Werben. Es
ivar nicht vollständig bewußt, aber doch
sbsichtlich. Heinrich wollte, da der
Kamps einmal ausgenommen, nun auch
zen Triumph des Sieges genießen,
vann vielleicht würde er sich auf
irgend eine Weise großmüthig zeigen.
Martha aber gedachte in erster Linie
das Glück des Augenblicks noch ordent
lich auszukosten, auch hoffte sie, den
lkinderherzen durch vermehrte Güte das
Mutterbild unauslöschlich einzuprägen.
Da sie aber Marthakinds Herzchen als
ganz besonders seinsühlend kennen ge
lernt hatte, galt es, immer und jederzeit
Selbstbeherrschung zu üben. Auch ge
lang es der Mutterliebe, Laune und
Trotz zu überwinden. Dennoch blieb
Marthakind der erhöhten Zärtlichkeit
gegenüber unbestechlich, und ihr- Ant
wort auf die von den Eltern heimlich
oft wiederholte Frage: „Bei wem willst
Du bleiben, Marthakind?" blieb jeder
zeit dieselbe und lautete stehend: .Bei
Beiden!"
Die Koffer der jungen Frau standen
gepackt, morgen schon wollte sie still und
abschiedslos das Gattenhaus verlassen,
auf immer. Da erkrankte Felix leicht,
die Abreise nach Marthas Elternhaus
mußte einige Tage aufgeschoben werde».
Da Marthas Kräfte gänzlich erschöpft
waren, besorgte die Wärterin die
Pflege eigentlich allein, die Eltern ka
men nur in regelmäßigen Pausen, um
sich nach dem Befinden des kleinen Pa
lienten zu erkundigen. So vergingen
«inige Tage. Besserung trat ein. »nd
der Tag der Abreise konnte von Neuem
festgestellt werden.
Da eines Morgens traf Heinrich
Marthakind weinend aus der Treppe.
„Warum weinst Du?" fragte er.
„Ich weine, weil Mama um Brüder
chen weint!"
Heinrich war sofort im Krankenzim
mer und traf Martha am Bettchen
sitzend und Felix im stärksten Fieber.
Am Abend vorher war ans unbegreif
lichen Ursachen ein Rückfall eingetreten.
Die Wärterin hatte Martha geweckt,
nnd halte »ach dem Arzt gesandt, der
den Zustand bedenklich sand.
„O, der nasse Hut!" wehrte Felix
hastig ab, als Marth» die verordnete
kalte, nasse Kompresse aus das brennend
heiße Köpschm lege» wollte, und schlug
i» steigender Fieberhitze nach der Pfle
gerin.
Heinrich leistete sofort Hilfe, und da
Martha die Krankenpflege keiner be
zahlten Wärterin mehr anvertrauen
wollte, konnte er nicht umhin, sie in der
Pflege ihres gemeinschaftlichen Lieb
lings zu unterstützen. So verbrachten
sie die letzte Zeit vor ihrer ewigen
Trennung mit ein»nder und waren ge
zwungen, sich wieder in's Auge zu se
hen, wie sie ehedem gethan hatten. Ja,
eS gab förmlich wieder ein Ausweichen
Ver Blicke und ein Angenniederschla
gen.
Gesprochen wurde wenig und nur
über das Nächstliegende. Aber der
Klang ihrer Stimme, wenn sie leise und
liebevoll mit dem Knaben sprach, griff
Heinrich an's Herz, er hörte plötzlich
den Klang der Liebe heraus, nur rei
ner, heiliger! Am Abend zwang ihn
ihre Kraftlosigkeit, zu sagen: „Ich
werde die Wärterin herbeordern, lege
Dich schlafen!"
„O nein, nicht wieder die unzuver
lässige Wärterin!"
„So werde ich selbst bei Felix blei
ben! Ich stehe Dir dafür, daß ich die
Krankenwache halten werde!"
„Ich glaube Dir! Aber Du mußt
schlafen! Ist jetzt nicht die Zeit, wo
Du besonoers stark im Geschäst in An
spruch genommen bist? Ja, Du mußt
schlafen!"
