Ei» Verbreche«. 1. Am scchSundzwanzigsten October des Jahres 1L67 erschien in den Londoner Zeitungen folgende Nachricht: „Gestern Morgen zwischen neun und «ehii Uhr wurde i» der Villa Rob Roy in der Hamilton-Stratze in Sandbank eine schreckliche Entdeckung gemacht. Das Haus ist an eine Dame, Frau Gregory, vermiethet, welche dort eine Pension hält. Seit einigen Tagen wohnte daselbst eine junge Dame, eine Französin, Namens Fore oder Fori, in einem Zimmer im ersten Stock. Ge stern Morgen, »ls sie nicht, wie ge wöhnlich, zum Frühstück herabkam und lautes, wiederholtes Klopsen an ihrer Zimmerthüre unbeantwortet blieb, er wachte bei Frau Gregory Verdacht. Sie wartete noch kurze Zeit und ließ dann die Thüre, welche verschlossen war, aus brechen. Den in das Zimmer Eintre tenden bot sich ein schrecklicher Anblick. Man fand die junge Dame mit durchschnittenem Hals. In verschiede ne» Theilen des Zimmers sah man große Blutlache-,. Der Anblick der Leiche war entsetzlich. Obgleich dieselbe auf dem Bett gefunden wurde, ist doch Grund zu der Annahme vorhanden, daß sie noch angekleidet, plötzlich über fallen und ermordet wordc» ist und daß sie erst »ach dem eingetretenen Tod von dem Mörder aus das Bett gelegt wurde. Wir erführe» noch, daß die Ermordete am Abend vorher de» Besuch einer fremden Frau erhielt, welche das Haus verlassen haben muß, als die Bewohner desselben schon im Schlafe lagen. Der Verdacht weist natürlich auf diese Person hin, und die Polizei ist eifrig bemüht, in dieser Richtung nachzufor schen." Das war die erste Nachricht über das entsetzliche, von tiefem Geheimniß um gebene Verbrechen. „Das Geheimniß von Sandbant" oder „der Mord in der Hamiltonstraße", wie das Ereigniß ge nannt wurde, erregte das öffentliche Interesse in höchstem Grade und Millio nen von eifrigen Lesern warteten gierig ans jede neue Einzelheit, welche darüber bekannt wurde. Aber das Geheimniß schien ein Ge heimniß bleiben zu wollen, welches der Energie und alle» scharfsinnigen Nach sorschungen der Polizei unzugänglich blieb. Nach nnd nach verschwand der Gegenstand aus den Zeitungen, da an dere Vorsälle das öffentliche Interesse in Anspruch nahmen, wie zum Beispiel ein schrecklicher Eisenbahnunfall, der bald darauf stattfand, und dann später die Ausregung, welche die neuen Wahlen zum Parlament Hervorriesen. Aber es gab einen Mann, der das schreckliche Ereigniß nicht vergaß und geduldig und entschlossen an der Arbeit blieb, »in das schwierige Räthsel zu lösen, um Licht zu werfen auf das, was in Dunkelheit lag, nnd aufzuklä ren, was unbegreiflich schien. 2 Am Morgen deS fünfundzwanzigsten October, einen Tag, bevor die oben erwähnte Nachricht in den Zeitungen stand, hatte sich eine Menschenmenge vor dem Eingang zu der Villa Rod Roy angesammelt. Die Villa Rob Roy ist ei» einfaches, aber gemüthlich ausseheiid.'s, zweistöckiges Wohnhaus. An der eine» Seite desselben steht ein eben solches neugebautes Haus, wäh rend die audere Seite von einem noch freien Bauplatz begrenzt wird. Die Hamiltolislraße, in welcher diese Villa liegt, ist eine halb städtische, halb länd liche Nebenstraße,kleine Gärtchen, welche vor den h.ibsche» Landhäusern liegen, verleih'» der Gegend einen mehr länd lichen Eharakter. Frau Gregory, die Mietherin der Rob Roy, die ziemlich gewichtige Wittwe eines ebenso stattlichen Zollbeamten, stand vor der Hausthüre, umgeben von einer Gruppe vou Leuten. Aus ihrem gewöhnlich gutmüthigen Gesicht lag der Ausdruck von Schrecken und Aufre gung. Neben ihr stand ein Mann in Arbcitslleidern, welcher in der Hand einige ZinimermannSwerkzeuge hielt und sehr ernst aussah. „AchOiott", riesFrau Gregor«, „was