Scranton Wochenblatt. (Scranton, Pa.) 1865-1918, June 24, 1892, Page 2, Image 2

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    2 «»« harmlose» Monte Carl».
Von einem harmlosen Monte Carlo
gibt die „Köln. Ztg." Knnde. dem un
weit Arnsberg gelegenen Städtchen M.,
aus dessen geheimnißvollem Treiben ihr
ein Mitarbeiter Folgendes verräth:
Still und weltabgeschieden ist der Ort.
und es lag eine gewisse Ironie in un
sern Worten, als wir unsern Gastwirth
fragten, wo denn heute an einem
Sonntage etwas „los" sci. Er er
widerte, daß wir natürlich auf Concerte
und andere Genüsse einer Großstadt
verzichten müßten, „aber, wenn Sie
etwas Originelles sehen wollen, so be
suchen Sie die Wirthschaft von K."
Unsere Neugierde wurde gereizt, und
bald befanden wir uns vor dcm bezeich
neten Haufe, glaubten aber, cs müsse
so gut wie leer sein, da man außer einer
einzelnen Stimme kaum einen Ton
vernahm. Wie erstaunten wir, als
wir in dcm nicht sehr großen Gastzim
mer bis 7<l Personen vorfanden,
eingehüllt in einen dichten, fast un
durchdringlichen Tabakrauch! Prächtige
Wcstfalcngcstaltcn mit dcm betannten
blonden Haar nnd ehrlichen offenen
Gesichtszügen, die freilich auch den
Schalk dahinter vermuthen ließen,
saßen dichtgedrängt beicinandcr. Jeder
mit einem kleinen Stück Kreide bewaff
net und zwei, drei vier Karten vor sich,
wie wir sie aus dem Lottospiel der Kin
derzeit her kennen.
In der That, hier fand ein gemein
schaftlichcs öffentliches Lotto statt. Man
machte uns, so gut es ging, sofort be
reitwilligst Platz und lud uns ein. an
dem Spiel theilzunehmen. Die Neu
heit zog uns an, und rasch lagen je
drei der zur bessern Haltbarkeit mit
Lack übcrstrichcncn Karten vor uns.
eingetheilt in vicrcckigc Felder, dic theils
leer, theils mit Zahlen, fünf in jeder
der drei Reihen, bedruckt sind. Für
jedes Mal eine Karte zahlte man sünf,
ze nach Uebereinkunft der Mitspielenden
auch nur zwei Pfennig Einsatz an den
Einnehmer: dies war zugleich der Ans
ruscr, dessen Stimme wir im Anfang«
vernommen hatten. Da erschallte schon
sein schnarrendes Numnicrro, das die
Einleitung eines neuen Spieles bildete
und gleichsam das in unsoliden Spicl
sälen übliche risn ns v» plus vertritt.
Das während der kurzen Pausen, dic
der Abrechnung und dem Einsammeln
dienen, eingetretene Summen der Un
terhaltung verstummte sofort, und mit
großer Andacht paßte Jedermann auf
seine Nummern, neben die cr, wcnn sie
zufällig gcrufen wurden, einen kurzen
Strich auf dcm Tische verzeichnete.
Der Fremdling, der dcr plaltdcutschcn
Sprache nicht mächtig ist, wird wobl
nicht oft in die Lage kommen, dies zn
thun denn während des ganzen Abends
vernimmt man kaum ein hochdeutsches
Wort. Ein solcher wird also häufig
nicht wissen, oder höchstens nur rathen
können, was diese ooer jene ausgeru
fene Zahl bedeutet. Zum Fragen ist
keine Zeit, anch wiirde das auch als
unwillkommene Störung betrachtet
werden. Aber auch dcm, dcr das
Plattdeutsche kennt, bieten sich genug
Räthsel dar. Was soll cr sich z. B.
lliiter dcm „österreichischen Froihstücke"
denken?
Dcr Sarkasmns meint damit 25.
Dic „Olle," d. i. die letzte dcr beiin
Spiele verwandten Nummern, ist 9V.
Ein „Krengcl" bedeutet wegen dcr Ge
stalt die 8. Einzelne Thcilnchmer
haben auch fcststchcndc Räume aus be
stimmte Zahlen zur Verfügung. So
bei „scstaihn" „am Schweine kann
man Speck saihn" und dcrgl. Der
ganze Vorgang spielt sich ohne sonder
liche Aufregung ab. Nur wenn Einer
eine „Quatcrne", d. h. von den fünf
Nummern derselben Reihe bereits vier
besetzt hat, zeigt sich in dcr Nachbarschaft
einc gcwissc Bewegung nnd Theilnahme.
Diese steigert sich natürlich, wenn der
Fall mehrmals eintritt. Doch bleibt
auch beim Hereinfall noch gute Laune
genug übrig. Da trotz des unbedeu
tenden Einsatzes „dic Masse cs bringen
muß", befinden sich in dcr .Bank"
durchschnittlich 3 bis 4 Mark. Der
glückliche Gewinner behält sie jedoch
meistens nicht für sich allein, sondern
zahlt nach altem Herkommen die Karte»
feiner Bekannten für das nächste
Spiel. So geht es etwa vier Stunden
lang. An Wochentagen wird nicht
gespielt, auch nicht während dcr Som
mermonate. Fragt man nun, was
bei jedem Spiel um Geld freilich son
derbar klingt, nach dem sittlichen Werth
dieser abendlichen Beschäftigung, so ist
cr in unserem Falle doch insofern nicht
ganz zu verkennen, als das leiden
schaftliche Spielen mit andercn Karten
dadurch verdrängt und nebenbei eine
harmlose Gemüthlichkeit gepflegt wird.
Außerdem wird de» Armen des Ortes
mancher Groschen von den Gewinnsten
zu Theil, die in die dafür vorhandene
Büchse wandern.
Damal s.—F rä »le in: „Aber
sage mir nur, liebe Amalie, warum
hast Du denn Deinen Mann nicht schon
vor zehn Jahren genommen?"— Frau:
„Damals, meine Liebe, war cr mir zu
alt!"