Ihre Fürsorge überraschte ihn, er
hatte sie lange nicht empfunden und
glaubte sie überhaupt erloschen. Darum
konnte er nicht umhin, sie angenehm zu
empfinden, und es lag etwas wie Rüh
rung und Dankbatkeit in dem Blicke,
mit dem er zu ihr hinübersah.
„Wir Frauen vertragen die Nacht
wachen überhaupt besser", fuhr sie ein
gehend fort. „Auch kann ich morgen
doch noch nicht abreisen."
„Bleibe so lange eS Dir behagt," er
widerte Heinrich in einem Tone, der
gleichgiltig klingen sollte, dem man aber
doch die innere Bewegung anmerkte.
„Schmerzt das Köpschen so stark?"
wandte sich die Mutter an den Knaben,
mehr zu tragcn im Stande war. „Ich
werde ihn stützen während der Nacht,
lege ihn hier auf meinen Arm!"
„Du hältst es nicht aus, Martha!"
„Ich glaube doch!"
Ihrem Zureden nachgebend, verließ
er sie endlich, um sich einige Stunden
niederzulegen. Aber ihr Bild, so wie
sie an Felix' Bettchen saß, begleitete ihn
in den Schlaf und war plötzlich wieder
der Gegenstand seiner Träumt, wie et
was, mit dem die Seele noch nicht abge
schlossen hat. Sie erschien ihm im.
Traum madonnenhaft, aber auch beim
Erwachen empfand er mit einer gewissen
Bewunderung, wie die Mutterliebe sie
über die Oberflächlichkeit und Leiden
jchaftlichkeit ihres sonstigen Wesens
herausgehoben hatte. Laune, Trotz
und Eifersucht erschienen ihm plötzlich
nur als die Fehler eines leidenschaft
lichen Naturells, ihr eigentliches Wesen
war noch im Werden und der Besserung
nicht allein sähig, sondern auch sicher.
Mit solche» Gedanken trat er ins Kran
kenzimmer zurück.
„O Heinrich, er wird leben!" trat sie
ihm entgegen, bleich wie der Tod, aber
mit strahlenden Augen.
Das Fieber hatte wirklich nachgelas
sen, einzelne leichte Schweißperlen lagen
als zarte Genesungströpfchen auf der
Stirn des kleinen Kranken. Hocherfreut
setzte sich Heinrich Martha gegenüber.
Als er sie aber schwanken sah in begreif
licher Mattigkeit und Schwäche, nahm
er den zarten Körper auf beide Arme
und trug sie aufs Sopha hinüber in sein
Zimmer. Sie aber ließ es geschehen,
still und sanft, wie ein unerwartetes
Glück.
„Ruhe Dich!" sagte er samt und sest
zugleich, indem er sie in seine eigene
Schlafdecke hüllte. „In zwei Stunden
werde ich Dich wecken, ehe ich ins Ge
schäft muß!"
Martha fand plötzlich wunderbar
süß, sich zu fügen, nnd schloß sofort die
Augem wie ein müdes Kind. Dann,
als fein Schritt verhallt war, öffnete sie
dieselben wieder, um sich neugierig in
seinem Zimmer umzusehen, das sie lange
lange nicht betreten hatte. Und doch
stand ihr Sessel noch an derselben Stelle
wie früher ja, dort pflegte sie zu
sitzen, wenn sie ihn besuchte, um mit ihm
zu plaudern. Auch ihr Bild hing noch
über seinem Schreibtisch, ebenso lag die
Schreibmappe mit den Heckenrosen und
dem Namenszug. die sie ihm eiuft zum
Geburtstag gearbeitet hatte,aus dem alten
Platz. Es war doch hübsch von ihm,
das er sie nicht entfernt hatte, trotz der
nahen ewigen Trennung. Nun aber
würden die Erinnerungen an sie sicher
lich entfernt werden. O, es war ent
setzlich ! Warum war sie nicht lieber ge
storben bei Felixchens Geburt, wo sie so
krank war? Dünn, ja dann hätte Hein
rich ihr Bild sicher theuerstes Andenken
ay seiner Seite gelassen, Selbst wenn
eine Andere hier eingezogen wäre, hätte
er dennoch zu ihm ausgeschaut, wie ein
Bräutigam, nur noch liebender und
dabei andächtig, wie man zu den Engeln
ausblickt! Ja, der Trauerflor hätte
ihrem Andenken eine ewige Weihe ge
geben.