soll ich thun, was soll ich thun? Der Wachtmeister kommt »och immer nicht, auch der Doktor nicht! Armes Ding, und noch so jung! Und so etwas konnte in meinem Hause vorkommen, das seit vielen Jahren von der besten Gesell schaft besucht wird! ES ist entsetzlich." „Es ist ein Mord verübt worden, da ran ist kein Zweifel," sagte der Zim mermann. „ich wußte es von dem Augenblick an, wo Sie nach mir sand ten, »m die Thüre auszubrechen." Frau Gregory antwortete mit einem lauten Seuszer. In diesem Augenblick erschien die blaue Uniform eines Polizeibeamten in der Entiernnng. Der Beamte wurde von einem jungen Mann in Arbeits kleidung begleitet; und Beide eilten so raich. als ihre Füße sie zu tragen ver mochten, der Villa zu. „Hier ist die Polizei!" rief die Menge. „Es ist ein Sergeant!" rief Jemand, der die weißen Streifen am Arme des Beamten bemerkt hatte. Der Sergeant trat rasch näher. Seine ruhige Haltung wirkte beruhi gend aus die schwatzende und aufgeregte Menge, die hauptsächlich aus Frauen bestand. „Was ist geschehen, meine Ddine?" fragte er. „Sagen Sie es mir schnell, ehe ich weitere Untersuchungen be ginne." Fran Gregory begann zu sprechen, aber noch ehe sie drei Worte hervorbrin gen konnte, brach sie seufzend zusam men. Ter Sergeant blickte sich um. Ein Dutzend Stimmen erhoben sich zu gleich. um ihm Mittheilungen zu machen, und nur mit großer Schwierigkeit ge lang es ihm endlich, die redselige, dienstfertige Menge zur Ruhe zu bringen. „Hat nicht Jemand dieser Dame auf ihr Verlangen Beistand geleistet?" „Ich!" rief Meister Wales, der Zim mermann. „Tann kommen Sie her, mein Bester", sagte der Sergeant, „und sa ge» Sie mir rasch, was Sie wissen." „Diesen Morgen, etwa um zehn Uhr," sagte Wales, „war ich an der Arbeit, als das kleine Mädchen von Frau Gre gory gelaufen kam und mir sagte, ich möchte hierher kommen und mein Hand werkszeug mitbringe», es sei nicht rich tig mit der einen Pensionärin, sie komme nicht herab nnd antworte nicht aus das Klopsen an ihrer Thüre. Ich ging sogleich hin. und auf Verlangen der Frau Gregory schraubte ich das Schloß los und öffnete die Thüre, wo rauf wir Beide ein junges Mädchen auf dem Bett in seinem Blute liegen sahen." Ein Gemurmel des Entsetzens erhob sich in der Menge. „Frau Gregory," fuhr Wales fort, „sprach von einer fremden Frau, welche von der Ermordeten erwartet wurde. Diese Frau sei dann gestern Abend auch gekommen und bei der Ermordeten geblieben. Ich sagte zu Frau Gregory: »Hier ist ein Mord verübt worden, und rieth ihr, die Thüre wieder zu schließen, nichts anzurühren und sofort nach der Polizei und nach einem Arzt zu schicken." „Gut," sagte der Sergeant, „also nur Sie und Frau Gregory sind in dem Zimmer gewesen?" „Nur ich und Frau Gregory," erwi derte Wales, „und Frau'Gregorys klei nes Mädchen." „Ich werde jetzt in das Haus gehen," sagte der Sergeant ruhig und in keiner Weise erregt oder verwirrt von dem Er eigniß, daß alle Umstehenden in ein Fieber der Ausregung versetzt hatte. „Ich habe dem Polizeilieutenant Nach richt gegeben, welcher sogleich mit einer Anzahl von Leuten komme» wird, uu: den Platz zu bewachen. Jnzwsichen können Sie, mein Bester, mir den Ge fallen thun, sich an der Pforte auszu stcllcn und alle Fremden zurückweisen. Keine Seele, welche nicht ins Haus ge hört, lassen Sie ein; nehmen Sie keine Entschuldigung un und rufen «sie mich, salls irgend Jemand hartnäckig sein sollte." Geführt von Frau Gregory, welche sich inzwischen wieder erholt hatte, trat der Sergeant in das Ziminer, in dem die Ermordete lag. Der Anblick war so furchtbar, daß jeder Andere, als 'dieser mit eisernen Nerven begabte Beamte, den