Das Leben ist ein Sen
iationsroman; es ist unmöglich, den
Schluß in den'ersten Kapiteln zn
ahnen.
Ein neuer Kepler throni
m dcr Redaktion der „Westdeutschen
Allgemeinen Zeitung." Ein Leitarti
kel in Nr. 117 dieses Blattes übe»
„Die niitteleuropäische Zeit" beginnt
mit folgendem Satz : „Das ist ja all
gemein bekannt, daß sich dic Erde ein
mal im Tage dahcr stammt dcr Be
griff des Tages—um die Sonne dreht.
GuteParthie. Onkel: Wir
gedenken Pfingsten eine Tour in de»
Eichenwald zu machen. Wenn Tu L»st
hast, kannst Tu Tich n»s anschließen,
Toni. Oder intcrcssirst Du Tich nicht
sür Landparthicn? Toni ftiachdcn
kcnd): Warum denn nicht? Ein wohl
habender Gutsbesitzer wär' gar nicht so
tibel.
Sie »tebt.
Gertrud Lorenz starrte mit der Miene
der Berzweiflung auf den Brief nieder,
den sie in ihrer zitternden Hand hielt.
Was sollte sie nun beginnen? Er, den
sie liebte mit der ganzen Inbrunst ihres
weichen, warm empsindendm Herzens,
mit dcm ganzen Anlehnungsbedürfniß
ihrer schwachen, unselbststoiidigen Na
tur, mit der ganzen Kraft ihrer schwär
merischen Seele, er, in dem sich seit zwei
Jahren für sie alles, was das Leben
Schönes, SüßeS, Erskrebenswerthes be
saß, verkörperte, er hatte sie verlaffen.
Mit kurzen, kalten Worten theilte cr ihr
mit, daß er nach einer anderen Stadt
übersiedele, in der er sich mit einer jun
gen Dame, dic er auf einer Geschäfts
reise kennen gelernt, verheirathen würde
»nd daß ihre Beziehungen nun ein Ende
finden müßten.
War es denn möglich? Konnte man
denn nun einfach auseinander gehen,
kalt, gleichgiltig, ohne daß das Herz
ausschrie in unendlichem Weh, brach in
nimmer zu verwindendem Schmerz?
Hcirathen? Und wenn er hcirathen
wollte, warum heirathete er denn nicht
sie ? Nie hatte sie ihn darum gedrängt,
denn um die Zukunst hatte sie sich nie
Sorge gemacht. Ganz von dem Glück
der Gegenwart erfüllt, hatte sie nie da
ran gedacht, ihn auch mit äußeren Fes
seln an sich zu ketten, hatte sie doch die
Ueberzeugung gehabt, daß das Band
der Liebe, das ihre Herzen umschlang,
unzerreißbar war. Vertrauensvoll
hatte sie ihm die Bestimmung über sie
und ihr Schicksal anheim gestellt. Wenn
er es sür g>ut halten würde, ihrem Her
zenSbunde die gesetzliche Weihe ertheilen
zu lassen, so würde er ihr das schon von
selbst eröffnen, ohne daß sie ihn darum
anging. Vorläufig war es ihr genug,
dasie ihn lieben Surfte, und daß er
sie liebte. Der Versorgung wegen aber
hatt« sie nie nach der Ehe begehrt, denn
sie war materiell unabhängig: das
Putzgeschüst, das sie seit Jahren betrieb,
trug ihr mehr ein, als sie bei ihren be
scheidenen Bedürfnissen brauchte.
Doch wenn er nun aus irgend einem
Grnnde sich entschlossen hat, z» Heira
then, warnm nahm er denn nicht sie zu
seiner Frau, sie, die doch gewiß einAn
recht daraus hatte, sie, die seit Jahreu
ihm anhing mit aller Treue, mit
aller Uneigcnnützigkcik, mit aller Hin
gabe?
Warum verschmähte er sie zur Ehe,
wenn cr sie doch seiner Liebe sür würdig
befunden hatte?
Gertrud Lorenz zermarterte sich mit
dieser Frage das siebernde Hirn. War
sie ihm nicht reich genug? Aber cr hatte
nie Spuren cines habsüchtigen Sinnes
gezeigt. Und gehörte denn Reichthum
zum Glück der Ehe? Entschädigte sie
ihn nicht sür den Mangel an Geld
dnrch die Ties« und Selbstlosigkeit ihrer
Zlineigung, durch ihren nachgiebigen
Sinn, der sich ihm in jeder Frage un
terordnete. durch ihre Fähigkeit, sich ihm
anzupassen, sich in seine Eigenheiten
und Launen zu schicken und alle seine
Wünsche, noch bevor er ihnen Ausdruck
gegeben, zu errathen? Und besaß sie
nicht" auch sonst dic Tugenden ciner gu
ten HanSsrau, Sparsamkeit und Ge
nügsamkeit?
Das alles wußte er, das hätte cr be
rücksichtigen sollen und doch doch!
In bitterem Wehe rang die Ein
same, die schnöde Verrathene, ihre
Hände. Was sollte nun werden?
Sollte sie wieder in ihre frühere Ein
samkeit und Frcudlosigkcitzurücksinken?
Einen Tag wie den andern an sich vor
über ziehen lassen in graner Eintönig
keit. olme Abwechslung, ohne Freude,
oh»e Lust?
Dic Grübelnde schauderte und das
Herz krampste sich ihr in dumpfem Leid
zusammen, während sie ihrer lichtlose»
Vergangenheit gedachte. Ihre Ju
gend halsen keine Rosen geblüht.
Früh verweist war, sie unter gleichgilti
gen Verwandten ausgewachsen, die sie
immer als eine lästige Bürde betrachtet
und mit scheelen Augen angesehen.
Ihre Kindheit war eine lange, luiuiiter
brochene Kette von Mühseligkeiten, De
müthigungen und Erniedrigungen ge
wesen.
