Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, July 15, 1892, Page 2, Image 2

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    2 »«rwendnng wohlriechender
Pflanzen für'» Haus.
Die holden Kinder Floras entfalten
sich täglich in reicherer Fülle und Herr
lichkeit, sie prangen in lieblicher Schön
heit und Farbenpracht und erfüllen die
Luft mit füstem Wohlgeruchc. Da ist
es denn recht an der Zeit, etwas von
diesem Ueberflust an duftigen Schätzen
tu sammeln, damit wir uns auch in den
blumenarmen Monaten leicht und ko
stenlos im Zimmer erfrischender Düfte
erfreuen können. Diesem Zwecke ent
spricht am besten ein Potpourri, ein
Gefäß, das mit einem Gemenge von
wohlriechenden Blumen und Blättern
angefüllt ist. Man hat diese Töpse in
sehr gefälligen Formen, meist mit einem
durchlöcherten Deckel und darüber noch
mit einem dichtfchliestenden, fest ausge
schraubten Deckel versehen. Geschickte
Frauen wisse» ost einfache Vasen oder
Töpfe aus Thon durch Malerei, am
leichtesten mit Emaille- und Bronze
farben, in Ziergeräthe zu verwandeln,
die einen reizenden Zimmerschmuck bil
den.
Das betreffende Gefäß erhält zunächst
eine Lage von trockenem Salz, dann
streut man duftende Blumen und Blät
ter darüber, in der Reihenfolge, wie
die Jahreszeit und die Gelegenheit sie
bietet, wobei man stets jede Schicht mit
etwas Salz deckt. Alle dustenden Blu
men sind hierfür geeignet: Veilchen,
Maiblumen, Reseda, Jasmin, Rosen,
Lilien, Akazien und Orangenblüthen,
Lavendel; ebenso aromatische Kräuter:
Salbei. Rosmarin, Majoran, Thy
mian, Basilikum, Melisse, Waldmei
ster, Minze und die gewürzten Blätter
von Myrten, einigen Geraniumarten
u. s. w. Selbstverständlich wird bei
der Auswahl der persönliche Geschmack
und die Vorliebe für bestimmte Gerüche
mastgebend fein. Ebenso lassen sich
nach Belieben Citronen- und Pomeran
>enschale, Zimmt, Gewürznelken, Va
nille, Veilchenwurzel, Benzoe-Oele bei
fügen. Bis zum September werden
die Bestandttheile täglich mit einem
Holzlöffel oder Spatel gut umgerührt;
dann geschieht dies seltener, auch wird
von nun an das Gesäß verschlossen ge
halten. So behandelt, bewahrt das
Potpourri jahrelang sein Aroma; im
merhin ist es zweckmüßig, wenn man
alljährlich neue Blumen und Blätter
sur Auffrischung hinzusügk. Der er
quickende. duftig- Hauch, der das Zim
mer beim Abheben des Deckels und Um
rühren des Inhalts durchströmt, weckt
mitten im Winter die Erinnerung an
vergangene Lenzcspracht und ihre Freu
den, wie die Hoffnung auf künftige
neue Blüthenfülle.
Häufig finden wohlriechende Man
,entheile auch zur Herstellung von Riech
lissen Verwendung. Hierzu benutzt
man ebenfalls in beliebiger Auswahl
duftige Blumen und gewürzige Blätter,
die an einem schattigen, luftigen Orte
unter häufigem Umrühren getrocknet
und dann zerschnitten oder gepulvert
werben. Je nach ihrer Zusammen
setzung und dem vorherrschenden Geruch
sind diese Ziiechpulver unter verschiede
nen Namen —als Akazien-, Lavendel-,
Hetiotrop-, Mille-, FleurS-, Portugal-
Riechpulver bekannt. Man füllt
die duftenden Bestandtheile in kleine
Säckchen, welche am besten aus farbi
gem Seidenstoffe hergestellt werden,
schließt sie durch einige Stiche und legt
die Kissen, dann zwischen Kleider und
Wüsche, in die Handschuh- und Taschen
tuchbehälter. wo sie, ohne Staub zu
verbreiten, alle Gegenstände mit seinem,
liebliche», Wohlgeruch durchziehe», wie
lose hineingestrcute Blüthen.
Vorsorgiiche Hansfrauen können noch
auf eine andcre einfache Weife die Blu
mcudüfte eiufangen und nutzbar ver
werthen, indem sie die Pflanzenwohlze
rüche durch Glycerin ausstehen lassen.
Dustende Blumen und aromatische
Kräuter, nach Beliebe» nur eine Sorte
oder gemischt, werden frisch eingesam
inelt, von Stengeln und allen geruchlo
sen Theilen besreit, in eine weithalsige
Flasche gethan und mit frischem, rei
nem Glycerin Übergossen. Dies besitzt
die Fähigkeit, dcn betreffenden Wohlge
ruch in hohem Maße auszuziehen, wenn
das dicht verschlossene Gesäß einige Wo
chen in warmer, möglichst gleichmäßiger
Temperatur an einem dunklen Orte
steht; zugleich hat das Glycerin die an
genehme Eigenschaft, sich mit Wasser
wie mit Spiritus mischen zu lassen.
Daher kann die duftende Flüssigkeit,
nachdem sie filtrirt worden, zu den ver
schiedensten Zwecken dienen, als erfri
schender.angenehmer Zusatz zumWasch
vaffcr.als wohlriechendes, die Kopshaut
stärkendes Haaröl, als Beimischung zu
Backwerk uud süßen Speisen und, in
Weingeist gelöst, zu feinen Litöreii,welche
dadurch das Aroma und dcn Geschmack
von duftigen Blumen oder gcwürzigen
Kräutern erhalten».