nichts aus der Rnhe bringen konnte, entsetzt zu rückgewichen wäre. Auf dem Bett lag ein schönes, junges Mädchen, dessen be wegungslose Augen mit einem wilden Ausdruck von Schrecken dem Sergean ten entgegenstarrten. Die Leiche war vollständig angekleidet; die mit Blut überströmten Kleider zeigten keine auf fallende» Spuren von Unordnungidas schwarze Haar der Ermordeten war jedoch lose herabgefallen. Die Stel lung, in der sie lag, ließ sofort zwei tiefe Wunden an der linken Seite des Halses erkennen; eine derselben war wenigstens drei Zoll lang und die andere sast vier Zoll. Das Blut war in Strömen aus den Wunden geflossen und hatte de» oberen Theil der Klei dung der Todten ganz durchdrungen; auch in der Mitte des Zimmers und an verschiedenen anderen Stellen fanden sich Blutflecke. Nichts deutete darauf hin, daß ein Kampf stattgefunden habe und man konnte glauben, daß sie plötz lich aus dem Schlaf erwacht sei und den angedrungenen Mörder erblickt habe. „Sie stand aufrecht, als sie ermor det wurde," dachte der Sergeant, „erst als Leiche ist sie auf das Bett geworfen worden." Mit geübtem Auge überblickte er die ganze hes »knie Umstände den Strom iwer eveli- lhen Erinnerungen, „Vor vier Tagen, sagen Sie? Das war am 21. Oktober. Noliren Sie da» Dalum," sagte er zu seinem Schreiber. ' „Nun erzähle» Sie mir", suhr er snrl, „Alles, was volsiel und bleiben Sie bei der .!»che". mein Herr", begann die Willme. „S>e kam in einer Droschke mit ihre» koffern und Sache» ange sahren, es war am Montag Mor gen sie sagte, sie sei vom Royal hotel zn mir gewitscii. und fragte mich, ob ich ihr eine Wohnung geben könne. Sie sprach nicht fertig englisch, konnte sich aber ziemlich verständlich machen. Ich erfuhr, daß sie hierher gekommen war, um niil einer anderen Person zu sammenzutreffen, die sie erwartete. Sie hatte ein sehr angenehmes, ruhiges Wesen »ud machte einen vortheilhasten Eindruck. Ich Halle noch eine Meng? Zimmer frei, denn Ende October ist die Saison längst vorüber, und ob gleich ich Herren den Damen vorziehe, da jene weniger Umstände machen, nicht liberal! umherschnüffeln und Alles über wachen, war sie mir doch sehr willkom men. Ich sagle ihr, sie könne das Zimmer oben im ersten Stock haben, wo sie jetzt liegt, das arme Wesen, und es stehe ihr srei. sich auch im Salon unten auszuhalten. Sie war mit meinen Bedingungen einverstanden, welche billiger sind, als in irgend einer andere» Pension in unserer Stadt". Obgleich die Dame schnell sprach, so machte sie doch viele überflüssige Worte, und der Beamte wurde ungeduldig. „Gut! Sie zog also bei Ihnen ein, das wissen wir. Nun sagen Sie uns, was für eine Art von Dame sie war, wie sie ihre Zeit zubrachte und dann den Rest von der Geschichte". „Sie war die ruhigste Mietherin, für eine Dame die ich mich je gehabt >u haben erinnere," erwiderte die Witt we. „Sie sprach nicht viel mit mir, wahrscheinlich weil es ihr schwer fiel, sich englisch auszudrücken, und es ist nicht meine Art, mich jemand aufzu drängen, wenn man es nicht wünscht. Sie saß ost nachdenklich allein, ging jeden Tag etwas aus und schien ganz melancholisch zu sein. Ich hielt sie für eine ausländische Gouvernante, welche ihre Stelle ausgegeben hat und sich nun an der See etwas erholen und kräftigen will, ehe sie eine andere Stelle sucht." „Sie sagte Ihnen also nicht, wer sie lvar, »der was sie hier that?" „Nein, und sie erhielt auch niemals einen Bries, bis gestern Morgen." „Ah," sagte der Chef, während seine Miene sich belebte, „sie erhielt einen Brief! Sie nahmen ihn in Empfang und haben ihn natürlich genau angese hen?" Frau Gregory achtete nicht auf die Ironie in