Vergebens hatte sich ihr darbendes
Kindcrherz nach Liebe, nach Freude »nd
Lust gesehnt. Und später, als sie zu
einer Modistin in die Lehre gekommen,
war cs nicht vick Keffer geworden.
Wegen ihres scheuen, verschüchterten
Wesens hatte sie ihren Kameradinnen
als erwünschte Zielscheibe plumpen
Spottes gedient und nie hatte sie Ge
legenheit gehabt, sich einer Allersge
noisin in herzlicher Freundschaft anzu
schließen. Auch in der Folgezeit, als
sie zur Jungfrau heranreifte, war sie
ein am geblieben. Wohl fühlte sie sich
von einem unnennbaren Verlangen
durchglüht, wobl klopfte ihr Herz vor
stü mischcin Schnei, hoch auf. so oit sie
»i Romanen, die sie in Feierabend
stiindcn mit wahrem Heißhunger ver
schlang, Schilderungen süßen Liebes
glückes begegnete. Ihr war die Liebe
noch in keiner Gestalt genaht. Die
Freudlosigkeit ihrer Kindheit hatte ihrem
Wesen Herbheit und Verschlossenheit,
ihren Miene» etwas Hartes, Abstoßen
des und ihrer ganzen äußeren Erschei
nung etwas Verkümmertes ausgeprägt,
lein Wunder, daß sie Niemandes Begeh
ren erweckte.
Erst als sie mit vierundzwanzig Jah
ren sich selbstständig gemacht, waren
bessere Tage sür sie angebrochen. Ihr
kleines Geschäft war in Folge ihres
Fleißes »nd ihrer Geschicklichkeit schnell
ausgeblüht, lind sie hatte mehr an die
Pflege ihres Körpers wenden können.
Auch hin und wieder hatte sie sich ein
Vergnügen: den Besuch von Theater
und Eoneert gegönnt und unter dem
Einfluß ihrer veränderten Lebensweise
war sie körperlich und seelisch eine an
dere geworden. Ihre Formen wurden
voller, ihre Gestalt straffer und elasti
scher und ihr Gesichl belebte ein Strahl
innerer Freudigkeit und Zufriedenheit.
Und als sie endlich die Bekanntschaft
Max Burghart's, eines jungen Buch
halters, gemacht, der ihr mit schmei
chelnden Worten, mit Ansmerksamkeiten
und Artigkeiten entgegenkam, da hatte
ihr Leben vollends eine Wendnng zum
Glück genommen.
Sie hätte nie geglaubt, daß das Le.
ben so viel Süßigkeit und Wonne ent
halte, daß die Welt sogar herrlich und
lieblich sci. Ihr ganzes Wesen hatte
einen neuen Impuls enthalten: auch
während der Arbeitsstunden des Tages
verließ sie nicht auf eine Minute das
stille Glücksbewußtsein, daß alle ihre
Adern durchrann, oaS allen ihren Ge-
'?n und Wünschen die Richtung
das sie äußerlich und innerlich so
umgewandelt hatte, daß sie in Momen
ten beschaulicher Selbstcinkchr manch
mal über sich selbst erstaunt den Kopf
schüttelte. Mit schwärmerischer Hinge
bung hing sie an dem Manne, der sie
so reich geinacht, der das Sehnen ihres
armen, mißhandelten Herzens gestillt,
der Licht und Sonnenschein in ihr ver
düstertes Dasein gebracht und der ihr
jeden Tag zu einem Festtag machte.
Und nun, nun sollte mit einem
Schlage alles vorüber sein? Dahin
das himmelhohe, beseligende Glück dcr
Liebe? Nein, nein, unmöglich! Denn
nun das fühlte sie nun, da sie
die Liebe kennen gelernt, nun würde
sie, ungeliebt, nicht mehr leben können.
Nein, nein, sie konnte nicht sein ohnc
ihn, sic klammerte sich an ihn mit der
ganzen Kraft ihrer Seele, mit der gan
zen Inbrunst ihres Hcrzcns, das ohne
ihn verdorren mußte. Sie gab ihn
nicht auf, sie ließ ihn nicht frei. Wenn
sie ihm gcgcniibertrat, Auge in Auge,
wenn sie ihn mit dcr Beredtsamkeit ih
rer Liebe und ihrer Verzweiflung über
zeugte, daß sie ohne ihn zu Grunde ge
hen mußte, er würde zu ihr zurückkeh
ren.
Und ganz von dicscm Gedanken, von
dieser schmeichelnden Hoffnung erfüllt,
trocknete sie ihre Thränen und entriß
sich ihrem thatenlosen, dumpscn Hin
brüten. Ohnc sondcrlichc Schwierigkeit
gelang es ihr, den neuen Aufenthaltsort
Äax Burghart's zu erfahren und mit
fiebcrijcher Geschäftigkeit betrieb sie ihre
Vorbereitungen zur Reise.
Nicht gerade angenehm überrascht
sprang Max Burghart von dem Sopha
empor, aus dem cr sich, abgespannt vom
Geschäft heimkehrend, hingestreckt hatte,
als seine Wirlhin in s Zimmer kam um
dcr Meldung, daß ihn eine fremde
Dame zn sprechen wünsche. Eine böse
Ahnung durchzuckte ihn und als nun
ein paar Sekunden später Gertrud Lo
renz über die Schwelle trat, da runzelte
sich seine Stirn. Er verschränkte seine
Arme über dcr Brust und seine Augen
blickteil kalt und streng, als sie sich ihm
mit ausgestreckten Händen näherte. Von
ihrem Gesicht strahlte die Freude des
Wiedersehens.
„O Mar, lieber, einziger Max!"
stammelte sie, während ihre Augen sich
mit Thränen füllten.
Er aber blieb ungerührt; er erfaßte
sie bei den Händen und führte sie zum
Sopha.
„So setze Dich und nun laß uns
vernünftig miteinander reden!"
