Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, May 04, 1894, Page 2, Image 2

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    2 yra«»Sstfch« Bettler.
. Pari» in seiner umfassenden Prl
>vat-Wohlthätigk«it ist rühmlichst be
gannt, und doch wird man nirgends
«ine verhältnißmitßig größere Anzahl
«on Bettlern finden. Paulian bezeich
net «den diese Wohlthätigkeit als
Hauptgrund des Uebels, und darin hat
er vollkommen Recht: sie zieht den
ProfessionSbettler groß.
Bettler haben für die Ausübung
ihres Gewerbes eine sehr wirksame
Stütze: ihr« Literatur. Diese besteht
in einem Werk, das in kleiner und gro
ßer Ausgabe im Buchhandel erschienen
sst und lkei bezw. Sech« Franken kostet.
Es enthält die Namen und Adressen
der meisten wohlthätigen Personen von
Paris. Die große Ausgabe, „Grand
Jeu" genannt, giebt außerdem werth
volle Winke über Religion, Gewohn
heiten und politische Ansichten des
Wohlthäters, z. B.:
„Frau A. Sehr religiöses Haus.
Regelung von wilden Ehen. Unter
stützung bei Tauf« und Kommunion.
Man lasse sich von Kopf zu Fuß neu
tleiden!"
Herr B. Protestant. Bekleidet
»Kinder und schickt sie zur Schule, giebt
gutes Schuhzeug, verlangt aber die
Adresse der Bettler, um Erkundigun
gen einzuziehen. Man verständige sich
knöthigensalls mit einem Freunde, um
Mit diesem vorzüglichen Führer und
«iner gehörigen Dosis Unverschämtheit
iist die Karriere des Bettlers gemacht.
!Ein Anfänger wird an allen Thüren
klingeln, ein Kenner klingelt nur an
den guten „Thüren"; denn auch hier
jgilt der Satz: „Zeit ist Geld". Die
Hauptsache ist immer, den Wohlthäter
sür das traurige Schicksal des Bettlers
-ganz besonders zu interessiren.und das
gelingt mit dem „Grand Jeu" meist
vortrefflich.
Einige Bettler betreiben das Dich
ter-Handwerk im Großen. Sie haben
auf olle Frauennamen des Kalenders
Akrostichon-Gedichte, und wenn sie er
fahren, daß irgendwo eine Hochzeit
stattfindet, so senden sie der Braut die
auf ihren Namen lautenden Berse ein
lind stellen sich dann zu geeigneter
z. B. beim Festessen vor, um
ihre klingende Belohnung einzuheim
ls«n.
Aber vielen Bettlern sagt der aktive
Dienst nicht zu, da er immer noch eine
«ewisse Arbeit erfordert. Der richtige
Dettler bringt in der Regel seine Ju
igend beim aktiven, das Alter beim
>„seditären" Dienst zu. Auch im letzte-
giebt es viele Spezialitäten, zum
kbin ich ohne Arbeit. Heute früh hat
man mir Beschäftigung versprochen,
nun verwende ich meine letzten
den anderen der alten Kondukteure
fragt, so wird man erfahren, daß dies
«Geschäft in den eleganten Vierteln ein
sehr einträgliches ist.
Die echten Boulevardiers kennen alle
die sogenannte „Brieskastenfrau", wel
che der Post eine so wirksame Konkur
renz macht. Es ist dies «ine Bettlerin,
welcher beide Beine amputirt sind und
immer am selben Orte sitzt. Ein Herr
riähert sich ihr, und während er schein
bar in der Westentasche nach einigen
Sous sucht, steckt er mit den Worten:
..Geben Sie diesen Brief der Dame,
welche zwischen acht und neun Uhr vor
beikommt und Ihnen mit den Worten
„Beten Sie für mich!" «in Zehn-Sous-
Stück darreicht "
Wettel-Methode. Ein junger Bursch«
stürzt sich von einer Seinebriicke in's
Wasser; einZuschauer springt ihm nach
sind rettet ihn mit Lebensgefahr. Eine
b S ' ' t t
ten lassen?" janimert der Selbstmör
der vorwurfsvoll. „Ich hungere, habe
teinen Sous und finde keine Arbeit."
Jedermann folgt nach Kräften dem
edlen Beispiel. Die beiden Schwindler
zkhen dankend ab und wiederholen die
ten Elend steckt der Professionsbettler
Zwanzig Franken «in. Er wohnt be
quem, er hat seine bestimmten Restau
rants, seine „Cercles", wo er mit Sei
nesgleichen verkehrt, ja sogar seine
Stellenvermittlungsbureaus.