Mister Gadds Frage, welche auf eine wohl bekannte Neugierde der Pcnsionsivirlhinnen anzuspielen schien. „Nein," erwiderte sie, „das arme Ding sah vom Fenster aus, wie der Briefträger aus die Psorte zukam, und eilte ihm entgegen, um ihm die Thüre zu öffnen. Während ich aus der Küche hinauseilte, sagte sie mir. der Bries sei sür sie. Ich habe denselben nicht in die Hand bekommen." „Hm", murmelte Meister Gadd. au genscheinlich enttäuscht. In d.escm Augenblick fragte der junge Sergeant, welcher mit großer Aufmerksamkeit zuhörte, in respektvol lem Tone: „Dars ich mir erlauben, eine Frage >u stellen, Sir?" „Gewiß, Sergeant Power", erwi derte der Ehes, „was wünschen Sie?" „Ich bitte. Frau Gregory zu fragen, i>b sie sich erinnert, um welche Zeit der Briefträger mit dem Bries kam?" „Hören Sie, was der Sergeant srcigt?" bemerkte Mister Gadd, welcher den Zweck dieser Frage nicht verstand, iber seinem Untergebene» nicht in den L)eg treten wollte, zu Frau Gregory. „So viel ich mich erinnere, war es kurz vor ein Ulir. Ich weiß sicher, daß es »ach zwölf Uhr war, den» das Mittagessen war schon beinahe fertig." „Daraus ist zu schließen, Sir," sagte «ergeant Power in bescheidenem Tone, „daß der Brief ein Stadlbrief gewesen fein m»ß. Er kaun nicht von London oder überhaupt von auswärts g»!ommc» sei», denn nach den frühen Morgenstunden kommen bis zum Abend keine auswärtigen Briese mehr »n." „Sehr richtig," sagte der Polizei- Znspeklor Gadd beifällig, „notiren Sie »äs, Thomas, um welche Zeit der Brief gebracht wurde." 4. Sergeant Power hatte durch seine rechtzeitige Frage ein Anzeichen festge stellt, welches von Werth sein konnte. Wenn dem Inspektor Gadd jener Scharfblick fehlte, welcher wichtige. Ein zelheiten sofort mit Sicherheit ersaßt, so besaß er doch Erfahrung und wußte die Bedeutung, welche oft auch unschein bare Kleinigkeiten besitzen, wohl zu schätzen. „Dieser Powerist kein Dummkopf," dachte er, „es ist mir lieb, daß er hier anwesend ist, er kann sich gelegentlich Nützlich machen." Ohne den gute» Eindruck zu bemer ken. den er aus seinen Vorgesetzten ge macht halte, ükerließ es der junge Ser geant dem J'nipeltor, die Unterluchung sortzuietzen. und nahm wieder sein zu rückhaltend- z We'en an. „Ann. Mleiherin erhielt also den Brief." i>!l,r der Jnspettor fort, „was ge ch.ch dann^" „Richly Beiond.reS, mein Herr. so viel ich >ve>ß. lii ging wieder i» die Küche u»d »:?> u: :>i. wie sie den Bc es las, d.ch b.ilo nuii!>er, als ihd.iS .'Nit tagessen »...aie. >ai;esie »ilr. sie h.ibe Nachricht vou der erwarteten Person er hallen/' unterbrach sie der Inspektor eifrig, „nun, was sagte sie Ihnen von dieser?" „S>e laste, sie werde des Abends ausgehen, um mit der Erwarteten zu» sammen zu treffen, und wahrscheinlich werde diese mit ihr zurückkommen, um hier zu übernachten." „Erwähnte sie die Person als eine Dame? Sind Sie sicher, daß sie nicht einen Herrn meinte?" fragte Mister Gadd mit einem forschenden Seitenblick nach Frau Gregory. „Einen Herrn?" rief die Wittwe ent rüstet. „Nein, mein Herr, wir gestat ten nicht, daß die Mieterinnen von Herren besucht werden, außer von ihren gesetzlichen Ehemännern. Ich würde so etwas in meinem Hause nicht erlau ben." Die Aufrichtigkeit der Dame in ihrer Eigenschaft als tugendhafte Matrone war zu augenscheinlich und ließ keinen Zweifel übrig. „Außerdem, fuhr Frau Gregory fort, „war die Person wirklich eine Dame, das habe ich mit eigene» Augen gesehen." „Sie haben sie also gesehen?" »Ja, Herr Jnspector. Spät deS Abends, ging die Mietherin aus und kam mit ihrer Freundin zurück." „Um welche Zeit war das?" „Es war nahe an elf Uhr; ich hörte einige Minuten