—E iii wunderlicher Sprach»
ceiniger war es, welcher an dcn Musi
kus 8., einen Fagottisten, wohnhaft
am Monbijanplatz in Berlin unweit
der Pomcranzcnbrücke. einen Fried
richsd'or sendete unter der Adresse: „An
Herrn 8., Vergnügling auf dem
Tiefknüppel. wohnhaft an dem Mein
kleinodsplatz unweit der Bittern-Süd
trüchtebrücke. Hierin ein Goldfritz.-
Der Brief gelangte glücklich in die
Hände des Fagottisten.
Oeloiioniie. Feldwebel:
„Die beiden Bauern von der ersten
Compagnie sind wieder um Urlaub
eingekommen. Sollen ihn haben, aber
der eine acht Tage laiiger als der an
dere. Man kann doch nicht Alles aus
einmal essen, was die beiden mit
bringen."
Gute Vorsätze, welche m'.n
t« Unglück saßt, gleichen dcn Knoten
im Taschentuch: mau vergißt nur zu
bald, weshalb sie gemacht wurden.
A.: „Wie ist nur
ser Lehmann so heruntergekommen?"
B.: „Ganz einfach, er hat andere zu
viel bochlebkll lassen."
»ruppirung u»» «h«r»«er »««
»nsfiiche« Sta»t»»«rbrtch«r.
Man sollte endlich aufhören, die
politischen Verbrecher Rußlands unter
schiedslos Nihilisten zu nennen. Die
ses Wort ist für keine einzige Gruppe
oder Abtheilung der Opposition bezeich
nend; eS bildet ein der großen Mehr
heit dcr RegierungSgcgncr den Li
beralen und den nicht-terroristischen
Revolutionären angethanes Unrecht,
führt die öffentliche Meinung des Aus
landes irre und bringt die zahlreiche
Klasse der vernünftigen, maßvollen,
patriotischen Oppositionellen um die
verdiente Sympathie, indem er sie als
Widersacher alles Bestehenden mit Aus
nahme des Mordes und des Bomben
werfenS erscheinen läßt.
Wollte ein englischer oder amerikani
scher Zeitungsschreiber sich beifallen
lassen, z. B. Justin M'Earthy, Patrick
Egan, Parnell, O'Donovaii Rossa,
John Morley. Patrick Ford und die
Mörder aus dem Duüliner Phönix-
Park unter der Bezeichnung „Fenier"
in einen Topf zu werfen, so würde er
selbstverständlich ausgelacht werden.
Ebenso widersinnig ist cs, die russischen
sogen. „Politischen" ohne weiteres Ni
hilisten zu nennen. Die Bezeichnung
Nihilisten hat nur den Zweck, die Geg
ner des russischen RegierungSsystems
sammt und sonders verächtlich zu ma
chen; die Berechtigung, die er einst
haben mochte als ein von Turgen
jew gebrauchtes Schlagwort zur Kenn
zeichnung eines vorübergehenden, neuen
Gesellschaftstypus—, hat er längst ver
loren. Wir mögen die Ziele dcr russi
schen Opposilion mißbilligen oder die
Art ihres Vorgehens verurtheile», wir
dürfen sie aber nicht für Nihilisten hal
ten, d. h. Leute, „die absolut nichts
anerkennen und ihr Glück in der Ver
nichtung alles Bestehenden suchen".
Die Männer und Frauen, die seit etwa
zwanzig Jahren mit der Regierung aus
Kriegsfuß stehen, sind weit entfernt,
Nihilisten zu sein, und deshalb sollten
sie auch nicht so genannt werden.
Die russischen „Staatsverbrecher"
lassen sich am besten in die drei folgen
den Gruppen eintheilen:
I.Liberale. Sie sind im Gan
zen klare Köpfe, hegen maßvolle Mei
nungen und möchten eine allmähliche
Ausdehnung dcr Grundsätze der Selbst
verwaltung erstreben. Sie sind sür
größere Rede- und Prestfreiheit, für die
Einschränkung der Macht des Beamten
thums, sür ein streng gesetzliches Vor
gehen der Behörden, sür die Hebung
dcr Bildung und Gesittung des Bauern
standcS, aber gegen die Verfolgung An
dersgläubiger durch den Staat nnd
gegen die Gleichgültigkeit oder Willkür
der Büreaukratie. Den Umsturz der
bestehende» RegicrungSsorm halten sie
jedenfalls in der Gegenwart für un
thunlich.
2. Revilutionäre. Hierher
gehören die Socialisten, die Naroduiki
i„Bauernfreu»de"), die Narodoivoltsi
(„Anhänger des BolkSwillens") und die
übrige» Reformer, welche die Befeiti
gung der Willkürherrschast als so dring
lich und wichtig betrachten, daß sie
Verschwörungen und bewaffnete Aus
stände für gerechtfertigt erklären. Von
der nächsten Gruppe unterscheiden sie
sich hauptsächlich durch ihre Abneigung
gegen Raub und Mord. Sie sind be
reit, ihr Leben aufs Spiel zu fetzen,
wenn sie Gelegenheit zu kräftigem, aber
offenem Handeln haben; allein sie leh
nen cs ab, Beamte meuchlings zu er
schießen, Hoszüge zum Entgleisen zu
bringen, Regieruiigskassen zu plündern
oder durch Fälschung kaiserlicher Kund
gebungen Baueruunruhen hervorzuru
fen. Im großen Ganzen sind ihre
Ziele dieselben, wie die der Liberalen,
nur möchten sie nachdrücklichere und ra
scher wirkende Mittel anwenden. In
manchen Programmpuuiteii gehen sie
weiter; so z. B. streben sie an: eine
neue Berthcilung des Bodens, eine ge
rechtere Vertheilung des Arbeitsertrages
und eine noch größere Ausdehnung des
in Rußland übrigens ohnehin sehr ent
wickelten Genossenschastswesens unter
de» Bauern.
3. Terroristen. Sie huldigen
denselben Grundsätzen und haben die
selben Ziele, wie die Revolutionäre,
schlagen aber andere Wege ein, indem
sie alle Schritte gutheißen, von denen
sie sich eine Schädigung oder Ein
schüchterung ihrer Gegner versprechen.