Starker Sieg. A.: „Haben
Sie denn in B. auch die Stelle des be
rühmten Echo aufgesucht?" B.:
„Natürlich! Meine Frau hat es so lan
ge ausgefragt, bis es total heiser wa«»"
Guterßath. A.: „Denke Dir,
B.: „Mensch, da zögerst Du noch?
Zieh' doch gleich in eine andere Stadt,
patz sie dich später nicht mehr findet!"
«in stummer Ankläger.
Bon Florence Marryat.
Ein lieblicher Sommerabend neigte
sich seinem Ende entgegen. Die letzten
Strahlen der untergehenden Sonne
trafen ein junges Mädchen, das auf
ließ sie ihre Blicke über die Landschaft
schweifen, und eine Thräne glänzte in
ihren Augen.
Eine schöne Ausficht bot sich ihr.
Weite Wiesen dehnten sich bis zum
Meeresstrande; mit lautem Tosen
Blätterschmucke prangten, beschatteten
die Hinterseite deS kleinen Hauses, zu
welchem der Garten gehörte. Eine
prächtige Kastanie breitete ihre Zweige
über sie aus, und da saß sie, inmitten
duftender, bunter Blumen-; denn mit
liebliche Devon bedacht. Aber selbst
Der sehr einfache, fast ärmliche An
zug machte ihre ungewöhnlichen Reize
noch wirksamer. Lose wallte das ka
kleid ab. Deutlich zeigte der tief aus
geschnittene Schuh die schlanken Linien
des im Grase ruhenden kleinen Fußes.
Wer aber erst einmal in Cynthia's Ge
sicht mit den feinen Zügen, den zarten
rosa Farben geblickt hatte, der achtete
nicht mehr auf die Kleidung.
So erging es augenscheinlich auch
einem jungen Manne, welcher, gegen
den Stamm der Kastanie gelehnt, auf
sie nieder sah. In ihrer Hand ruhte
ein Tennisschläger; ihre Augen waren
beständig auf die See gerichtet.
„Hatten wir nicht einen herrlichen
Sommer dieses Jahr?" sagte Cynthia
Plötzlich leicht seufzend. „Das Wetter
war uns stets hold bei unseren Aus
flügen! Nicht wahr?"
„Ja es ist wirklich ganz wunderbar
gewesen," erwiderte Granville Mostyn
eifrig. „Kein verregnetes Picnic, keine
aufgeschobene Landpartie, keine Strei
tigkeiten. Es ist die schönste Zeit mei
nes Lebens gewesen, und denken Sie,
nun muß ich alles verlassen."
„Reisen Sie schon bald?" fragte
..Uebermorgen. Ich möchte es so
gerne aufschieben, es ist aber durchaus
unmöglich. Meine Mutter ist krank,
und mein Bater schreibt, ich wäre nun
lange genug fort. Freilich, ich wollte
ja blos vierzehn Tage im Schlosse ver
weilen und bin über zwei Monate ge
blieben. Sie wissen, was mich fesselte,
weßhalb ich mich nicht losreißen
Eine leichte Rothe färbte des Mäd
chens Wangen, als sie fragte: „Kom
men Sie bestimmt wieder?"
„Das hängt von Ihnen ab. Cyn
thia."
„Bon mir?"
„Natürlich. Sie müssen meine Ge
fühle für Sie errathen haben, und ich
darf es wohl sagen, Sie haben sie auch
ein klein wenig erwidert. Was bedeu
tet die Glückseligkeit bei unserem Zu
sammensein, die Niedergeschlagenheit,
wenn wir getrennt waren, anders, als
Liebe!"
„Hören Sie auf, Granville Herr
Mostyn. Sie dürfen nicht so mit mir
sprechen."
„Nein, so muß ich mit Ihnen spre
chen. Ich kann nicht länger schwei
gen,'''fuhr Granville fort, indem er sich
neben sie in's Gras setzte und ihre Hand
ergriff. „Cynthia. Du weißt es. ich
liebe Dich. Jeder meiner Blicke muß
es Dir gesagt habe». Was darf ich
hoffen?"
„Nichts! Es ist unedel, mich zu
fragen, Sie wissen, daß ich verlobt
„Mit einem Manne, den Du nicht
liebst. Diese Heirath darf nicht sein.
Sage mir nur, daß Du mich liebst,und
nichts soll uns trennen."
„Es ist unmöglich, es kann nicht
sein. O'Neil würde mich nie
„Dann wäre er ein Lump, und Du
mußt Dir selbst Deine Freiheit neh
men. Du hast den Mann seit einem
Jahre nicht gesehen und wirst ihn vor
aussichtlich nie wieder sehen. Sage,
daß Du mein Weib werden willst, und
ich werde Sorge tragen, daß Kapitän
O'Neil Dich sürder nicht mehr belä
stigt. Dein Vater muß einverstanden
sein.