später die Uhr schla gen." „Um halb elf Uhr kommt ein Zug aus London an," bemerkte Sergeant Power; „das könnte der Zeit nachstim men, wenn sie zu Fuß vom Bahnhos kamen." „Ja, ganz richtig," erwiderte der Jnspector. „Kamen sie in einer Droschke?" „Nein, mein Herr, sie kamen zu Fuß bis zur Hausthür«." „Und nun," sagte der Jnspectos ernsthaft, „überlegen Sie wohl, was Sie sagen, und suchen Sie sich an alle Umstände genau zu erinnern. Es hängt viel von dem ab, was Sie uns sagen können. Sie sahen sie also, als Sie ihnen entgegen an die Thüre gingen?" „Ja, Herr Jnspector, ich öffnete ih nen die Thüre; meine Mietherin ging voran, ihre Freundin folgte ihr." „Wie sah die letztere aus?" „Nun, es war etwas dunkel, da ich nur eine Lampe und kein Gas habe, aber ich sah, daß sie eine hochgewachsene Dame war und eine Reisetasche trug." „Haben Sic ihr Gesicht gesehen?" „Nur ganz flüchtig. Es war eine frostige Nacht, Sie wissen, es ist schon sehr winterlich, und sie war bis über das Kinn verhüllt und hatte einen dicken Shawl umgelegt. Ich kann nur sagen, daß sie, wie ihre Freundin, brüneti zu sein schien." „Aber, sahen Sie sie nicht genauer, als sie herein kamen?" „Das ist es eben das gelang mir nicht. Als sie in den Hausflur traten, sagte meine arme Mietherin, soviel ich mich erinnern kann: dies ist meine Freundin, von der ich sprach, sie ist sehr ermüdet und will sogleich nach oben zu Bett gehen. Ich redete ihnen zu, in den Salon zu treten und etwas zu speisen, es war noch etwas Hammelbraten da vom Mittagessen unk Pickles, aber meine Mietherin dankte mir und sagte, sie hätten nichts nöthig. Sie gingen dann nach oben und ich habe nichts mehr von ihnen gesehen." „Sie haben sie nicht mehr gesehen?" fragte der Jnspector. „Das ist sehr fatal! Wie war die fremde Frau ge kleidet?" „Sie trug einen langen Reiseman tel mit einer Kapuze aus dunklem Stoff und einen Hut; der Mantel reichte bis zu den Füßen. Um den Hals hatte sie einen Shawl gebunden, der ihr Gesicht halb bedeckte. Welchen Eindruck machte die Dame auf Sie? Sagte sie etwas?" „Kein Wort, Herr Inspektor, fit stand ganz still hinter ihrer Freundin und sagte nichts, nicht einmal guten Abend, oder gute Nacht. Ich hielt sie für eine Fremde, welche die Sprache nicht kennt; vielleicht eine Gouvernante ider etwas der Art." „Sie gingen also nach oben?" „Ja. Meine Mietherin hatte mir gesagt, ich solle keine Vorbereitungen treffen, sie hätten kein besonderes Zim mer nöthig und könnten sehr bequem beisammen schlafen. Das ist auch richtig, denn das Bett ist breit genug für drei Personen, nicht nur für zwei!" „Haben Sie darauf noch irgend einen Laut gehört?" „Ich war beschäftigt, aufzuräumen und Alles sür den anderen Morgen in Ordnung zu bringen. Ich schlafe mit meiner kleinen Nichte, meiner Schwe ster Kind, welche bei mir wohnt und mir hilft, oben im zweiten Stock, wenn das Zimmer nicht von Gästen einge nommen ist. Marie war schon zu Betl gegangen. Ich mußte an dem Zim mer im ersten Stock vorüber gehen, um nach oben zu kommen, ich glaube, man sprach darin, als ich vorüber ging, aber ich tonnte nichts verstehen." Der Jnspector hätte sehr gewünscht, daß Frau Gregory in dieser Beziehung weniger Zartgefühl besessen hätte, aber er enthielt sich einer. Bemerkung darüber. „Sie hörten nichts während der Nacht? Keinen Schrei, kein Geräusch?" „Nein, gar nichts! Ich arbeite fast den ganzen Tag und habe ein gutes Gewissen, und schlafe deshalb sehr sest, mein armer Gregory hat sich oft da rüber beklagt." „Und das kleine Mädchen, Ihre Nichte, wie Sie sagen, Hörle auch nichts?" „Nein, Herr Inspektor, sie schlies ebenso fest, wie ich. Das Zimmer oben, wo wir