Der Terrorist ist nichts anderes, als ein
in Erbitterung gerathener Revolutio
när, dcr cs angesichts dcr zahllosen
Spionc, Polizisten und Soldaten als
unmöglich erkannt hat, die »nzufriede
iien Bestandtheile der Gesellschaft zu
vereinigen und zu organisireii, oder der
über die von ihm selbst, von seinen Ver
wandten und Freunden durch die Be
hörden erlittene grausame, ungesetzliche
Behandlung empört ist. Wem jedes
mal, wenn er eine Erklärung abgeben
oder eine Beschwerde vorbringen will,
der Mnnd gewaltsam zugehalten wird,
der wird sich schließlich, von name»-
lostin Ingrimm ergriffen, der Schret
tenspurtei anschließen.
Die zahlreichste der drei Gruppen sind
die Liberalen. Zu ihnen gehören u. a.
etwa drei Viertel aller promovirten
Universitätshörer, soweit sie nicht Be
amte geworden sind. Die Revolutionäre
zählen nach Zehntausenden; ihre Ziffer
bleibt hinter der der Liberalen erheblich
zurück. Sehr klein ist die Schreckens
parlei, doch sind ihre Mitglieder unge
mein kühn und entschlossn; durch die
tragische Rolle, die diese Oppositions
gruppe im öffentlichen Leben Rußland«
spielt, erregt sie die Aufmerksamkeit des
Auslandes natürlicherweise in weit
höherem Grade, als die unvergleichlich
stärkeren anderen Gruppen. Die Libe
ralen können die Beachtung auswärti
ger Forscher schon deshalb minder auf
sich lenken, weil sie einerseits freiwillig
zedem gewaltsamen Eingreifen entsage»
und andererseits durch die Censur wi«
durib die Polim tüchtia im Schach ae-
halten werden. Die Terroristen dage
gen trotzen allen Einschränkungen,
gen ihre Haut stets zu Markte, führen
ihre Sachen mit Bomben, Dolchen, Re
volvern und machen daher, obgleich an
Zahl recht gering, am meisten von sich
reden.
In Sibirien habe ich viele Mitglieder
aller drei Parteien kennen gelernt.
Meine Eindrücke von ihrer Person habe
ich in früheren Aufsätzen geschildert.
Heute wM ich mich mit ihrem Charakter
beschäftigen.
1. Die Liberalen.
Meines Wissens hat noch niemand
behauptet, dast die russischen Freisinni
gen schlechte Menschen oder Bürger
seien. Die Regierung übt zwar einen
starken Druck auf sie aus, verbietet de»
einen das öffentliche Sprechen oder den
Ausenthalt in der Reichshauptstadt,
entzieht den anderen Proseffure» oder
sonstige Stellungen, unterdrückt die von
manchen herausgegebenen Zeitschriften,
stellt diese unter strenge Ueberwachung
und verbannt jene nach Sibirien: aber
es fällt ihr nicht ein. sie verbrecherischer
Absichten zu beschuldigen. Sie behaup
tet lediglich, die Leute seien „politisch
unzuverlässig" oder ihre „Tendenzen"
trügen den Stempel der „Schädlichkeit"
oder ihre Anwesenheit in einer bestimm
ten Gegend „gefährde die öffentliche
Ruhe". Diese Redensarten besagen
nur, daß die Liberalen den Tfchinow
niks, den Beamten, im Wege sind, weil
sie diese einigermaßen verhindern möch
ten, mit den Leibern, den Seelen und
dein Eigenthum der Russen nach Will
kür zu schalten.
Ein wohlunterrichteter und gerech
tigkeitslicbender Engländer hat uater
dem Pseudonym „Ein früherer Bewoh
ner Rußlands" vor einiger Zeit „Ei
nige Wahrheiten über Rußland" ver
öffentlicht. worin er sich über die Li
beralen folgendermaßen äußert: „Die
zahlreichen iu Rußland ansässigen Aus
länder, die ich kennen gelernt habe, ge
hören de» verschiedensten Richtungen
an, sympathisiren aber durchweg mit
den Zielen und Bestrebungen dcr dor
tigen Freisinnigen. Mit ihnen kann
sich keine andere Menschengruppe im
ganzen Zarenreiche vergleichen an wah
rer und weiser Vaterlandsliebe, reifem
Verständniß der brennenden Zeiti
gen, musterhafter politischer Manns
zucht und herzlicher Würdigung der
edleren Züge des Nationalcharakters.
Tie ausgezeichneten Denker und Schrift
steller, deren Arbeiten in den Spalten
der Rußkija Wedomosti und der Rust
kaja Mesl erscheinen, sind nicht nur sür
!ine noch halbbarbarische Nation eine
Zierde, sie würden selbst den ältesten
Culturlandern Europas zur Zierde ge
reichen."
Dieses Lob ist vollauf verdient. Ich
selbst bin z. B. ein aufrichtiger Schätzer
und Bewunderer der vielen mir persön
lich bekannten Mitglieder der „Mos
'auer Liberalengruppe". Solche Män
ner wären geeignet, in die Regierung
ihres Landes segensreich einzugreifen,
wenn sie nicht trotz ihres trefflichen
Charakters und ihrer umfassenden Bil
dung vielfach verfolgt würden. Unter
den Mitarbeitern der zwei genannten
Zeitungen sind in dcn letzten 7—1(1
Jahren eingesperrt oder „verschickt"
worden: Schelgunow, Michailowski,
Korolenko, Staniuckowitsch, Matschtck,
Petropawlowski, Goltsew, lauter Pro
scsforen, Romanschreibcr und Publizi
sten von Ruf.