Cynthia war sehr aufgeregt.
„Sie dürfen mit Papa nicht darüber
sprechen. Er wäre schrecklich böse auf
mich. Er ist Lucius O'Neil ganz be
sonders zugethan und hält große
Stücke aus ihn."
„UndDu hältst jedenfalls nichts von
mir," sagte Granville beleidigt.
Gegentheil, Granville, sehr
und küßte sie auf die Wange.
Cynthia erröthete und machte sich
frei. Sie zürnte nicht, war aber heftig
der bestrickendsten Liebenswürdigkeit
ihr schon den ganzen Sommer d.v. Hos
machte. Ihr Erröthen, ihr Schweigen
ermuthigten Granville.
„Sei tapfer, mein Lieb," flüsterte er.
„Brich die verhaßten Ketten und werde
mein Weib."
„Wenn ich nur könnte," seufzte
Cynthia.
„Nichts leichter als das. Niemand
kann Dich zwingen, «inen Mann gegen
Deinen Willen zu Heirathen. Schreibe
ihm, daß Du des- langen Wartens
Müde Äst und nicht länger auf ihn
warten willst. Wenn er nur ein klein
wenig Stolz besitzt, gibt er Dich frei."
„Granville, Du versuchst mich zu
sehr," hub sie an, als plötzlich die
Stimme ihres Vaters ertönte, der ih
ren Namen rief.
Die jungen Leute sprangen erschreckt
auf; Cynthia trocknete schnell ihre
Thränen und ging dem alten Manne
entgegen. .
„Holla!" rief er in einem eben nicht
freundlichen Tone, als er Mostyn's an
sichlig wurde. „Hier bist Du also,
Cynthia? Sage jetzt Herrn Mostyn
gute Nacht und gehe zur Mutter; sie
braucht Dich und wartet schon seit
einer Stunde." Bei diesem nicht miß
zuverstehenden Winke mußte sichGran
ville wohl oder übel verabschieden.
„Was will nur der Bursche immer
hier?' fragte HerrNeedham seine Toch
ter, als sie ihrem Häuschen zuschritten.
„Er scheint ein fauler, junger Herr zu
sein, der nicht viel taugt. Lucius
dürfte es nicht sehen, wie er Dir nach
läuft, ich glaube, kein Knochen bliebe
ihm ganz."
„Aber Papa, wie kannst Du so et
was sagen?" wehrte Cynthia zornig.
„Herr Mostyn reist ja schon übermor
gen ab." ,
„Um so besser," entgegnete der alte
Mann unwirsch. Cynthia fand ihres
Vaters Benehmen brutal, wagte jedoch
keine Entgegnung.
Die Eltern Cynthia's besaßen kein
Vermögen. Sie waren daher sehr stolz
auf die Verlobung ihrer Tochter mit
Kapitän O'Neil.
Mit vollster Befriedigung sprachen
sie in den beiden letzten Tagen unauf
hörlich von derselben. Das junge
Mädchen, welches stets mit den Eltern
zusammen sein mußte, hörte den ver
haßten Namen oft nennen, daß sie
ganz elend davon wurde. Sie fühlte,
daß es absichtlich geschah, jedenfalls
in Bezug auf Granville.
Cynthia kämpfte heftig mit sich
ville's Abreise; sie sehnte sich darnach,
fühlte doch,daß es ehrlos wäre, solange
ihre Beziehungen zu Lucius noch be
standen. Ehe Granville Devon ver
ließ, hatten sie nochmals eine geheime
j!öbniß gelöst sei und schloß mit den
Worten: „Dann fordere ich die Erfül
lung des Versprechens, das Du mir
aber in Deinen thränencrfülllen Au
gen, in Deinen Blicken lese." So
schiefer. Cynthia weinte sich die Au
sie könne es nicht halten. Sie trug
diesen Brief selbst zur Post, und als er
aus den Boden des Briefkastens fiel,
fühlte sie sich freier, schöpfte sie neue
Hoffnungen.
„Du siehst sehr wohl und glücklich
aus, Cynthia," sagte eines Tages Herr
Needham, mit einem Blick der Bewun-
von. Kein Anderer hat
bekundet. Er wird Dir Deinen hüb
schen Hals mit dem Biltoria-Kreuz
schmücken, wenn er heimkommt. Bist
Du nicht stolz auf Deinen Helden,
Cynthia?"