Wieder schloß sie die Augen, aber die
Aufregung ließ sie nicht schlafen, schon
nach einer Viertelstunde stand sie Wiedel
drüben im Krankenzimmer diesmal
aber weniger, um bei Felix zu wachen,
als um die wenigen Stunden des Zu
sammenseins mit den« Gatten, den sie
doch aus freiem Entschluß verlassen
wollte, noch auszukosten. Sie schienen
ihr plötzlich köstliche Tropfen im Mee>
der Zeit! Heinrich schien auch fast er
freut über ihr Wiederkommen, es war,
als ob er eine Lücke empfände am Kran
kenbette des gemeinsamen Lieblings, di«
eben nur Martha allein ausfüllen könne,
darum schob er den weichsten Sessel sin
sie ans Bettchen und zugleich in die rich
tige Plauderdistance, und bat sie, sich zr
setzen.
In diesem Augenblick trat Martha
kind ins Zimmer, leise, als trüge si,
eine Tarnkappe anstatt des dunkel«
Lockengeriesels ans dem zierlichen Köpf,
che». Da sie während Brüderchens
Krankheit Mainas specielle Zürforg«
schmerzlich entbehrt hatte, sagte sie, sich
zärtlich anschmiegend:
„Ich will mit Dir gehen, Mama,
wenn Du verreisen wirst."
Und das Wort des Kindes schien
plötzlich auch das richtige Wort auf die
Lippen des Vaters zu legen, nach wel
chem er vielleicht längst vergebens ge
sucht hatte. De» Kopf des Töchter
chens liebevoll in di« Höhe richtend,
frug er scherzend und tiefernst zugleich:
„So wolltest Du Papa doch verlassen,
Du kleiner Bußprediger? Ich denke
aber, Du bleibst bei Beiden! Nichl
wahr, theure Martha?"
Aus dem Munde der jungen Fra»
klang ein Freudenschrei, so laut unt
durchdringend, daß Felixchen erwachte
Und während sie gebrochen und stolz,
jauchzend und weinend zugleich a»
seiner stürmisch klopsenden Brust lag,
wiederholte Felixchen in seinem Bett,
chen: „Zu Beiden!"
DaS Tampsklavier.
„Ich verdanke dem ehemaligen Direo
tor des Hippodroms Arnault", s«
schreibt Aurelien Scholl in seiner neue
sten Sonntagsplauderei im „Matin",
wie die „Fr. Z." schreibt, „Stunden dn
Heiterkeit, wie sie mir Zidler oder Loin
tia nie verschaffen könnten. Daj
Dampsklavier wiegt alle Werke Paul d«
Kocks auf. Es erlebte nur eine Vor
stellung, hätte aber beinahe SOS Men>
schen das Leben gekostet. Donnerstag,
denll. Jnli 1863. 4 Uhr Nachmittags,
nachdem die Wagenrenncn beendet wa
ren, der Mann mit der Kugel die Rund,
um die Rennbahn gemacht und der fal
sche Blondin den Eierkuchen hinausge
tragen hatte, den er auf dem Seil SV
Meter über dem Meeresspiegel gebacken
hatte, rief Arnault: „Das Dampftla
vier!"
Man sah nun einen Dampfkessel au
vier Räder» hereinrollen. Derfelbi
wnrde durch ein Pferd gezogen, waj
anfangs komisch wirkte. Ueber den
Kessel erhob sich eine Reihe Pfeifen,
ähnlich wie die Skala bei der Panflöte
Der Erfinder schürte das Feuer uni
drehte dann den Hahn. Sofort ergoß
sich der Dampf in sämmtliche Orgelpsei
sen aus einmal. Nein! Solch' ein Lärm
hat noch niemals die Ohren eines Men
schen getroffen. Kein Sturm, kein Erd
! beben, kein Vulkanausbruch haben ji
auch nur die Hälfte dieses Getöses her
vorgebracht!