2. Die Revolutionäre.
Ueber dcn Charakter dieser Partei
sind die Meinungen getheilt. Zunächst
will ich ein recht ungünstiges Urtheil,
das dcr Rcgicrungstrcise. anführen,
welches zugleich zeigt, wie und auf wel
chen Grundlagen die Behörden gegen
die Umstürzler vorgehen. Ich knüpfe
dabei an dcn Fall eines jungen Man
nes Namens Arsen Boguslawski an,
der im Februar 1880 unter der An
llage, der Umsturzpartei anzugehören
uud aufreizende Schriften verbreitet zu
habe», in Kiew vor ein Kriegsgericht
gestellt wurde. General Strelnikow,
der Staatsanwalt, begründete seinen
Antrag, daß der Angeklagte verurtheilt
werde, in einer offenbar wohlvorberei
teten Rede, in der er u. A. die Ge
schichte dcr russischen Umsturzbewegung
erzählte, natürlich von seinem Stand
punkte aus. Dieser ist, wie ich aus
vielfacher Erfahrung bestätigen kann,
im Großen und Ganzen derjenige der
Aesammten amtlichen Welt dcS „nordi
schcn Kolosses mit den Ihönernen Fü
ßen".
In dem amtlichen Vcrhandlungsbe
richt heißt cs von dem Vortrage Strcln
kows: Er wies nach, daß diese Leute,
die es freiwillig unternommen haben,
die Gesellschaft umzugestalten und die
zanze Ordnung der Dinge abzuändern,
meist erst bis 244 Jahre alt und
von niederer Bildung sind. Von allen
Staatsverbrechern, mit denen das Kie
wer Kriegsgericht sich befaßte, hatte kein
einziger an einer Hochschule promovirt
und nur acht absolvirle Mittelschüler.
Ihre Ansichten sind sehr unreif und ihre
ttennlniß des Volkes beschränkt sich ge
wöhnlich ans die Bekanntschaft mit
einigen Gasthauskellnern. Endlich zog
der General die solgenden Schlüsse:
l. Der Wunsch nach Beseiligung der
Religion, dcr Familie und des Staates
ist sür die socialistische Partei nur ein
Mittel zur Ueberwindung der ihrem
wirtlichen Zweck im Wege stehenden
Hindernis'/: ihr wahres Ziel ist
durchaus nicht das VoltSwohk, sondern
persönliche Habsucht. Er möchte die
Mitglieder dcr socialistischen Partei i«
drei Gruppen eintheilen: I. echte
Schwärmer, deren Zahl jedoch so gering
ist, daß sich unter den 49 in Kiew An
getl.izten kein einziger besand; 2.
Leute, denen der Wunsch, irgend eine
hervorragende Rolle zu spielen, über
alles geh»; diese Personen detlamiren
in Versammlungen und dergl.; 3. ge
meinc Räuber, und das find die meisten
Mitglieder dcr Partei.
General Strelnikow war ein begab
ter Militär und ein glänzender Redner,
oder auch ein »bitter!», rachlltchttger
Feind. In geheimer Verhandlung
und ohne Kritiker zu gleichgesinntcn
Richtern sprechend, licß er sich von dem
leidenschaftlichen Hast, den er gegen die
„Staatsverbrecher" hegte, hinreisten, in
Unwahrheit und Unvernunft zu ver
fallen. Er entwars von den Angeklag
ten unkenntliche Zerrbilder. Als „gei
stig unreife Knaben" bezeichnete er
Leute, die im Durchschnittt alter waren,
als z. B. William Pitt zur Zeit, da er
Premierminister von Großbritannien
wurde, oder als Napoleon Bonaparte
zur Zeit seiner Ernennung zum Bri
gadegeneral nach der Einnahme von
Toulon. Unter den Personen, die er
als „ganz ungebildet" bezeichnete, be
fanden sich zwei Lehrerinnen (Frau Ka
walewSkaja und Frau Rossikowa). ei»
Professor und Schriftsteller «Florian
Bogdanowitsch). zwei Berussliteraten
und die in Westeuropa ausgebildete
Astronomin und Mathematikern Nata
lie Armfeldt, die Tochter eines Gene
rals; mehrere andere, die ich kennen ge
lernt, verstanden zwei bis drei Spra
chen und hatten die Werte von Herbert
Spencer. John Stuart Mill, Lccky,
Draper u. s. w. gelesen.
Selbstverständlich war auch VoguS
lawski selbst, der die Verbreitung wis
senschaftlicher Kenntnisse im Volke an
strebte, nichts weniger als ungebildet.
Dast auch der angebliche Wunsch der
Socialisten, die Religion zu beseitigen,
nicht zutrifft, wird u. a. durch den Um
stand bewiesen, dast derselbe Bogus
lawski vor Gericht viele Bibelstellen
anführte. Dast diese „von Sanstmnth
und Nächstenliebe handelten", Tugen
den, die man dem russischen Beamten
thum freilich nicht nachrühmen kann,
liest den Angeklagten in den Augen des
öffentlichen Anklägers vielleicht als „Fa
natiker" erscheinen.
Ter General erklärte, dast die „Po
litischen". mit zwei Annahmen, bei
ihren Verbrechen keinen Muth an dcn
Tag gelegt hatten. Trotzdcm behan
delte er sie als so furchtbar gefährlich,
dast er empfahl, sie allesamin» unnach
sichtig hinzurichten auch dann, wenn
sie kein ärgeres Verbrechen begehen, als
Schriften zu vertheilen und Bibelstellen
anzuführen! Er gab zu, dast sie aus
dem Schaffst „tapfer" sterben: thäten
sie das, wen» sie wirklich, „ungebildete,
unreise Knaben" wären? Und was
soll man zu dem Gedanlengang sagen,
durch den er dazu gelangt, sie als „ge
meine Räuber" hinzustellen? Wer das
nicht ersassen kann, ist wahrscheinlich
„politisch unzuverlässig" oder „für di
öffentliche Ruhe gefährlich" und thut
gut. dem russischen Reich möglichst
fernzubleiben, wenn er will, daß er
„lange lebe und eS ihm wohlergehe aus
Erden".