Das Mädchen schwieg und wurde
dunkelroth; ihre Mutier aber sagte:
.setzt ist. Er ist so tapfer, so uner
schrocken. Es wäre entsetzlich, wenn er
getödtet würde. Nein, ich könnte es
nung ist es, Dich-und ihn vermählt zu
sehen."
„Du wirst es sehen, sobald der Krieg
«Sie sieht schon so weiß wie ein Tisch-
Lucius ist ganz wohl, und Du solltest
ten verspätt sich oft die Privattorre
hwndenz. Du darfst ganz, unbesorgt
sein. Dein Bräutigam ist gesund, die
Zeitungen würden sonst das Gegen
theil gemeldet haben."
Was würde der akte Mann wohl ge
sagt haben, hätte er den wahren Grund
ihrer Angst gekannt; daß nur der
Zweifel sie quälte, ob der junge Held
schon in den Besitz jenes Brieses ge
langt wäre, der alle seine Hoffnungen
auf eine Verbindung mit ihr mit einem
Schlage vernichten sollte.
„Äjch," rief Herr Needham Plötzlich,
als eine Dame vorüber kam. „Dort
geht FrZulein Parton. Wir müssen
ihr sogleich unsere guten Nachrichten
Er klopfte an die Fensterscheibe.
Fräulein Parton drehte sich um und
kam schnell herein.
„Denken Sie nur, liebes Fräulein,
halten. Kapitän O'Neil ist rühmlich
in der „Times" erwähnt worden. Er
bat sich in den letzten Kämpfen glän
zend ausgezeichnet und soll durch seine
Tapferkeit wahre Wunder vollbracht
haben. Unsere Cynthia ist so stolz auf
ihren Bräutigam und mit Recht. Ma
jor Jenkin behauptet, daß er bestimmt
das Viktoria-Kreuz bekommt. Ich bin
überzeugt, Sie theilen unsere Freude,
Frqulein Parton."
„Von ganzem Herzen, Herr Need
ham. Meine ausrichtigste Gratula
tion! Kommen Sie, meine liebe Cyn
thia, ich muß Ihnen einen Kuß geben.
Sie müssen ja die glücklichste Frau
werden, wenn der Krieg vorbei ist.
Ach, das wird der schönste Tag sür
Devon sein! Ich will gerade einen
Brief zur Post tragen. Ich habe mei
ner Schwester, Frau Welland in Wey
mouth, gratulirt. Sie schrieb mir
beglückt, daß ihre Tochter Dolly,
das schönste Mädchen in WeymouH,
sich mit Herrn Mostyn verlobt hat.
Beide sind jung, hübsch, hatten noch
keine andere Neigung, und so ist ihre
Verlobung nur natürlich. Und Herr
und Frau Mostyn sind so über die
Wahl ihres Sohnes entzückt, daß die
Vermählung sofort stattfinden wird."
„Um Himmelswillen!" rief Frau
Needham Plötzlich, „Cynthia, was ist
Dir denn?" >
Erschreckt wandten sich Alle zu dem
jungen Mädchen, das in einer todten
ähnlichen Ohnmacht im Stuhle lag.
„Die große Freude hat das Kind zu
sehr erregt, das Glück hat sie erschüt
tert. Ich will Euch mit ihr allein las
sen," sagte Herr Needham, „und wenn
sie sich wieder wohler fühlt, bringst Du
sie wohl in ihr Zimmer, damit sie sich
erholt und sich allmälig an ihr stolzes
.Glück gewöhnt."
Wahrlich ein stolzes Gluck für die
arme Cynthia! Als sie aus ihrer Be
täubung erwachte, erinnerte sie sich so
gleich tief beschämt des Briefes, den sie
Lucius gesandt. Sie hatte ihm ihre
Neigung zu einem Manne bekannt, der
sie beim Anblick des ersten hübschen G
esichtes, das ihm begegnete, vergaß. Sie
war jedoch zu stolz, um über Gran
ville's Untreue, über den Verlust eines
solchen Mannes zu weinen. Aber von
Stund an war ihr das Leben zur
Qual. Unzählige Male war sie im
Begriff, ihren Eltern ihr unseliges Be
ginnen zu beichten, allein sie wagte es
nicht, ihre stolzen Zukunftsträume zu
zerstören. Es zerriß ihr das Herz, ih
ren Gesprächen zuzuhören, die sich stets
um die bevorstehende Hochzeit, um den
zukünftigen Schwiegersohn drehten.
In der' Dämmerung eines Septem
berabends saß sie theilnahmlos im
Wohnzimmer; ihre Hände lagen nach
lässig in ihrem Schooße. Ihr gegen
über saß ihre Mutter, eifrig strickend.