schlafen, geht »ach der Straße hinaus und befindet sich nichl über dem, in welchem sich die Damen befanden; .es hätte ein starkes Geräusch sei» müssen, wenn wir es hätten hören sollen." „Das sieht aber sehr seltsam a>H" bemerkte der Inspektor. „Sie müssen in der That einen gesunden Schlaf ha ben! In Ihrem Hause wird eine Dame erinordet, fast unter Ihren Füßen und die Person, welche auaenicheinlick das Verbrechen begangen hat. geht die Treppe hinab, öffnet die Thüre —" „Nein, mein Herr, Sie irren sich," unterbrach ihn Frau Gregory trium phirend, wie von einer plötzlichen Ein gebung ergriffen, „das hätte sie nicht thun können, aus gute» Gründen. Gestern Abend verriegelte ich sorgfältig die Vorderthüre und überzeugte mich auch davon, daß die Hinterthür gut verschlossen war, uud heute Morgen, als ich ausstand, fand ich beide Thüren so wie ich sie verlassen hatte. 5. Diese etwas überraschende Mitthei lung warf ein neues Licht auf die Sache. Die verschlossene Thür des Schlafzim mers, welche durch den Zimmermann aufgebrochen werden mußte, war also von innen und nicht von außen ver schloffen gewesen. Der Schlüssel war ganz verschwunden, so daß der Zim «»ermann, selbst wenn er sich davon hätte überzeugen wollen, nicht sagen tonnte, od er von innen oder von außen umgedreht worden war. Frau Gre gorys Aussage gab jedoch der Unter suchung eine ganz neue Richtung. Sergeant Power verließ das Zim mer, ohne eine» Befehl abzuwarten, und eilte die Treppe hinauf nach dem Zimmer, wo die Ermordete lag. Das Fenster war geschlossen, wie er zuvor schon bemerkt hatte, und die Jalousie herabgelassen. Aber bei näherer Un tersuchung fand er, daß der Haken zu rückgezogen war und nicht in die Oese eingriff. Rasch öffnete er das Fenster und sah hinaus. Etwa zwanzig Fuß darunter lag ein kleiner Garten, der von einer Backsteinmauer eingefaßt war, und fast unmittelbar unter dem Fenster, nur wenige Fuß tiefer, lag das Dach eines kleinen Anbaues. Nun war Alles klar; die geheimniß volle Besucherin hatte das Zimmer durch das Fenster verlassen, war auf das Dach des Anbaues hinaus gestiegen was wenig Geschicklichkeit erforderte und nicht sehr gewagt war und war don hier aus mit einem leichten Sprung auf die weiche Erde unten hinabge sprungen. Frau Gregory, eine spar same Hausfrau, welche aus Allem Nutzen zu ziehen wußte, hatte diesen kleinen FM zu benutzen verstanden. Sie hatte ihn in einen Küchengarten verwandelt. Der elastische, nachgiebige Erdboden machte einenSprnng von dem Dach des Gebäudes herab ganz gefahr los, selbst für eine Frau, wenn sie nur etwas gewandt war. Um sich von der Richtigkeit seiner Beobachtung zu überzeugen, machte der junge Sergeant selbst den Versuch. Mit einem Sprung war er aus dem Fenster auf dem Bordach, von hier ans konnte er mit großer Leichtigkeit das Fenster darüber erreichen, mit der Hand den Fensterrahmen ergreifen und die Jalousie herabziehen. Nachdem er dies shne Schwierigkeit ausgeführt hatte, sprang er auf den Rasen hinab. Der Jnspector war inzwischen nach gefolgt und kam noch rechtzeitig, um Zeuge davon zu fein. Der Sergeant theilte ihm seine Entdeckung mit. „Suchen Sie jetzt nach Fußspuren." sagte der Jnspector, „auf diesem weichen Grund müssen solche sicherlich zu finden sein." Doch dies war nicht so leicht. Man lonnte wohl mit einem Blick sehen, daß der Grund niedergetreten war, aber das Mar Alles. Der elastische Erdboden >eigte den Eindruck von Füßen in Folge des Sprungs, aber jeder bestimmte Umriß war verschwunden, als ob man in Sand oder Schnee geschrieben hätte and dann darüber hingefahren wäre. Nur hier und da sah man den tieferen kindruck von einem