Es ist von den russischen Regierungs
beamten ebenso falsch als thöricht, die
Mehrheit der revolutionären Partei als
geistig verächtlich und sittlich verworfen
hinzustellen. In Wirklichkeit sind die
Umstürzler weder das eine noch das
andere. Im Punkte der Bildung über
treffen sie die meisten Beamten in hohem
Mäste. Trotz aller Entmuthigungen
und Schwierigkeiten, gegen die sie an
zukämpsen haben, trotz Geldnoth, See
lenangst, Gefängniß, Verbannung,
Censur u. f. w. leisten sehr viele von
ihnen Bedeutendes im Reiche des Gei
stes. Insbesondere»!!! wissenschaftlicher
Beziehung verdankt Sibirien ihnen
nahezu alles. Ich erinnere an Michae
lis. Andrejew, KlementS, Belokowski,
Tschiidnowski, Leontiew. Dolgopolow,
Lcfewitjch, Horwitfch, Alerander Kra
potkin, Korolenko. Matschtet, Stanju
kowitsch, Mamin und Petropawlowsti
lauter Staatsverbrecher, die sich
theils in Rußland, theils in Sibirien
durch ihre literarischen oder wissenschaft
lichen Leistungen hervorgethan haben.
Und was die moralische Seite betrifft,
so halten die mir persönlich bekannten
Mitglieder der Revolutionspartei dcn
Vergleich mit fast sämmtlichen andern
Menschen aus, die ich persönlich kenne.
Zwar theile ich keineswegs die An
schauungen aller: manche von ihnen
sehen in ihren Hoffnungen zu rosig und
sind in ihren Plänen zu nebelhaft. Ei
nige haben arge Irrthümer und vcr
hängnißvolle Fehler begangen; mehrere
haben sich in schweren Stunden schwach
oder unwürdig gezeigt. Aber im gro
ßen Ganzen vertragen die Anhänger
dieser Partei, soweit ich sie kenne, die
Messung mit. dem höchsten sittlichen
Maßstabe und gehören zur Blüthe der
russischen Gesellschaft. Ihre Reihen
«eisen die besten, tapfersten und edel
sten Mensche» auf, die mir je begegnet
kjnd.
3. Die Terroristen.
Bor kurze»! las ich in der historischen
Zeitschrist Rustkaja Starina die folgen
den Bemerkungen über die Schreckens
partei nnd die Haltung des Voltes ihr
gegenüber: „Wir habe» einem sonder
baren Schcftispiel beigewohnt: einer Art
Zweikampf zwischen der größten Macht
uns Erden, einer mit allen Bütteln der
Äewalt ausgerüsteten Macht einerseits,
und einem unbedeutenden, aus entlasse
nen Telegraphisten, halbgebildeten
Schuljungen. Universitätsstudenten,
elenden kleinen Juden und leichtserti
gen Weibern bestehenden Häuflein an
dererseits.
In diesem anscheinend ungleichen
Kampf war der Erfolg keineswegs bei
der stärtern Partei. Die ungeheuren
Volksmassen, welche die erhabene P:r
son des Kaisers zweifellos innig lieben
und an Ordnung. Gesetz und den mo
narchischen Einrichtungen hängen,
spielten die Rolle gänzlich unbethcilig
ler Zuschauer. Es war das nicht nur
ein seltsames, sondern geradezu ein
schmähliches Schanspiel. Zur schleu
nigsten Beseitigung des Geschwürs, da«
den Leib unserer Gesellschaft plagt,
hätte eine Bewegung der Massen ge
nügt. Diese Bewegung ist aber nicht
ersolgt. Warum nicht? Wahrschein
lich weil die Anhäufung von Verbrechen,
deren jedes dem Gesellfchaftstörper einen
heftigen Stoß versetzte, schließlich tur
Erschöpfung geführt hat. Es besteht
die Gefahr, daß die Fortsetzung jener
verbrecherischen Thätigkeit den Volks
organismns unrettbar schwächen und
seine SelbsterhaltungSkrast vollständig
vernichten würde. An Zeichen ver
dächtigster Art fehle es durchaus nicht.
Also „die größte Macht auf Erden"
wäre von einem unbedeutenden Häuf
lein Telegraphisten. Schultuabcn, Stu
denten. elende» Juden und leichtferti
gen Treibern beinahe aus den Fugen
gebracht worden, welch außerordent
liches Mißverhältniß zwischen Ursache
und Wirkung! Kennt die Weltge
schichte ei» zweites Beispiel von Läh
mung der Macht und Krast cines Rie
senreiches dnrch einc Handvoll uureifer
Männer oder Jungen und lofcr Weibs
bilder? Gibt es außerhalb Rußland;
Telegraphenbeamte, Studenten, Schul
knaben, kleine Juden und lockere Frau
enzimmer, die im Stande wären, di«
althergebrachten Verhältnisse, an denen
„hundert Millionen hangen", ernstlich
ins Schwante» zu bringen? Gewiß
nicht, und ich hege begründete Zweifel
daran, daß es gerade im Zarenland«
einem unbedcutcnden Häuflein gelingen
könnte, dem Staat und der Gesellschaft
gefährlich zu werden.
Die meisten Mitglieder der russischer
Schreckcnspartei waren ursprünglich ge
mäßigte Liberale oder höchstens fried
liche Socialisten und wurden erst da
durch, dast die Behörden alle ihre Recht«
nnd Empfindungen in grausamer, un
gerechter, ungesetzlicher Weise mit Füßen
traten, zu Revolutionären und schürst
lich zu Terreristen. Ich bin weit ent
fernt, ihre Gewaltthaten in Schutz zu
nehmen, abgesehen davon, dast mii
Morde, Eisenbahnentgleisunqcn, Kas
scneinbrüche und Ezplofione» nicht aU
zwcckiiiästigc Kampsmiltcl erscheinen.