Als dieselbe zufällig unter ihrer Brille
hervorblickte, stieß sie einen Freuden
schrei aus. Erschreckt sprang Cynthia
auf. Sie wandte sich um und sah zwei
Personen in der Thiik stehen; aber ehe
sie dieselben erkennen konnte, näherte
sich die eine hastig und umarmte sie
stürmisch, während das schallende Ge
lächter des anderen Herrn Needham
verrieth.
„Cynthia, meine liebste.süßeste Cyn
thia," flüsterte Lucius, und preßte in
nig seine Lippen auf die ihren. „Wie
sehr habe ich mich nach diesem Augen
blick gesehnt! Im Wachen und Träu-
„Ist es wirklich Lucius?" rief die
alte Dame, wobei sie sich so geschwind
trhob, daß die Strickerei zu Boden fiel.
„Na, ist es Lucius?" fragte ihr
Gatte lachend. „Haben wir Euch nicht
eine nette Ueberrafchung bereitet? Ich
traf ihn, als er gerade vom Bahnhoj
herüberkam. Seine Ungeduld ließ ihn
nickt einmal Zeit finden, uns von fei
ner Ankunft zu benachrichtigen."
„Denkt nur, erst gestern landeten
wir, und sobald ich Urlaub erhalten
konnte, reiste ich hierher," berichtete Lu
cius. Frau Needham begrüßend.
..Cynthia, mein süßes Lieb, jetzt bin ich
ganz glücklich."
Cynthia war bestürzt; sie sah bald
ihren Bräutigam, bald ihre Eltern an
aus. Was sollte das bedeuten? Wa-
Sollte das die Antwort auf ihrenßrief
sein? Sie glaubt«, daß Lucius aus
Zartgefühl seinen Zorn in Gegenwart
aber ihre Erregung nicht länger be
mustern und trotz ihrer Angst brachte
sie selbst den unliebsamen Gegenstand
Needham das Zimmer verlassen hatten.
„Lucius, Du erhieltst natürlich mei
nen Brief?"
„Welchen Brief, mein Schatz?"
„Den vom elften Juni."
„Vom elften Juni? Wart einmal.
Ich weiß es nicht genau. Was stand
erhalten hbae, für mich ist jeder ein-I
zelne von Deiner Hand ein Kleinods
Sagtest Du nicht vom elften Juni?
Bei Gott, er muß mit dem „Orion"
gegangen sein. Er enthielt Briefschaf
ten von, elften Juni."
„Und Du bekamst ihn nicht?"
forschte Cynthia.
„Nein, liebste Cynthia; der arme
„Orion" scheiterte an einem Felsen, be
vor er Alexandria erreichte, und alle
Postsachen gingen mit ihm unter."
„Die Briefe gingen also verloren?"
rief Cynthia hoch erfreut, und schlang
ihren Arm liebkosend um Lucius'
Hals.
„Natürlich gingen sie verloren, mein
Liebling, sie liegen auf dem Grunde
des Meeres, fünfzig Fuß tief."
„Ach, ich bin ja so sroh," rief das
Mädchen unwillkürlich aus.
„Was macht Dich denn so froh? Mir
thut es leid, einen Deiner lieben Briefe
entbehren zu müssen, und selbst jetzt
noch, da ich Dich in den Armen halte.
Aber was schriebst Du denn, erzähle es
mir doch wenigstens."
„Nein, dringe nicht in mich, es war
ein thörichter Brief, ich bedaure es auf
richtig, ihn je geschrieben zu haben.
Wir wollen von etwas Anderem spre
chen," wandte Cynthia ein, und Lu
cius war gern dazu bereit. Die
Nachricht von dem Untergange des
Schisses hatte ihr ihre Ruhe zurückge
geben und nun «rhob sie keinen Ein
spruch mehr gegen die Pläne der El
tern. Lucius mußte häufiger nach
London reisen, um die wohlverdienten
Lorbeeren in Empfang zu nehmen;
meistens hielt er sich aber in Dovecot
auf, und die Hochzeit sollte noch w>r
Weinachten gefeiert werden.
Jetzt erst lernte Cynthia den Cha
rakter ihres zukünftigen Gemahls ken
nen und schätzen. Sie konnte ihre ein
stige Blindheit nicht begreifen. Wie
war es nur möglich, die Güte,die Tap-
Altar mit der festeren Absicht, die ge-
Cynthia war aufgeregt und unsicher;
aber Herr Mostyn stellte ihr seine Frau
vor und bat sie mit der größten Unbe-
Cynthia erbebte.