Sie folgte feinem Gebot »nd sah
ängstlich, mit Aner Miene pcinvollcr
Spannung zu ihm auf.
„Hast Du meinen Brief erhalten?"
„Ja," schluchzte sie.
„Und doch kommst Du. doch! Hast
Du Dir nicht gesagt, daß Du mich
furchtbar komprommittirst, daß Dein—
Dein unüberlegter, wahnsinniger
Schritt —"
Sie fuhr wie elekkrisirt empor. Ihr
Gesicht flammte, ihre Augen schwammen
in seuchtem Glanz.
! „Max Max, ich kann nicht leben
ohne Dich. Bitte, bitte, kehr' mit mir
zurück!"
Er biß sich auf die Lippen und
stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf.
Dann stieß cr kurz, rauh hervor:
„Ich habe Dir geschrieben, daß ich
mich verheirathen will. Es ist Zeit,
daß ich mich etablire und ohne
Frau —"
„O Max!"
Wie ein Schmerzensschrei kam es von
ihren Lippen. Seine grausanie Rück
sichtslosigkeit fuhr ihr schmerzend wie
ein Dolchstich in's Herz. In dcr
furchtbaren Angst, die sie jetzt er
faßte, vergaß sie alles Bedenken, alle
Scheu.
„Habe ich es an Liebe fehlen lassen!"
stieß sie leidenschaftlich hervor. „O Max,
nie wirst Tn eine Frau finden, die Dich
inniger und treuer liebt als ich. Erin
nere Tich, wie sehr Du mich geliebt, was
Du mir geschworen: ewige Liebe und
Treue!"
„Erinnere Dich, daß ich nie ein
höheres Gebot als Deine Zufrieden
heit, Dein Glück gekannt, daß ich Dich
geliebt habe rückhaltlos, mit voller Hin
gabe."
„Eben deshalb."
Sic taumcltc zurück und erblaßte
plötzlich; ihre Augen öffneten sich weit
in starrem Schrecken.
„Wie?"
„Eben deshalb kann ich Dich nicht
yeirathen, Gertrud. Zur Ehe gehört
mehr als Liebe, gehört auch Achtung.
Siehst Du, ich werde Dir immer ein
guter Freund bleiben und Dir gern, so
weit ich vermag, mit Rath und That
beistehen, aber hcirathen —" cr bcwcgtc
energisch Kops »nd Schnltcrn —„da-
von kann zwischen uns Beiden nie die
Rede sein."
Sie stand regungslos, lautlos, wie
erstarrt. Er aber, der während dcr
letzten Worte vermieden hatte, ihr in'S
Gesicht zu sehen, schritt, die Hände
in den Taschen, vor ihr auf und ad.
„Verzeihe mir," begann cr von
Neuem, „daß ich Dir das so offen he
raussage, aber Du wirst selbst ein
sehen. daß Offenheit in unsrer Lage
nur eine scheinbare Grausamleitist.
Soll ich Dich belüge» und mit leere»
Redensarten hinhalten? Das wäre erst
recht gewissenlos."
Wie im Krämpfe schnürte es ihr die
Brust zusammen, alles Blut drängte
sich ihr zum Herzen, sie glaubte, sie
müsse ersticken. Doch nun, nun brach
sich endlich ein Schrei, ein snrchtbarer,
gellender Schrei über ihre Lippen Bahn
und auf einen Stuhl sinkend, verfiel sie
in einen heftigen Weinkrampf. Mar
Burghart machte ein finsteres Gesicht.
„Na ja, da haben wir's!" murmelte er.
Dann trat er zu ihr heran und suchte
sie zu beruhigen. Er streichelte ihr die
Wangen nnd sprach dazwischen allerlei
Beschwichtigendes: „Siehst Du, es ist
Deiu eigenes Interesse. Wenn wir
uns geheirathet hätten, Du wärest un
glücklich geworden, sehr unglücklich,
denn das Vertrauen hätte gefehlt, ohne
das eine glückliche Ehe unmöglich ist.
So aber glaube mir wirst Du
mich bald vergessen. Du wirst es über
winden und mit der Zeit —"
Sie hörte gar nicht auf ihn, sie wai
gar nicht im Stande, irgend einen Ge
danken zu fassen, ihr Zustand grenzte
an Bewußtlosigkeit. Als der ungestüme
Ausbruch ihres Schmerzes vorüber war.
faßte sie sich an die Stirn und sah mit
verstörten Blicken um sich, als müsse y
sich erst besinnen, wo sie sich befand und
wie sie hierher gekommen. Dann er
hob sie sich schwer und auf seinen Arm
gestützt, verließ sie das Zimmer. Max
Bnrghart begleitete sie in ihr Hotel zu
rück. Glücklicherweise war der Abend
schon weit vorgeschritten und so brauchte
er nicht zu befürchten, von irgend Je--
mand erkannt zu werden.
Noch in derselben Nacht fuhr Ger
trud Lorenz nach ihrer Heimathstadt
zurück. In dem Nichtrancher-Eonpee
dritter Klasse, in dem sie Platz genom
men, saß nur noch ein einzelner Herr,
den sie beim Eintritt mit einem flüchti
gen Blick streifte, dessen Gegenwart sie
aber bald unter den auf sie einstürmen
den Gedanken völlig vergaß. In ihre
Ecke gedrückt, weinte sie anfangs leise
vor sich hin. Je mehr ihr aber das,
was ihr widerfahren, zum Bewußtsein
kam, desto reichlicher flössen ihre Thrä
nen, desto ungestümer wurden die
Aeußerungen ihres wüthenden, bitteren
Schmerzes. Sie rang in verzweifelter
Gebärde die Hände und schluchzte wie
der »nd wieder laut auf.