Stellen Sie sich die Trompeten vor
Jericho vor und lassen Sie dieselbe»
vom Mistral anblasen; fügen Sie dann
noch das Brillen von Stil) Löwen hinzu,
die lebendig verbrannt werden, und das
Geschrei von 1200 betrunkenen Eseln,
dann können Sie sich einen schwachen
Begriff von den ersten Aktorden des
Dampsklaviers machen. Alle Leut«
stopften sich die Ohren zzi. Die Kinde»
schrieen. Den Frauen wurde übel. Ei
nige erschreckte Zuhörer retteten sich
durch eilige Flucht. „Was ist denn los?"
srng Arnault den Erfinder und dreht«
den Hahn. Man hat zu stark geheizt",
antwortete er. Der Lärm schwoll imme,
mehr an. „Geniig!" „Genug!" ries
man von allen Seiten, nur der Börsen
matler Emil Cremieux, der so taub war,
daß er, wenn man die Kanone im Jn
validenhotel abschoß, fragte: „Wie,
schon halb?"— Emil Eremieux ging
ans den Impresario zu und, fragte, auf
eine riesige Orgelpseife deutend: „Po
saune oder Piston?" Der Erfinder
antwortete verwirrt: „Hinten im Hofe
In diesem Augenblicke ertönt«
ein furchtbarer Knall, das Piano flog
in die Lust. Alle Leute suchten sich zu
retten. Als sich die Dampswolken ver
zogen hatten, sah man den Erfinder be
sinnungslos daliegen. Er hatte einen
dreisachen Armbruch erlitten. Die Or
gelpfeifen lagen verbogen auf dem Bo
deu umher, der Kessel war in der Mitte
geplatzt und die Kohlengluth flammte
ruhig weiter. Baron Bausin. General-
Secretär der Paris-Lyon - Mittelmeer
bahn, auf der sich damals zahlreiche Un
fälle ereigneten, sagte zu seinen Nach
barn: „DaS kann man wenigstens nicht
us Rechnung unserer Gesellschaft setzen."
Fragen und Antworten.
Wenn Sie Gold machen könnten, was
würden Sie daraus machen?
Ein Geheimniß.
Welche Beschäftigung näbrt mehr,
Sticken oder Malen?
--Jenach der Zeit: früh stücken,
Welches Pferd srißt Obst?
Der Schimmel.
Welcher Unterschied ist zwischen einem
Fisch und einer Thür?
Der Fisch hängt an einer Angel,
die Thür an zweien.
Wann werden die Reichen von den
Armen unterstützt?
Wenn sie ans Krücken gehen.
«enie nnd Wahnsinn.
Cesarc Lambroso, Professor der
Psychiatrie in Tnrin, welcher bereits ein
interessantes Buch über den Verbrecher
geschrieben, hat jetzt das Genie einer
gründlichen psychologischen Untersuchung
unterworfen und das Resultat in einem
Werke niedergelegt, welches in deutscher
! Ucbersetzung in Hamburg bei der „Ver-
lagSaiistalt nnd Druckerei, Aktiengesell
schaft" erschienen ist.
Was die großen Männer kennzeichnet,
sagt EharleS Richet, ist, daß sie von
Dem, was sie umgibt, sich unterscheiden.
Sie fördern Gedanken zn Tage, welche
die mit ihnen Lebenden nicht hatten und
nicht haben konnten. Sie sind grund
legend, originell. Sie sehen N'ehr, besser
und vor allen Dingen andcr-Z, als der
gewöhnliche Atenschenschlag.