„In Dovecot," antwortete sie. „Er
war im vergangenen Sommer auf dem
Schloß und hat Fräulein Parton's
Nichte geheirathet."
„Hoffentlich ist er gut zu ihr, er hat
nicht den besten Ruf. Er ist ein soge
nannter „Lockerer Bogel". Ich glaube,
daß seine Angehörigen froh waren, als
er heirathete. Sei recht zurückhaltend
sich mit Recht für die glücklichste Frau
halten. Aber plötzlich war es um ih
ren Frieden geschehen. Eines Mar
lies: '
„Höre nur, Cynthia, daS.ist ein
Spaß. Man hat das Wrack des ar-
Briese gehoben. Das Seewasser soll
sie zwar sehr beschädigt haben, sie ge
langen aber dennoch an ihre Adresse.
Ich werde also auch jenen schlimmen
Brief zu lesen bekommen."
„Was sagtest Du, Lucius?"
Briese sind gefunden worden. Ich
werde jetzt die ganze Thorheit der gnä
digen Frau kennen lernen. Du wieg-
Brief hier sein wird."
Mit einem heiteren Lachen begleitete
er seinen Scherz und verlies; das Zim
mer. Verzweifelt blieb Cynthia zu
rück. >
Was sollte sie thun? Wie konnte sie
Vertrauen rauben mußte, das den sü
ßen Frieden ihres Hauses jäh zerstören
würde.
Lucius war stets so nachsichtig, so
selbstlos, voller Liebd, Hingebung und
Zartgefühl.
Sie war so glücklich gewesen, und
Eine grenzenlose Erregung bemäch
tigte sich ihrer. Mit nervöser Span
nung lauschte sie den Schritten des
Briefträgers, und ehe er noch geklingelt
halte, öffnete sie die Thür, um dem
Mädchen zuvor zu kommen. Ihre Au
gen blickten unstät und geängstigt um-
her. Ihr Gehör hatte sich so ver
schärst, daß es jeden Ton auffing. Ost
ruhten Lucius' Blicke forschend aus
seiner jungen, geliebten Frau. Er
mädchenhaft gewesen. Und Cynthia
marterte ihr Hirn, «ine Entschuldigung
ausfindig zu machen zu ihrer Verthei
digung, wenn er die traurige Wahrheit
erfahren würde. Würde er sie von sich
stoßen? Zu den Eltern zurückschicken?
Eine Lügnerin, die ihn mit der Ver
sicherung ihrer Liebe geheirathet hatte,
während der schändliche Brief auf dem
Meeresgrund lag. Sie quälte sich mit
solchen Gedanken Tag und Nacht, so
daß sie fieberte und zerstreut war.
Eine Veränderung war mit ihr vorge
gangen, die Lucius ängstigte. Er
fürchtete, Cynthia wäre von einer ern
sten Krankheit bedroht, er verdoppelte
seine Zärtlichkeit, seine Liebkosungen
und verschlimmerte so ihre Gewissens
qualen. Wiederum mit ihren trü
ben Gedanken beschäftigt, saß sie eines
Tages im Zimmer, als ihr Gatte ein
trat, der ein unsauberes Briefcouvert
hoch empor hielt.
,-Hier ist der Missethäter," rief er
fröhlich. „Die Briefe vom „Orion"
sind alle an das Regiment geschickt
worden, und ich habe den meinen mit
gebracht, um mir dos Vergnügen zu
mache», Dir ihn vorzulesen. Frau
O'Neil, ich bitte um Gehör. Deine
ganze Thorheit soll Dir zur eigenen
Belehrung aufgetischt werden und ich
hoffe, Du wirst nie mehr Briefe schrei
ben, deren Du Dich schämen mußt."
So scherzend fuhr er fort, als ihm
plötzlich Cynthia's Aussehen Schwei
gen auferlegte. Sie war aufgestanden,
stand vor ihm schreckenbleich, Kummer
und Seelenangst sprachen aus ihren
weit aufgerissenen Augen.
„Was ist Dir denn, mein Liebling?"
„Lies den Brief nicht," stieß sie
mühsam hervor. „Bei aller Heiligen,
öffne ihn nicht, bevor Du mich gehört
hast."
„Wenn es Dir Kummer bereitet,
öffne ich ihn überhaupt nicht," sagte
Lucius weich und legte ihn auf den
Tisch.
„Nein, Lucius, dann würde Dein
Vertrauen zu mir für immer dahin
sein. Ich will Dir Alles bekennen,
höre mich an und handle dann nach
Deinem Ermessen."