Ihr Reisegefährte war ein Mann
im Ansang der Vierziger mit gutmüthi
gen, sreundlichen Gesichtszügen. Ver
wundert betrachtete er die neben ihm
Sitzende von der Seite. In seinen
Mienen begann sich mehr und mehr
inniges Mitgefühl abzuspielen. Als
immer reichlichere Thränenflutheu de»
Augen feiner Coiipcgcnosiin entström
ten, begann es ihm unbehaglich zu
werden. Unruhig rutschte er aus der
harten Holzbank hin und her. Gar
zu gern hätte er etwas gethan, um die
Weinende zu trösten. Aber was?
Wenn er nur gewußt hätte, in welcher
Weise ihr zu helfen war. Aber durste
er ihr mit Fragen beschwerlich fallen ?
Würde sie nicht denken, es sei bloße
Neugier von ihm? 'Schließlich konnte
es der gnte Walter Fröhlich angesichts
der immer ungestümer sich gebärenden
Verzweiflung seiner Nachbarin jedoch
nicht mehr aushalten.
Er rückte ganz nahe an sie heran und
nun faßte er sich ein Herz nnd begann
in seinem weichsten, sanftesten Ton aus
sie einzureden. Sie möchte doch nicht
so snrchtbar weinen und ob sie ibm
nicht sagen könne, was ihr sehle. Es
schnitte ihm in s Herz, sie so völlig ver
zweifelt und hoffnungslos zu sehen und
gern würde er ihr beistehen, wenn sie
ihm nur mittheilen wolle, wie.
Sie fuhr bei dem Klauge der Män
nerstimme neben ihr erstaunt, erschreckt
aus. Ihre Thränen versiegten blitz
schnell und ihre Mienen nahmen einen
finsteren, harten Ausdruck an. Schon
öffnete sie den Mund, nm den lästigen
Frager, gegen den sich von vorherein
ein Groll in ihr regte, weil er zn diesem
verhaßten, treulosen, grausamen Män
nergeschlecht gehörte, kurz und bausch
zurechtzuweisen. Als sie nun aber in
die gutmüthigen blauen Augen, in das
von ehrlichem Mitgesühl durchleuchtete
Gesicht blickte, da verschwand diese An
wandlung zorniger Entrüstung sehr
schnell. Das Herz wurde ihr wieder
weich und ihre Thränen slossen von
Neuem.
Walter Fröhlich ergriff ihre Hand
und streichelte dieselbe, und drückte sie
und redete der Weinenden unablässig
zu. Sie solle dciilen. er >ei ihr Vater
oder ihr Bruder, und es sei ja ausrich
tiges Mitgesühl, das ihn antreibe, ihr
seinen Beistand aiizubicte l. Sie solle
ihm nur vertrauensvoll ihr Her; aus
schütten, das würde sie in jedem Fal>
erleichtern und beruhigen.
Auf Gertrud wirkten die herzlichen,
schlichten Worte wie Balsam. Im
Grunde sehnte sie sich nach Mittheilung,
nach Mitgefühl und Trost und io stand
sie nicht länger an, der gepreßten Brnst
dnrch ein wenigstens thcilwcises Ge
ständniß dessen, was man ilr ange
than, Lust zu machen.
' Walter Fröhlich tröstete sie so gut er
konnte uud wies aus die mildernde Zeit
hin. die alle Wunden heilt. Freilich
sei ihr übel mitgespielt worden, aber es
gäbe glücklicherweise noch Treue und
Redlichkeit in der Welt und einem Mar
Burghart gegenüber gezieme sich Ver
gessen und Verachtung. Jesensalls sei
er nicht würdig, daß man seinem Ver
luste so viele Thränen widme.
Alles das sagte der Sprechende in
einem so innigen, ansrichtigen Gesühls
ton, daß sich in des armen getäuschten
Mädchens Bnscn herzliche Dankbarkeit
gegen den menschenfreundlichen Trost
geber regte. Und als er gar ihre offen
herzigen Geständnisse mit n.cht minder
vertraulichen Mittheilungen aus seiner
Vergangenheit erwiderte, da vergaß
Gertrud Lorenz ihren Schmerz uud
lauschte den Worten ihres Rcisegenossen
mit wirklichem Interesse.
Er erzählte ihr, daß er Walter Fräh-
sich heiße, FadrikS-Werkmeister sei und
vor etwa einem Jahre seine Frau durch
den Tod verloren habe. Da sie sehr
glücklich mit einander gelebt so habe er
Ansangs ihren Verlust gar nicht ver
winden können. Jetzt schaue er aber
wieder hoffnungsvoll »nd frohgemuth
in die Zukunst. Es nütze nichts, sich
in fruchtlosem Gram zu verzehren.
So plauderten sie lebhaft und ver
traut mit einander, bis sie am Endziel
ihrer Reise augelangt waren, und als
sie sich zum Abschiedsgruß die Hände
reichten, da lächelten sie einander an wie
zwei alte, gute Freunde.
„Auf Wiedersehen!" sagte Walter
Fröhlich, als er sich von ihr trennte.
„Aus Wiedersehen!" tönte es von
Gertrud's Lippen wie ein Echo zurück.
Wochen und Monate vergingen.
Gertrud Lorenz hatte die bittere Erfah
rung, die sie mit Max Burghart ge
macht, längst vollständig überwunden.
Die achtungsvolle Freundschaft, die ihr
der ehrliche, brave Werkmeister von der
ersten Stunde ihrer Bekanntschaft an
eingeflößt, hatte sich allmählich in ein
wärmeres Gefühl umgewandelt. Sie
schloß sich an ihn an mit dem ganzen
Licbesbedürsniß ihres weichen, gefühl
vollen Herzens, das einen großen, un
ergründlichen Schatz von Liebe in sich
schloß, der nach den dürren Jahren ih
rer licbearmen Jugend jetzt um so
reichlicher seine Gaben spendete.
Sie bot alles auf, um ihrem tägli
chen Gast, der regelmäßig seine Abend
stunden in ihrer Gesellschaft zubrachte,
den Aufenthalt bei ihr so behaglich und
wohlig wie nur möglich zu mache». Es
schien, als-könnte sie ihm gar nicht genug
thun an Aufmerksamkeit und Zuvor
kommenheit. Sic hatte es bald weg,
welche Gerichte Herr Fröhlich des Abends
am liebsten aß, wieviele Stücke Zucker,
wieviele Löffel Rum er in seinem Thee
liebte.