Aber ich vermag sehr wohl zu begrei
fen, dast man ein noch so guter unt
edler Mensch sein und dennoch in Ruß
land ein Terrorist werden kann, wcnn
man sich, wie dies dort alltäglich ge
schieht, schlitz- nnd wehrlos der uner
träglichsten. empörendsten Bchandluno
preisgegcl'cn sieht.
Die Behauptung dcr russischen Re
gierung. daß die Schreckcnsgrupp«
mich 1878 alle unier Culturmenschen
gellenden Kampsregeln außer acht ge
lassen habe, enlspricht freilich der Wahr
heil; aber man bedenke doch, daß es im
Leben und im Kriege, wie beim Schach
spiel nicht angeht, selber alle Regeln
beiseite zu setzen und dennoch zu for
dern. daß der Gegner sie einhalte. Es
ist widersinnig, hinzu schießen, und übe,
das Hersckießen entrüstet zu scin. Den
Ansang mit dem Schießen hat die russi
sche Regierung gemacht: sie hat dcn Gcisl
der Ungesetzmäßiglcit hcransbcschworcn
und genährt, ind.-m sie rechtswidrige
Berbastnngen vornahm, nicht vcrur
theilte Personen bestrafte, die gerichtli
chen Freisprechungen angeblicherSlaatS
verbrecher illusorisch machte, das Eigen
thum Verdächtiger, nicht blos Ueber
führler, einzog, blutjunge Knaben und
Mädchcn nach Sibirien sandte, die
Kinder „Unzuverlässiger" und Ver
bannter gewaltsam in staatliche Anstal
ten steckte, Gefangene ohne Verhör
übermäßig lange in strenger Einzelhaft
hielt und dadurch dem Selbstmord odei
dem Wahnsinn in die Arme trieb, di«
Leichen verstorbener Häftlinge nächt
licherweile insgeheim begrnb nnd jeder
mann, dcr nach Gründen behördlicher
Vorgehens fragte, als einen Verbreche,
behandelte. Unter solchen Umständen
und mangels aller gesetzlichen Abhilss
mittel mit jeder zugänglichen Waff«
Vergeltung zu üben, braucht noch teiv
wilder, blutdürstiger Fanatiker zu sei».
Kirchweih-Nüchezettcl.
(Vs-lzNch.»
Z'erscht e' griene Kerne-Snpp',
Markklös' d rin en ganze Trupp.
Dann lumnit'S Rindflecsch an di«
Reih',
Senft stcotr» ist dcrbci,
Mit der Gawwcl
In de Schnawwel,
D'runne fitzl's
Wie der Blitz
Awwer jetzt lummt'S schwere G'schütz!
Lümmel-, Kalbs- un Schweinebrat:
Un drei Sorte vun Salate.
Hammelsrippe, griene Bohne
Her nor gleich mit zwec Porlione!
Mit dcr Gawwcl
In de Schnawwel:
Krumbeerebrei,
Schunle, Ei,
Schwartcmage aach dcrbci!
Blutworst, Brotworscht, Lcwerworschi
Herrgott kriegt mer do cn' Dorscht!
Saucrtra»! »» Schweinelnöchel.
Gäns' u» E»t' »n ann're Vochel,
Mit dcr Gawwcl
In de Schnawwel
So, deß wär'
D' Hanpi-Afsär,
Jetzt nor noch e' kleen'S Dcssähr!
Pannckuche, Appelbrei
Un' Kuiifelt so allerlei,
Quetsche-, Kas- un' Zimmctkuche,
Jwwrall mnß mer doch versuche,
Traume, Nüßle,
Kas' e' bissle.
Owwcdruff Kaffc zwee Schlißt»!
Awwer 's Befcht vum Esse doch
Bleibt halt 's Trinke all'weil noch:
Reingtgosse wird's, beim Blitz,
G rad wie in 'c Fcucrspritz',
Braucht kcc Gawwcl,
Nor dc Schnawwel,
Bier un Wein,
Alles 'rein
Gut un Viel nor muß es scin!
Palat i n u «.
Uebcrflttsfige Entschul
digung. Hau«frau: Was ist denn heul
mi! der Milch? Die sieht ja ganz ander«
aus als sonst!" Milchmann: „Ach.
entschuldigen Si«. eS ist nur vergesjeo
worden, sie abzurahmen!" !
«n« den «!««»
ltng».
ES gcht bunt zu in der Welt. Jeder
glaubt, seine Memoiren schreiben zu
müssen, w>nn er auch nur durch über
mäßiges Schreien Aussehen erregt hat.
Wer's nicht glauben will, der lese dii
nachstehenden Memoiren eines Säug
lings.
„Ich war drei Monate alt, da kam
ich mir vor wie ein ganz alter Man»,
dcr kciiic Zähne im Mnnde und kein«
Haare aus dem Kopfe hat. Ich konnt«
weder gehen noch stehen, noch sprechen,
gerade daß ich liegen konnte und ich wa,
doch nicht betrunken! Welche Sorgen
machte sich nicht meine gute Mutter we
gen meiner,und wie vielSorge>machtesii
mir erst. Ostmals, wenn mir nichts
fehlte, dkangsalirte sie mich mit der
Milchflasche, und hatte ich wirklich ein
mal Hunger oder Durst, dann beküm
merte sich keine Menschenseele um mich.
Und dann diese nutzlosen Streitigkeiten
zu Hause. Mein Vater meinte sast täg
lich znr Mutter: „Berthchen. Du und
dcr Junge, Ihr ähnelt Euch wie ein
Tropfen dem andern"; und die Mutter
antwortete regelmäßig daraus: „Nein,
Man», der Junge gleicht Dir.als wenn
er Tir aus dem Gesichte geschnitten sei."
Beide wollten natürlich Recht habcn unt
meine Mutter, die stets das letzte Worl
haben mußte, meinte schließlich: „Kurz
und gut, er hat auf alle Fälle doch die
felben Haare wie Du."