Sie war auf die Kniee gesunken; ihr
Gatte hob sie scuist auf und zog sie auf
seinen Schooß.
„Erzähle mir Alles, mein Schatz,
ängstige Dich nicht nichts außer
Deinem eigenen Willen kann uns
trennen. Vergiß nicht, daß wir eins
sind."
„Aber wenn ich Unverzeihliches ge
than habe, Lucius?"
„Das ist unmöglich." antwortete er
schlicht. „Theile mir nur mit, weßhalb
ich den lesen soll."
„Ich schrieb ihn in einem Augenblick
des Wahnsinns," antwortete sie und
verbarg ihr Gesicht. „Du bist so lange
fort gewesen, ich hatte Dich fast verges
sen und Jemand redete mir ein.daß
er mich glücklicher machen wollte, als
Du es könntest, wenn ich meine Bezie
hungen zu Dir löste."
„Und dieser Brief sollte es thun?"
„In diesem Briefe schilderte ich mich
und meine Gefühle, nannte den Namen
dessen, der Dich aus meinem Herzen
verdrängt hatte, sprach meinen Wunsch
aus, frei zu fein. Es ist ein schändli
cher Brief, und hast Du ihn gelesen, er
löscht Dein Interesse für mich."
„Ich möchte ihn fast lesen, Geliebte,
um Dir zu beweisen, daß Du Dich
irrst. Webhalb sollte ich Dich nicht
lieben? Gilt Deine Liebe immer noch
dem Anderen? Würdest Du diesen
Brief heute schreiben?"
„O, Lucius! Wie kannst Du so
fragen? Du weißt, ich liebe Dich."
„Ja, meine Cynthia, ich weiß es be
stimmt, weder geschriebene noch ge
sprochene Worte haben es mir gesagt,
aber jeder Blick Deiner Augen hat es
mir verrathen, jede Deiner Handlun
gen bestätigt es mir und das sind
die einzigen wahren Zeichen Deiner
Liebe. Was Du vor einem Jahre ge
dacht und geschrieben hast, kann mich
nicht beeinflussen; denn seit unsere;
Berheirathung hast Du mir täglick Be
weise Deiner Liebe gegeben. Ich be
dauere nur den Anderen, der es nicht
verstand, Dich zu fesseln."
„Er ist Deines Mitleids und meiner
Achtung nicht werth. Ich wußte es
lange vor Deiner Heimkehr. Wenn
Du mich liebst und mir so vertraust,
wie Du gesagt hast, lies den Brief und
ich werde die Folgen tragen."
Sie vergrub ihr Gesicht in den Hän
den. Lucius stand auf und nahm den
Brief vom Tisch.
Cynthia erbebte.
Würde Lucius' Großmuth Stand
halten, wenn er Wort sür Wort ihrer
Niedrigkeit las? Sollte ihr eheliches
Glück so sein Ende erreicht haben? Sie
blickte ängstlich auf. Lucius versuchte
die Adresse zu entziffern.
„Armes Briefchen," sagte er weich,
„wie manche Thräne hast Du meiner
Cynthia verursacht, wie viel Schmerz
und Kummer ihr bereitet. Warum
bist Du nicht fünfzig Fuß tief unter
dem Wasser geblieben? Einem Schat
ten gleich, bist Du aus Deinem Grabe
emporgestiGe» und willst Unglück her
aufbeschwören. Gehe hin und s»lafe
für immer. Keinen Augenblick sollst
Du meiner geliebten Frau die Ruhe
Mit diesen Worten warf er den un
erössneten Brief in das Feuer des Ka
mins und schaute vergnügt zu, wie er
Zweck sollte ich ihn lesen? Ich trage
kein Verlangen darnach. Er könnte
mir u nicht mehr sagen, als Du selbst
gethan. Du liebst mich, ich vertraue
Dir. Die Liebe und das Vertrauen
find der Inbegriff aller Glückseligkeit
Zwischen Mann und Frau, und wenn
wir zu dieser Glückseligkeit gelangt
sind. ko«nen wir nichts weiter fordern.
Bergiß den unangenehmen Brief, wie
ich ihn vergessen habe."
Cynthia küßte ihn herzlich.
>. Du bist zu gut. zu
edel Du bist der beste Mann auf Er
den!"
. „Für Dich, mein Schatz, hoffentlich
immer. Aber schlage meine guten Ei
genschaften nicht höher an. als sie find.
M bin kein vollkommenes Wesen,
folglich habe ich kein Recht, Vollkom
menheit von meiner Gattin zu bean
spruchen. Für jeden gemachten Feh-
für zede begangen- Schuld ist die
Reue die einzige Entschuldigung. Das
sind meine Grundsätze!"