Sie brannte ihm, wenn er sich nach
genossenem Abendbrot behaglich in den
bequemen Rohrsessel zurücklehnte, die
Cigarre über der Lampe an. kurz, sie
bemühte sich, ihm ein angenehmes Heim
zu schaffen. Es war ihr Bedürfniß,
für jemanden liebevoll bedacht »nd be
sorgt zn sein und je mehr Mühen sie
sich sür das Wohl des Andern unterzie
hen konnte, desto glücklicher fühlte sie
sich-
Walter Fröhlich war 10 Jahre alter
als Mar Burghart und seine Neigung
für Gertrnde Lorenz war ruhiger und
gleichmäßiger. Ein halbes Jahr ver
strich den Beiden in ungetrübter Har
monie. Da änderte sich plötzlich, ohne
ersichtlichen Grund, des Werkmeisters
Benehmen. Er wurde zerstreut, un
ruhig, oft starrte er ganze Viertclstun
den lang schweigen» vor siHhiii. Es
war offenbar, daß ihm irgend etwas
auf dem Herzen lag. ihn innerlich be
schäftigte. Gertrud Lorenz sollte nicht
lange im Zweifel sein über den Grund
dieser Bcränderuug. Eines Tnge
crschien Herr Fröhlich mit feierlicher
Miene uud sorgfältiger gekleidet als
gewöhnlich und nach einigen einleiten
den Phrasen machte er seiner Freundin
einen Heirathsantrag.
Er sei kein junger Mann mehr,
äußerte er unter Anderem, und es sei
hohe Zeit für ihn, daß er sich wieder
eine geordnete Hruslichkeit gründe. In
der Weise wie bisher könnte ihr Ver
hältniß doch nicht in alle Ewigkeit fort
bestehen und wenn er gar einmal dnrch
Krankheit an fein Zimmer gefesselt wer
den würde, was solle denn werden?
Ob sie dann zn ihm in seine Wohnung
kommen und dem boshaften Gerede der
Leute, das ihm ohnehin in tiefster
iiscele zuwider sei, ncnc Nahrung geben
wolle?
Gertrud Lorenz erschrak in tiefster
Seele. Sie hatte nie daran gedacht,
daß ihre Beziehnngen zu deni Wertmei
stcr je in ein anderes Stadium trete»
würden. Ihr wäre es am liebsten ge
wesen. wenn es so. wie es war, bis in
alle Zukunft geblieben wäre. Sie
fühlte sich glücklich und sie zitterte bei
dem Gedanken an eine Aenderung.
Ter Antrag des Werkmeisters über
raschte nnd verwirrte sie. Sie wußte
nicht, was sie darauf antworten sollte
und erbat sich vierundzwanzig Stunden
Bedenkzeit. Und dann, als Walter
Fröhlich sie allein gelassen, ging sie mit
sich zu Rathe. Sollte sie ihr bisheriges
Glück aus's Spiel setzen, um ein größe
res Glück ZU gewinnen, das ihr doch
vielleicht nicht beschicken war, dessen sie
vielleicht nicht werth war? Wurden ihre
Bergangenheit, ihre früheren Beziehun
gen zu Mar Burghart nicht immer wie
ein drohendes Gespenst ihr Eheglück bc
drolien? lind wenn auch Walter Fröh
lich sich jetzt in einer hochherzigen Aus
w.Ulun z darüber hinwegsetzte, wer weiß.
o.i nichr später doch böse Einflüsterun
gen gehässiger Nachbarn eine unheilvolle
Macht über ihn gewannen? Und dann:
Streit uud Zank, Vorwürse, bittere
Anklagen und schließlich vielleicht Tren
nung in Zorn nnd Haß? Nein, nein,
nur das nicht! Lieber wollte sie daraus
verzichten, seine Frau zu werden, lieber
wollte sie sich mit dein begnügen, was
sie jetzt besaß: seine achtungsvolle
Kreundschast nnd Zuneigung. Wenn
er sie nur liebte, wenn sie nur ein
treues Herz ihr zugethan wußte, was
fragte sie nach den Bortheilen, die ihr
vie Ehe brachte?
Da sie sich sagte, daß es sür beide
Theile peinlich sein würde, über alle
diese Dinge sich mündlich zu besprechen,
so schrieb sie am andern Morgcn einen
langen Bries an Walter Fröhlich, in
dem sie allen ihren Bedenken Ausdruck
gab. Ihr Wunsch sei, es möchte zwi
schen ihnen bleiben, wie es bisher ge
wesen. Das Glück der Gegenwart sei
ihnen sicher, das Eheglück der Zukunst
sei aber mindestens zweifelhaft. Wozu
für das sichere das Unsichere eintau
schen?
In angstvoller Spannung wartete
sie »ns den nächsten Besuch Göhlichs.
Aber es verging Tag aus Tag, ohne
daß er kam. Ging er noch immer mt!
sich zu Rathe, konnte er noch immer zu
keinem Entschluß kommen?
Endlich, nachdem eine Woche ver
striche». hielt Gertrud diese folternde
Ungewißheit nicht mehr ans. Sic
machte sich auf den Weg nach seiner
Wohnung. Eine nicht mehr junge
Frauensperson öffnete dic Flügelthür
»ud betrachtete sie mit kalten, scindseli
gen Blicke».
„Was wünschen Sie?«
„Ich möchte Herrn Fröhlich sprechen,"
stammelte Gertr»d, unwillkürlich die
Ange» senkend vor den scharfen, spioni
r ndcn Blicken der Andern. „Mein
Name ist Gertrud Lorenz."
„Hcrr Fröhlich ist nicht zu Hause,"
lautete die unfreundlich gegebene
Antwort.