Das war eine ziemlich deutliche An
spielung auf meines Vaters Glatze;
denn ich hatte doch kein Haar aus dein
Kopfe. In diesem Lebensabschnitte,
wo ich noch so gar unschuldig war,
wurde ich nichtsdestoweniger behandelt
wie dcr abgefeimteste Spitzbube: denn
man band mir die Arme und Händi
fest. Anch schien es mir oft zweifelhaft,
ob ich Mensch oder Thier war, dcnn man
nannte mich bald: Mcin Schäfchen, tlci
ncs Mäuschen, armes Würmchen, lieber
Aeffchen u. f. w.
Wen» mein Vater etwas sehr lang«
in der Kneipe war, dann bemächtigt«
sich meiner Mntter eine Unruhe, di«
kaum zu beschreiben ist. Alle Augen
blicke erhob sie sich von ihrem Lager,
zündete ein Streichholz an und schaut«
nach dcr Uhr.
„Wartc, Tu Nachteule, komme nu,
nach Hause," hörte ich sie lispeln. Da
wurde mir selber schon ganz schwül zu
Muthe. Uud ging dann endlich di«
Thür leise auf, und meine Mnttcr ihr
Mann kam um nicht zu störcn
auf den Strümpfen herein, dann riej
sie:
„Bist Du schon da, Du Schwiemel?"
Und über Alles das, was sich dann
ereignete, entsetzte ich mich so, daß ich
im Stillen dcn Schwur ablegte, nie zu
Heirathen.
Aber es dauerte keine zwei Monat«
mehr, da schaffte ich mir doch ein Mäd
chen an, nämlich ein-Kindermädchen.
Trine war ihr Name. Sie war ein«
frische, dralle Bauerndirne. und ich
dürste ordentlich stolz auf mein Mäd
chen scin. Sie war so zahm, dast si«
mir meine Zuckcrbrödchen aus dcr Haut
aß, und sie war so besorgt, daß ich mir
dcn Magcn nicht überladen möge, daß
sie die Milch aus der Flasche statt mei
ner trank. Wen» ich da»» ob diese,
mütterliche» Fürsorge schreien wollte,
steckte sie mir ihren Daumen in den
Mund, da durste ich dann dran sau
gen. Aber andererseits verlebte ich
anch wieder manche genußreiche Stund«
mit meinem Mädchen. Wen» cs drau
ßen regnete, dann promenirtcn wii
Beide per Arm durch s Zimmer, und
Triue ivar augenscheinlich ganz verli.bl
in mich; d.'iin zuweilen küßle sie mich,
wie sie Heister ihre» Herzallerliebsten
nicht hätte küssen könne«.
Wenn dagegen draußen die Sonne
warin schien, dann suhr ich mit meiner
Trine vor dem Thore in den Anlage»
spazieren. Ich lag glücklich wie ei»
König und aller Sorgen bar im Kin
derwagen, den die Trine vor sich her
schob.
Aber es dauerte nicht lange, da
wurde Trine mir untreu und übertrug
ihre ganze Liebe auf einen' strammen
Musletier. Mit diesem trafen wir
regelmäßig in den einsamen Anlagen
zusammen, und wenn ich sah, wie
er meinem Mädchen Liebesgaben aus
den Mund drückte, meinte ich a»s dem
Wage» springe» zu müssen vor Eiser
sucht. Aber die Trine zeigte sich auch
danlbar und schenkte ihm auch Liebes
gabe» sür den Mnnd, die sehlten dann
zu Hause regelmäßig im Küchenschranke
und fanden fjch trotz' emsigen Nach
suchens meiner Mutter nimmermehr
wieder.
In der Nähe der Anlagen befand sich
ein Tanzlolal, nnd die Töne der flotte»
Tanzweifc» drangen gar verlockend zu
uns hcrübcr. Eines Mittags meinte
Trines Schatz unverfrorcii: „Last dcn
Ileinen Wicht ein Bissel allein, komm',
wir wollen drüben mal tanzen, das ist
gescheidler."
Und die verliebte Einsalt vom Lande
brachte es thatsächlich übers Herz, dem
böfen Rathe zu folge» und mich allein
zn lasfen.
Was wollte ich machen, zurückrufen
konnte ich sie nicht, und so lag ich denn,
allen Menschen zireisgegeben. da. Zu
erst nahte sich ein großer Köter meinem
Wagen, er schnüffelte ein wenig herum,
da»» stellte er sich aus die Hinterbeine,
wir schauten uns gegenseitig verwun
dert an. Keiner sprach ein Wort,
und dann leckte er mir ein paar Mal
licbloscnd übers Gesicht. Als ich
hierüber ci» mörderliches Gezeter an
hub, ließ er von mir ad und trollte sich
von daniicn.
Endlich nahte sich ein menschliches
Wesen, ein Schutzmann. „O Je
mine, " dachte ich, „jetzt kommst Du arm«
Unschuld unter Polizeiaufsicht."
„Na, kleiner Mann, wie heißt Du
denn", erkundigte er sich und bekam
selbstverständlich keine Antwort. Er
schüttelte mit dem Kops und wußte au
genscheinlich nicht, wa« «r mit mir be
ginnen sollte.
Schließlich tauchte ein Bummler auf.
der Schutzmann rief ihm barsch zu.
näher zu toinmcn u:d befahl ihm hier
auf den Wagen, in welchem sich meine
- Wenigkeit befand, weiter zu schieben.
Dieser folgte »othgcdrunge» dem Be
sch!, und so giug's zurück zur Stadt,
gefolgt von dem Diener des Gesetzes.
Durch die Stadt gab uns natürlich eine
Menge großer nnv kleiner Kinder unter
Gejohle Geleit, und nach vielen Ouer»
zügen landete man mich schließlich im
Waisenhause. Meine allzugroße Ju
gend bewahrte mich davor, als Obdach
loser dem Gefangenen-Depot überwie
sen zu werden.