Diese Eigenschaft der Originalität ist
unerläßlich sür das Genie, eS ist anders
als die übrigen Menschen, eS ist ab
norm. Laplace sagt: „Die Entdeckun
gen bestehen in der Bcrknüpsung derje
nigen Ideen, welche zu einander passen
und bis dahin vereinzelt standen." Der
geniale Mensch weiß die Fäden zu dieser
Verknüpsung hcraiiszusinden, die dem
gewöhnlichen Sterblichen entgehen
norme. Dasselbe ist nnn aber anch bei
den Irren der Fall. Sie haben origi
nelle Gedankenverbindungen in Ueber
sluß, die plötzlich hervorschießen nnd
bisweilen in lächerlichen Sprüngen sich
scheue und öfters ingeniöse Gedanken
reihen sich entsalten. WaS folgt da
raus? bemerkt Richet. ES solgt, daß
diese geistreichen Mensche», die sich über
die sie umgebende Mittelmasse erheben,
nicht die gewöhnliche Gesundheit be
sitzen. An ihnen haste» zugleich leib
liche wie geistige Flecken. Sie haben
Versolgungs- oder Größen- oder reli
giöse Wahnvorstellungen, was in zahl
reichen Beispielen durch Lambroso dar
gethan wird. Sie gehören Familien an,
in denen Degenerirte und Irre zahlreich
sind, die meisten unter ihnen sterben
kinderlos, oder die hinterlassenen Kinder
Ebenmaß.
So gibt es im Denken des genialen
Menschen etwas Maßloses, Außeror
dentliches, folglich Fremdartiges. Der
selbe Charakter der Fremdartigen wohnt
aber auch im Denken des Irren. Di«
bizarren Gedankenverwirrungen sind es,
ebenso wie die Träume des Haschischrau
chers und die Gedankensprünge ves Me<
niakalischen, die uns außer Fassung brin
gen.
Wenn nnn aber auch das Genie hiei
und da etwas dem Irren Aehuliches
zeigt, so unterscheidet es sich doch von
letzterem durch eine wesentliche Eigen
schaft. Die schnelle nnd bizarre Aus
sassung hat es allerdings gleich dem
Irren, aber es hat noch etwas mehr,
etwas, das seine Ausfassung fruchtbar
macht und nicht zu fruchtloser Abge
schmacktheit verkommen läßt, das ist die
Klarheit und Weite der Anschannng.
Bei Irren giebt es keine Zügel gegen
das Durchgehen, kein Machtgebot, die
Wahrheit der Dinge hat keinen Einfluß
für sie. Die geistvollen Menschen haben
dagegen neben ihrer feurigen Einbil
dungskraft große kritische Einsicht,welch«
bei ihnen irnmittelbar und fast gleichzei
tig mit der schöpferische» Jdeenbildnng
thätig ist. Diese Mischung von kriti
schem und Ersindniigsgeist macht seine
Stärke ans.
Der Gedanke nun, daß das Geni«
auf einer Psychose beruhen könne, be
merkt Lambroso, hatte mir zwar öfters
vorgeschwebt, ich hatte ihn aber immer
von mir abgewehrt. Bloße Ideen, ohne
sichere experimentelle Grundlage, gelten
ja übrigens heutzutage nicht mehr»; sie
sind wie todtgeborene Kinder, die sich
zeigen, um gleich darauf wieder zu ver
schwinden.
ES war Lambroso früher vergönnt
gewesen, mehrere DegenerationSmerk
male beim Genie zu entdecke», die als
Basis und Kennzeichnung sür fast alle
erblichen Geistesstörungen dienen—aber
die übertriebene Ausdehnung, die man
damals der DegencrationsHcoric gab,
»nd noch mehr der zu nnbestimmtc Cha
rakter, den die ganze Auffassung erhielt,
ließen Lambroso davon abstehen, so daß
er sich wohl die Thatsachen merkte, aber
die Folgerungen zu ziehen unterließ.
Wie soll man auch nicht vordem Gedan
ken schaudern, meint er, die erhabensten
Aeußerungen des menschlichen Geistes
auf eine Linie mit dem Wesen von
Idioten und Verbrechern gestellt zu
sehen!