Absatz, aber Fuß spuren von bestimmteren Umrissen wa ren nicht zu finden. Ueberdies waren dieselben auf die Stelle unter dein Anbau beschränkt, daneben war ein Kiesweg, welcher sich am das Haus und bis zur Pforte hin log. Augenscheinlich war die fremde Krau diese» Kiespfad entlang gegan gen, welcher keine Spur hinterließ, und war dann durch die Vorthür hinaus gegangen, die nur mit einer Klinke ver schlossen war. „Wir haben es mit einer sehr schlauen Person zu thun," sagte Sergeant Power >u dein Jnspector, „sehen Sie, nicht eine einzige bestimmte Spur ist zu linden. Alles ist sorgfältig ausgeführt vorden." Mister Gadd ließ den Kopf hängen. »Die Sache ist doch schwieriger, als ich gedacht habe; ich fürchte, sie wird uns diel zu schaffen machen. Ich sehe, es wird ohne Delectivs nicht gehen, und ich glaube, sie werden auch keine leichte Arbeit haben." Der junge Sergeant schwieg einen ilugenblick, weniger in Folge der Be merkung des Inspektors, als weil er in Bedanken versunken war. „Eins fällt mir auf," sagte er, „wa< Sie ohne Zweifel auch schon bemerkt haben, der Verbrecher muß mit dem öause wohlbekannt gewesen sein. Ein Fremder würde von dem Anbau und von diesem leichten Weg, aus dem Hause zu kommen, gar nichts gewußt haben." ES ist zweifelhaft, ob der Jnspector von sich ans die Bedeutung dieser Um stände so recht erkannt hätte, er war jedoch im Stande, eine Sache zu be greife». wenn sie ihm erklärt wurde, und jo nickte er zustimmend. „Es war auch ein Brief da," sagte der Sergeant Power, „dieser muß von irgend Jemand gekommen sein, der sich schon in der Stadt befand. Verlassen Sie sich darauf, die Frau, die wir suchen, war schon früher als gestern Abend hierher gekommen und wir müs sen Spuren vou ihr finden. Und hier ist auch etwas, was ich oben fand und was ich Ihnen zeigen muß." (Fortsetzung folgt.) Sicheres Zeichen. Mutter: Der Assessor will Dich heirathen —Tochter: Aber er hat mir ja noch gar nicht die Kur gemacht.—Mutter: Aber mir! Berliner Heirathsvermittler» Ueber die Heirathsvermittler in de, Reichshauplstadt bringen die „Ham, burger Nachrichten" ein interessantes Feuilleton, welches sich nicht nur mit jenen dunklen Existenzen beschäftigt, di» in Zeitungsannoncen zahlreiche Millio nen-Erbinnen, u. A auch solche mit sittlichen Desecten u. dergl. in betrüge rischer Weise ausbeuten, sondern auch mit Heirathsvermittlern, die ihr Ge schäft in Glacehandschuhen betreiben und mit den Strafgesetzen nicht in Eon» flict kommen. Von der letzterwähnte» Spezies wollen wir hier einige „Typen* anführen: .. ..Vor Kurzem erst starb in Ber lin ein Rentier K., ein gemachter Man i, der zwei schuldenfreie Häuser besaß und mit dem Kuponabschneiden Bescheid wußte. Er war ehemals Bar bier gewesen, und zu seinem Kunden kreise gehörten, da er in der Nähe de« Kaserne eines Regiments wohnte, ein« ganze Anzahl Offiziere der Garde-In fanterie. K. machte damals dann und wann kleine Wuchergeschäfte, und der, der am meisten bei ihm in der Kreide saß, war ein junger Graf mit wunder schönem Namen, wunderschöner Figu? und wunderschönem Schnurrbart. Aber der Graf war arm, wie eine Kirchenmaus; die Leibrente, die er aus iröend einer Familienstistuug bezog, genügte kaum zur Begleichung seiner Handschuhrechnuug. Und eines Tages, als der wunderfchöne Graf sich gerade rasiren ließ und seinem Figaro ein Klagelied über die „Melancholie seine» leeren Taschen" sang, da setzte K. sein scharfes Meffer ab und sagte in über zeugungsinnigem Tone: „Sie müßten heirathen, Herr Graf! " „Schön," antwortete dieser, „aber wen und wie viel? " Und nun rückte K. mit sei nein Vorschlage heraus. Er rasirt« täglich Herrn