Gegen Abend war die böse Trine
blast wie der Tod nach Hanfe gekommen
und halte in unverschämter Weise ge
logen, in einem unbewachten Augen
blicke sei ich ihr mit dem Kinderwagen
cnlwichen. Das muß eine schöne Auf
regung bei uns zu Hause hervorgerufen
habe»!
Am nächsten Morgen fanden sich
im Localblalie dcr Stadt folgende
Zeilen:
Ein Insasse nebst Kinderwagen ist
abhanden gekommen. Um gefällige
baldige Rückgabe wird ersucht. V»'
dem Ankauf wird gewarnt.
Hierdurch kam man auf meint
Fährte, und es gab ein Wiedersehen
Zwilchen meine» Eltern nnd inir, wobei
Thränen dcr Freude in ausgiebigster
Weise flössen.
Die lieblose verliebte Trine aber
wurde noch an demselben Tage mit
Schimpf und Schande meggcjagi."
Hubert Ebel er.
Et» verlorener Tohn.
Die Chronik dcr Stadt Stargard nr
Pommern erzählt eine merkwürdige Ge
schichte von einem verlorenen Sohne.»
Es war um das Jahr 157«!. als da
selbst dcr Bürgcriucisler Joachim Appel
mann lcblc, dcr in dcr ganzen Stadt
einc geachtcle uud gclicbte Persönlichkeit
war und dessen unbeugsamer Rechtlich
leitssiun weit und breit bekannt w«.
Derselbe hatte indes; einen Sohn, der
ihm von klein ans schon wenig Freude
machte. Um ihn zu einem tüchtigen
Manne heranzubilden, liest er es dem
Knaben nicht an Unterricht schien und
sandtc ihn. als er zum Jüngling heran
gewachscn war, sogar ans die Universi
tät, damit er sich dem Rechtsstndiuni
widme. Hier aber gerieth dcr Leicht
sinnige vollends aus Abwege, ergab sich
dem Trunk und verfiel in wüste Aus
schweifungen. Der bekümmerte Vater
versuchte Alles, den Entarteten ans
bessere Wege zu bringen, als aber gar
nichts Helsen wollte, sagte er sich ganz
von ihm IoS Vnd überließ ihn seinem
Schicksal. Die Folge war, daß der
Verstoßene immer tiefer sank und bald
das Weite suchen mußte.
Da ihm sei» Vater das Haus verbo
ten hatte, blieb ihm nichts weiter übrig,
als außer Landes zu gehe» und Kricgs
dienstc zu nehmen. Aber die strenge
Hccresziicht und die Strapazen des Sol
daten schmeckten ihm auch nicht. Nach
dem er so eine Weile mit herumgezogen
war, sasttc er sich ein Herz, eilte zu sei
nem Vater, that einen Fußfall und bat
unter dem heiligen Versprechen, sich zu
bessern, um Ausnahme. Dieser ließ
sich denn auch erweichen, bedeutete ihm
aber gleich, dast dies der letzte Versuch
mit ihm sei. Eine kurze Weile mochte
cs mit ihm gehen. Allein nur zu bald
gewann der Hang zur Liederlichkeit
wieder die Oberhand, und da sich der
Wrgcrmcister weigerte, dem Sohne zu
seinen Schelmenstreichen noch Geld zu
geben, so widersetzte sich dieser und
drohte, seinem Vater das Haus anzu
zünden. Die Nachbarn, welche dies
gehört hatten, wurden nun um ihre
habe besorgt und drangen in den Bür
germeister, sie vor dem gefährlichen
Menschen, den inan auch der Thäter
schast mehrerer schweren Verbrechen be
schuldigte, zu sichern, und Joachim Ap
pelbaum zögerte auch nicht länger, die
sem Verlangen Gewähr zu leisten. Da
er nicht wußte, wo der ungerathene
Sohn sich herumtrieb, bot er die Stadt
wache aus, ihn zu suchen.
Sein Entschluß war gefaßt. Alt
ihm nach einiger Zeit die Botschaft über
bracht wurde, daß man des Gesuchten
im Dorse Bruchhausen habhaft gewor
den und ihn gesaugt» halte, nahm er
den Geistlichen und den Scharsrichter
mit und ging selbst zu dem Gesessellen
in's Gcsängiiiß. Hier Nest er ihn durch
den Prediger zur Reue und Buße er
mahnen und verlündeti ihm selbst sein
Todesnrtheil. Als der Sohn sah, daß
ls dem Vater Ernst war, bat er fle
hentlich um Schonung und gelobte
abermals Umkehr und Besserung.
Allein ohne Erfolg. .Du hast den
Tod verdient," sagte Joachim Appel
mann, „uud mußt ihn erleiden, wie
jeder Andere in dem gleichen Falle!"
Sprach'S, gab dein Sohne noch seinen
Segen und ließ ihn zum Richtplatz
führen. Auf dem Kirchhof zu Bruch-
Haufe» zeigt man noch heute die Stelle,
ivo dieser Alt unerbittlicher Stren.
vollzogen wurde.
EiiicFrühlingsidytle.
Auf einer Maifahrt durch den sprossen
den Wald finden sich die Herze» zweier
junger Menschenkinder; er ist Prima
ner, sie ein naiver Backfisch. —Als dcr
Ausflug beendet ist, geleitet der Prima
ner seine Dame nach Haus und flüstert
bor dem Thore: „Mein Fräulein, Sie
würden mich unaussprechlich glücklich
machen, wenn Sie mir gestatteten, Ih
nen beim Scheiden einen Kuß zu geben!
Sitte, sprechen Sie, darf ich?" Das
Backsischchcu erröthet tief und stot
tert: „Ach ja, wenn Sie so gut sein
wollen!"
Zweideutig. „Ach, gehen
Sie, Herr Doctor, mit Ihren leeren
Liebesbetheucriingen! Sie halten im
mer ein paar Mädchen zum Narren!"
Doctor: „Aber, Fräulein Clara, ich
schwör'S Ihnen zu: diesmal sind Sie'»
nur allein."