Gertrud verfärbte sich. Hatte sie ihn
nicht von der Straße aus am Fenster
gesehen? Sie hätte daraus schwören »lö
gen. daß er es gewesen. Ein jäher
Schreck dlirchsuhr sie. Warum ließ er
sich vor ihr verleugnen?
„Wann kau» ich wohl sicher sein, ihn
zu treffen?" brachte sie, ganz verschüch
tert, sast weinerlich, hervor.
„Weiß ich nicht."
„Dann bitte, grüßen Sie ihn von mir
und sagen Sie ihm, ich —"
Die andere aber ließ sie nicht aus
reden, sondern schlag ihr mit höhni
schem Auflachen dic Thür vor der Nase
zu.
Gertrud wußte nicht, wie sie nach
Hause gekommen. Sie besand sich in
fieberhafter Aufregung und während
der folgenden Nacht kam kein Schlaf in
ihre Augen. Am Morgen traf ei»
Brief von ihm ein. Er enthielt, was
sie vorausgesehen. Fröhlich schrieb,
daß er »»tcr leinen Umständen das
Verhältniß mit ihr fortsetze» könne,
das sci er seiner Znkiliift schuldig. Ihr
Schreiben aber habe auch ihn wanlend
gen,acht in seiner Ansicht, daß von ciner
Ehe zwischen ihnen das Glück, das er
sich für Beide davon versprochen, zn er
warten sci und so bliebe ihm nichts
übrig, als ihr Lebewohl zu sagen und
ihr für alle ilvn erwiescnc Güte und
Frcuudlichkcit herzlich zu danke». Er
seinerseits habe beschlossen, eine Freun
din seiner verstorbenen zu heira
thcn, denn für das Junggeicllciileben
sei cr nun einmal lacht geschaffen.
Die Ehe sci der allein wiinicheus
werthe nnd zufriedenstellende Zu
stand.
Gertrud Loren; warf sich ans die
Erde nnd raufte sich das Haar. Volle
drei Tage weinte sie »>ia»shörlich: ihren
Lade» hielt sie geschlossen, denn es wäre
ihr nicht möglich gewesen, jetzt irgend
einein Fremden gegcnübcrzntrctcn. In
ihrem Herzen herrschte völlige, fas
sungslose Verzweiflung. Sie glaubte,
sie müsse uuter der Macht ihres Unglücks
den Verstand verlieren! wie eine Uilsin.
nige rang sie dic Hände und schlug sich
Stirn uud Brust.
Am Abend des dritten TageS konnte
sie es nicht mehr ertragen. Ihre Ein
samkeit bedrückte sie, brachte sie von
Sinnen. Sie erlag der Last ihres
Unglücks, das sie still in sich verschließen
mußte. Wenn sie sich noch irgend einer
mitfühlenden Seele hätte anvertrauen
könne», wen» sie eine Mutter, eine
Schwester oder eine aufrichtige Freun
din gehabt hätte, bei der sie Mitgesühl
und liebevolle Theilnahme gesunden!
vielleicht hatte sie es überwunden. So
war sie aus allem ihren Gleichgewicht
gebracht lind unmöglich erschien es ihr,
daß sie nach dicscr zwciten bitteren, nie
derschmetternden Ersahruilg noch weiter
leben könne....
Tcr Abend rm-r schon weit vorge
schritten, als Ger rud Lorenz aus der
Brücke stand, dic unweit der Stadt
über den Fluß s ihrte. Sie. war so
ganz von ihren vcizwcislungsvollcii Ge
danken beherrscht, so ganz im Bann
ihres Schmerzes, daß sie nicht merkte,
wie ein Mann, dei ihr schon eine Weile
gefolgt wa>, jede ihrer Bewegungen mit
ArguSuugeu beobachtete. Uud nun,
als sie sich über das Geländer beugte,
als sie sich anschickte, ihren Qualen ein
schnelles Ende zn machen, nun stürzte
der Fremde rasch hinzu und riß sie mit
starker Hand zurück.
„Psui! Schämen Sie sich!" herrschte
cr sie an. „Wissen Sie nicht, daß es
seig, daß cs erbärmlich ist, sich tödtcn
zu wollen?!"
Sic starrte ihn sprachlos, furchtsam
an und mechanisch, ohne den geringsten
Widerstand zu leisten, ließ sie sich vo»
ihm hinwegsühreu.
Er fragte sie nach ihrer Wohnung,
sie nannte ihm ihre Adresse und nach
kurzer Wanderung standen sie vor dem
bezeichneten Hause.
Mechanisch trat sie ein und sie schien
sich gar nicht zn wunder», daß der
Fremde ihr auf dem Fuße folgte.
„Ich will Sie Ihren Pcrwandle»
äbergeben," sagte er. „und deiijclbe»
empsehlen, ein wachsameres Auge aus
Sie zu haben."
„Ich bin allein nnd habe Niemanden
auf der Welt," entgegnete sie leise, in
zlcichmüthigcm Ton.
ES war wunderbar, welche Ruhe
uach dem furchtbaren Seelcnsturm der
letzten Tage plötzlich über sie gekom
men.
„Allein!" rief der Fremde, der sie bei
veni Schein der Lampe, welche Gertrud
Lorenz anzündete, erstaunt betrachtete.
„Allein? Und warum," sügte er mit
weichem Klange seiner Stimme hinzu:
„warum trachteten Sie sich nach dem
Leben?"
Sic blickte ihn erschrocken an und
faßte sich unwilltürlich nach der Stirn.
War es denn möglich? Sie, sie hatte
sich das Leben nehmen wollen? Und
»un kehrte ihr mit (inem Male das
volle, Darniederdrückende ihrer Lage zu
rück und deffen, was ihr geschehen.
Und dic Hände vor das Gesicht schla
gend, brach sie in ein konvulsivisches
Schluchzen aus.