Wie grausam und schmerzlich auch di«
Auffassung ist, wonach Genie und Neu
rose krankhafte Störungen in den
Funktionell des Nervensystems sür
gleiche» Wesens erachtet werden, so fehlt
anch die Begründung dafür nicht. Lam
broso sührt in seinem Buche zahlreiche
Beispiele dafür an, auf Grund deren
man unbedingt folgern muß, daß der
Genius für den Ausfall gewisser phy
sischer Funktionen zu dulden hat. im
Bau des jungen Organes, das seinen
Ruhm begründet, auch ungesunden Ver
hältnissen unterworscli ist.
Man kann annehmen, daß jede Zeil
und jedes Land seine Genies haben
kann, aber wie eS im Kampfe um'S Da
sein geschieht, wo der größte Theil der
Wesen nur entsteht, um einem Anderen
zur Beute zu fallen, so ergeht es auch
vielen Genies, daß.sie unbekannt bleiben
oder verkannt werden, wenn sie nicht den
günstigen Angenblick ersassen.
Gibt es nun auch civilisirte Länder
nnd Zeiten, die der Entwickelung des
Genies günstig sind, so gibt es auch
In deu Gegenden von Italien, wo
die Bildung von altersher besteht, wo
sie sich verschiedene Male gehoben und
jedesmal stärker befestigt hat nnd daher
den Volkscharakter durchdringt, ist das
Entstehen eines Genies seltener, also,
allgemein ausgedrückt, wo die Volksbil
dung älteren Ursprungs ist. da verhält
man sich gegen Neues abstoßender. In
den Ländern dagegen, wo d!e Cidilisa
tion jüngeren Datums und die Barba
rei länger herrschend gewesen ift, wie in
Rußland, da werden neue Ideen mit
der größten Bereitwilligkeit ausgenom
men.
Lambroso zeigt nun ferner, wo das
Genie bei den Irren zu Tage tritt und
die Entartungs - Psychose» des Geines.
So komnit er zu der Schlußsolg-rung,
daß Zwischen der Physiologie des Man
nes von Geist und der Pathologie hes
Irren es sehr zahlreiche Berührungs
punkte gibt, die sogar eine gewisse Eon
tinuität zwischen beiden herstellen. Man
kann sich daraus das häufige Vor
kommen von geistreichen Irren und von
geisteskranken Genies erklären, diezwar
ihre eigenthümlichen Eigenschaften be
sitzen, die ans der Uebertreibung der
jenigen beruhen, welche das Genie
verleiht.
<si» Aiasko A»elina Patti».
Es war zu Ende der siebziger Jahre
in Paris. Die unvergleichliche Diva hatte
sich noch nicht in die romantische Ein
samkeit des Feenschlosses Craig-h noS
zurückgezogen, sondern war noch eifrig
dabei, das Metall ihrer Kehle in jenes
andere, zwar weniger klangreiche, aber
vafür desto solidere umzusetzen, das es
ihr später ermöglichen sollte, Schloßher
rin im stolzen England zu spielen.
Einer der glänzendsten Salons in
jenen Tagen war der des Baron Hirsch,
des bekannten Erbauers der türkischen
Bahnen, der sich aus diesem Geschäst
bekanntlich mit der Kleinigkeit von 150
Millionen Francs zurückgezogen hat.
Er hatte der Kaiserin Eugenie die klei
nen Paläste in der Rue de t'Elysee
abgekauft und war in feinem glänzen
den Hoiel somit der unmittelbar» Nach
bar des Herrn Grevy— mit dem er sich
jetzt über die Wandelbarkeit alles Jrdi
schien trösten kann. Damals waren
seine Salons die besuchtesten, seine Fest
lichkeiten die luxuriöseste». Die ganze
höh: Gesellschaft von Paris drängte sich
zu seinen Soireen, selbst die Königin
Jsabella nahm seine Einladungen mit
Vorliebe an; kein Fiwst, Herzog,
oder Marquis, kein Staatsmann, Ge
lehrter oder Künstler sträubte sich je,
einem jener feenhaften Feste aus Tau
send und einer Nacht beizuwohnen
kein einziger, selbst die nicht, die den
besten Theil ihres Vermögens in türki
schen Papieren liegen hatten und keine
Zinsen bekamen.