Unter uns Araue«.
Unsere Ideale.
haben es einst unser Eigen
genannt, dieses unbestimmte, in rosi
gem Lichte einherschwebende, verlo
ckende Etwas, wir alle kennen und
dulden sie vielleicht heute noch um uns
her die vielgestaltigen Schemen, die
wir Ideale nennen. Sie treten offen
bar schon mit uns in diese graue
alte, praktische Welt ein, entweder um
uns als gute Engel die Wege zu wei
sen, die wir wandeln sollen, oder aber
um>uns als böse, irrlichternde Geister
zu beweisen, wie unendlich weit wir
stets von der wahren Vollkommenheit
bleiben. Wer vermöchte mit
Bestimmtheit anzugeben, loelche Deu
tung die richtige ist?
Wir glauben zuerst nur das Eine
zu wissen, daß wir uns dann am
glücklichsten fühlen, ivenn wir den gu
ten Engeln ungehindert nachstreben
dürfen, wenn unsere Augen noch eine
solch' ungetrübt jugendliche Sehkraft
besitzen, daß sie dem raschen Fluge in
l-chte Höhen ungehindert folgen kön
nen, daß sie in weiter Ferne stets neue
Jdealgestalten erschauen und selbst
dann noch die ideale Richtung der gu
ten Engel einzuschlagen im Stande
sind, wenn auch die Erfahrungen des
Lebens sie davon abzubringen versucht
haben.
Wir müssen aber später einsehen
lernen, daß wir uns dann am un
glücklichsten fühlen, wenn wir in dem
Streben nach idealer Vollkommenheit
und in dem Glauben, sie in greifbarer
Nähe erreicht zu haben, sie dauernd
festhalten zu können, die Arme seh
nend nach der begehrenswerthen Ge
stalt ausstrecken, wenn sie dann in
graue Nebel zerfließt, in flüchtige
Phantome sich auflöst und wir die
Natur des bösen Irrlichts klar er
kannt haben.
Zwischen diesen guten Engeln und
bösen Geistern führt nun unser gan
zer Lebensweg dahin, ja selbst die
Jugend, welche unter dem besonderen
-Schutze des idealen Himmels zu stehen
scheint, bleibt von den niedrigen Er
denkobolden nicht verschont. Das
Baby schwimmt in wonniger Glückse
ligkeit, wenn es Arme und Beine in
idealer Freiheit bewegen da
kommen die bösen Erdgeister und le
gen ihm Hemmschuhe an. Es zaust
als idealer Naturmensch mit Vorliebe
die Söckchen von Mama, den Bart des
Papa, dafür wird es bald am eigenen
Köpfchen den bösen Geist der geivalt
thätigen Bürste empfinden. Es ergeht
sich in idealer Ungebundenheit in
Spiel und Gesang, da muß es in die
Schule unter dem schlimmen Geist der
Ordnung und Ruhe seine schönsten
Regungen eindämmen. Das Kind-er
blickt in seinem Schulkameraden das
Ideal alles Guten und Vollkomme
nen, es ist ihm mit aufrichtiger Lieb
ergeben, bis eines Tages der böse
Geist des Neides und Ehrgeizes ihm
sein schönes Idealbild zerstört. In
das Mädchenherz zieht an einem herr
lichen Frühlingsmorgen das Bild des
idealen Mannes ein, bis sie schaudernd
von dem bösen Geiste der trockenen
Alltäglichkeit der Ehe aus ihrem idea
len Traume erweckt wird. Die Mut
den'reinsten Engel, da kommt ein bö
ser Weltgeist und zerstört das ideale
Heiligthum der Mutterliebe. Zwei
böse Geist der Mißgunst und Eifer
sucht jede Spur von Idealität hinweg
fegt. Ideales Streben erfüllt die
zeigt, welchem Irrlicht er nachgestellt.
So ungefähr ist es im Leben! Kein
Wunder also, wenn nur wenige Men
ge! mehr zu folgen versuchen, wenn
Viele das Streben nach idealer Voll
kommenheit scheuen, die groben Ent
täuschungen, den Einfluß der bösen
begegnen, und uns von den guten En
geln abwenden, weil diese böse Geister
im Gefolge haben. Nur die ideale
Welt der guten Engel kann uns mit
der der bösen Geister noch versöhnen,
sagen wir aber den Idealen, dann ist
die Welt nichts anderes mehr, als ein
Sumpf für irrlichternd^Geister!
Das Schrecklichste der
mit zwei Zungen auf die Welt gelom
men ist?" „Um Himmelswillen
doch kein Mädchen?"
brenn»?"