nennen wir ihn Herrn 8., einen jener ehemaligen Schöneber ger Bauern, die durch den Verkauf ihrer Ländercien immens reich gewor den sind. Dieser A. halte ein gnt er zogenes Töchterchen, und dieses Töchter chen sollte Frau Gräsin oder Frau Ba ronin werden. Der alte Y. steckte noch mit beide» Füßen in seinen Bauern schuhen und verschmähte es nicht, mU seinem Barbier zu fraternisiren. So ließ sich denn die Angelegenheit leicht und bequem einleiten. Es dau erte gar nicht lange, so war der wunder schöne Graf mit dem reichen Mädchen verlobt, bezahlte seine Schulden, nahm seinen Abschied und kaufte sich ein Rittergut. Herr K. hatte ein hübsches Sümmchen für seine Vermittlung ver dient, legte Barbierbecken und Scheer messer bei Seite und.wurde Rentier. Aber er hatte Geschmack daran gewon nen, Amor und Hymen ins Handwerk zu pfuschen, und da sein erster glückli cher Handel bekannt war, so erwarb er sich auch bei seiner neuen Be schäftigung rasch einen Kundenkreis. Er hatte in der That das, was man „eine glückliche Hand" zu nennen pflegt. Er spürte Partien aus, besorgte die einlei tenden Schritte zu einer Annäherung und kuppelte, daß es eine Lust war. Ein weibliches Gegenstück zu dem ehemaligen Barbier mit der glücklichen Hand ist eine ältere Dame von Distink tiv», die Wittwe eines Beamten, irren wir nicht, eines Geheimen Rechnungs raths oder dergleichen, denn sie wird stets „Frau Geheimrath" genannt, di-, in einer der elegantesten Straßen Ber lins wohnt, und in deren Salons eine recht gute Gesellschaft verkehrt. Wenig stens die Herrengesellschaft ist stets ta dellos, denn sie besteht aus jungen Officieren, Juristen, Künstlern während man unter den anwesenden Damen häufiger dann und wann eine Erscheinung bemerken kann, von der man, wie bei dem „Mädchen aus der Fremde", nicht recht weiß, „woher sie kam". Nun also, die Frau Geheim rath gilt offen als eine Heirathsver mittlerin und sie ist es auch, sie gibt es selbst zu. Sie ist eine sebr kluge, sehr gewiegte und diplomatische Frau, eine Frau von Welt, die immer die iiußerlichen Formen aufrecht zu halten weiß auch im Geschäftlichen. Kommt ein junger Herr zu ihr und sagt ihr brüsk: „Meine Gnädige, ich möchte mich gern verheirathen" so >ulkt sie die Achseln und entgegnet: „Aber, mein Herr, wer hindert Sir denn daran? Nur bemerken Sie bitte, daß ich dabei Nichts thun kann gar Nichts!" Läßt sich jedoch ein junger Herr formvoll bei ihr anmelden, sagt tr, er käme auf Empfehlung von Die sem oder Jenem und bittet er höflich, im Hause verkehren zu dürfen, so wird die Frau Geheimräthin ganz gewiß gnädig erwidern: „Mit Freuden an jedem Dienstag und Freitag von sieben Uhr ab sehe ich ineine Bekannten bei mir." Und bis zu diesem Joursix ist die Geheimräthin genau über die Verhält nisse ihres Klienten orientirt und so ganz apropos nimmt sie ihn bei Seite und raunt ihm zu: „Wissen Sie was, mein verehrter junger Freund, Sie sind alt genug dazu! Da sind zu fällig ein paar Damen bei mir die und die oder die die recht gut für Sie passen würden".... und nun ent wickelt sich die Komödie, die freilich nicht immer einen lustigen Abschluß erhält. Von „Gebühren" nnd von „Gratifikation" ist keine Rede. Ter Heiratlfscandidat übergiebt, wenn seine Sache eingeleitet ist, der Vermittlerin ein Accept, ausgestellt über eine ge wisse Summe, die natürlich immer im Verhältniß zu der zu erwartenden Mitgift steht und zahlbar drei Monate nach der Civiltrauung mit Fräulein Soundso. In gewisser Wesse ist der Heirathscandidat demzufolge immer in den Handen der Vermittlerin, denn er kann über die Höhe der Mitgift ge täuscht worden sein wissentlich oder > unwissentlich. 3