Nur eine Banquiersfamilie ver
schmähte es hartnäckig, trotz aller Auf
forderungen, Bemühungen, Bitten »nd
Schmeicheleien, einen wenn auch nur
oberflächlichen Umgang mit dem Baron
Hirfch und feiner Familie zu Pflegen,
geschweige denn einem seiner Feste bei
zuwohneil. Es war die Familie Roth
schild.
Man kann sich vorstellen, wie Baron
Hirsch und die Seinen auf den Millio
nenkönig zu sprechen waren, und da das
Ganze ein öffentliches Geheimniß, ward
der Name Rothschild im Hause Hirsch
nie genannt. Nun gab der Baron
wieder eines jener fabelhaften Feste, dem
noch dadurch ein ganz besonderer Reiz
verliehen wurde, daß Adelina Patti
das einzige Mal in einem Privathaufe
dabei sang. Die Zeitungen hatten
schon acht Tage vorher berichtet, daß der
Baron sür zwei Arien der Diva 22.00 V
Francs zahle, und die Einladungen
waren die gesuchtesten der ganzen Sai
son, die Räume des Palais Hirsch an
je»em Abend übersüllt.
Adelina Patti singt ihre Arie ans
dem Barbier. Selbstverständlicher,
stürmischer Applaus. Im Laufe des
Konzerts singt sie ihre zweite Arie aus
derTraviata.und derßeifall ist dermaßen
einstimmig und andauernd, daß sie sich
endlich nach vielen Bitten bereit erklärt,
ein drittes Lied zu singen. Sie hebt
an Todtenstille herrscht im Saale
ihre Stimme ist unvergleichlich schön
und frisch nie war der Ausdruck
ihres Gesichts lieblicher die Beto
nung der Worte eine ichelmifchere, ver
führerischere. Mit einem Wort nie
hatte die Patti besser gesungen und
als sie geendet, herrscht die Stille sorl
verblüffte Gesichter, verlegene Mie
nen, niedergeschlagene Augen keine
Hand erhebt sich zum Applaus. Ein«
Zeit lang steht sie vor Erstaunen in ein«
Statue verwandelt da dann süllen
sich ihre Augen mit ZorneSthräne»
und in nervöser Aufregung ihr Taschen
tuch zerreißend, stürzt sie hinaus I
Die Aermste, die von den Zwistig
leiten der beiden Millionenhäuser nichts
wußte, hatte als Zugabe das reizende
gesungen, dessen Komponistm wie allbe
kannt, die Baronesse Rothschild ist!
Eine so wichtige und ge
heimnißvolle Rolle auch der Pantoffel
bei uns im Westen spielt, im Osten ist
ihm eine noch größere Bedeutung be
schieden. Ist eine muselmännische Frau
bon ihrem Manne beleidigt worden- -
denn auch dort sind die Männer wankel
müthig und ungetreu—, so geht sie ganz
einfach zu dem Kadi nnd legt einen
Pantoffel verkehrt aus den Boden, fo
daß die Sohle nach oben steht. Dies
reicht hin, ohne daß sie ein Wort weiter
zu sprechen braucht, ohne eine weitere
Erklärung versteht der Kadi den Sinn
dieser Handlung, und die so von der
Klägerin verlangte Scheidung wird be
willigt. Will dagegen die Türkin mit
ihrem Manne beisammen sein, so zieht
sie ihren Pantoffel aus und sendet ihm
denselben durcheine Sklavin. Das heißt:
„Nomm schnell, mein Herr. Deine Gr
liebte hofft voll Sehnsucht aus Dich!"
Hat sie Besuch von einer Freundin er
hallen, so stellt sie deren Pantoffel vor
ihr Zimmer, um so ihrem Manne anzu
zeigen, es sei eine fremde Frau im
Harem nnd er dürfe deshalb nicht her
einkommen. Dieses Pantoffelzeichen,
gegen das kein Muselmann zu handeln
wagt, wird freilich nicht selten auch de
nützt, wenn die Frau aus irgend einem
anderen Grund den Besuch ihres Man
nes verhindern will.