Er ließ sie ruhig gewähren und erst,
als sie sich einigermaßen beruhigt l a!te,
nahm cr wieder das Wort. In schlich
ter, aber eindringlicher Rcdewciic stellte
cr ihr das Verwerfliche des Selbstmor
des vor und daß kein Leid aus Erden so
groß, daß es nicht mit der Zeit l-ber
wunden werden könnte.
Es komme, was da kommen mag.
Die Stunde läuft auch dnrch den
schlimmsten Tag!"
An dieses Wort des Dichters e«n--
nerte er sie und er sprach so beredt, so
überzeugend. daß sie sich vor ihm un>>
vor sich selbst zu schämen begann. Unt»
dann nahm er ihr das Versprechen ab,
daß sie nicht wieder so finsteren Gedan
ken Raum geben wollte.
Am nächsten Abend erschien der
Fremde wieder nnd auch die folgenden
Abende. Und es kam. wie es kommen
mußte. Gertrud Lorenz's Seele rich--
tete sich wieder auf. Neuer Lebens
muth und neues Hoffen regten sich in
ihr und süße Triebe sprossen wie Blu
men auf dem Leichenfelde abermals in
ihrem schwergeprüften Herzen auf. Und
so sehr sie sich auch wehrte »ud ob auch
ein leises Banges vor der Zukunft sie
zuweilen beschlich, sie konnte nicht an
ders—wollte sie leben, so mußte sie auch
lieben....
Treue Herzenseinfalt.
Die ehemalige englische Schauspiele--
Miß Mellon, nachmalige Herzogin
von St. Albans, erzählte gern in ihren
sashionablen Gesellschaften folgende
rührende Geschichte aus ihrer Jugend;
Als ich noch ein armes kleines Mädchen
war und für dreißig Schillinge die
Woche sehr hart arbeiten mußte, ging
ich während der Feiertage nach Liver
pool. um in einem neuen Schauspiele
mitzuwirken. Ich spielte die Rolle
eines Waisenmädchens, das auf den
äußersten Grad der Armuth gesunlen
war. Ein herzloser Geschäftsmann
verfolgt das arme Kind wegen einer für
deffen Verhältnisse bedeutende Schuld
und beharrt darauf, es iu's Gefäng
niß zu fetzen, wenn nicht Einer für das
selbe Bürgschaft leiste. Das Mädchen
erwiedert: „Dann bin ich ohne Hoff
nuno, denn ich habe keinen Freund auf
der Welt. „Was, es will Niemand
für Tich bürgen, um Dich vom Gesäng--
niß zu retten?" sragt der strenge Gläu
biger.— Ich habe Ihnen gesagt, daß
ich keinen Freund auf Erden besitze"'
hatte ich in der Rolle ihm zu erwiedern.
Doch kaum hatte ich in weinendem
Tone diese Worte hervorgebracht, als
ich einen Matrosen von den hintersten
Plätzen her über Bänke und Barrieren
klettern, über das Orchester nnd die
Rampe wegsetzen und auf der Bühne
neben mir erscheinen sah. „Ja," rief
er, „Sie sollen wenigstens einen Freiing
haben, armes Mädchen, der bis zu
jedem Betrage sür Sie Bürge werden
will!" Und dabei sprach sich in seinem,
rauhen, sonnenverbrannten Gesichle die
tiesste Bewegung ans. „Sie aber."
fügte er gegen den harten Gläubiger
gewendet, drohend hinzu, „Sie werden
meine Bürgschaft annehmen und das
arme Ding gehen lasten, oder ich breche
Ihnen, wenn Sie herauskommen, alle
Knochen im Leibe entzwei!" Man
kann sich die Aufregung denken, welche
diese «szene im ganzen Hause hervor
rief.
Gedankenklein.
Gern will ich meinem Feind vergeben.
Die Sache wird mir schwer nicht
Denn was er sann zu meinem Bösen,
Bergeblich ist es stets gewesen.
Wenige Menschen sind mit ihrem
Schicksal zufrieden, noch Wenigere niit
ihrem Verstands unzufrieden.
Wie dünn bevölkert müssen Holl' und
Himmel sein,
Woserne dic (Gerechtigkeit allein
Das Loos bestimmt der Erdeiisöhne;
Tie Meisten sind, betrachtet man' sie
recht.
Für diesen viel zu schlecht
Und viel zu gut sür jene.
Von vorn sängt stets zu lernen an
Ein Jeder, der da wird geboren;
Was Eltern Thörichtes gethan.
Geht sür die Kinder ganz verloren.
Wiesich im Kopse des
biederen Arabers Muhammed den Jeser
die französische Republik malt, davow
wissen algerische Zeitungen Folgendcs
zu erzähle». Zwischen einem französi
schen Journalisten, der augenblicklich in
Afrika weilt, und unserem Araber ent
spann sich unlängst diese
Der Araber: „Wie geht es der Frai«
Regierung?" „Du redest dumincs-
Zeug, die Regierung ist keine Fran."
„Was sagn Du? Dic Regierung
wäre ieiuc Frau?" Und der Araber zog
ein Soustück aus der Tasche und zeigte
dem Franzoscii'triumphirend das Bild
auf der Münze. „Wie kannst Tu das
behaupten? Ist sie noch keine Frau ?
Dic Frau Regierung befindet sich doch
hier auf dcm Sou. Ja, als der Na
poleon noch da war. da war die Regie
rung ein Manu, aber jetzt ist sie eine
Madame."—„Du Narr," erwiderte der
Journalist, „die Regierung oder die
Republik ist kein lebendes Wesen, son
dern ein unfaßbares Ding. Erst war
Herr Thiers ihr Präsident, dann der
Marschall, später Herr Gresy und
schließlich unser Earnok." Ter Araber
schüttelte sich vor Lachen: „Du mach!
mich nicht dumm," sagte er, „dic Ma -
dame ist auf dem Sou. also ist sie die
Regierung. Erst hat sie den Herrn
Ter geheirathet, später den MacMahon,
dann nahm sie den Moussi Grouvy und
jetzt lebt sie mit Moussi Carnotte
jammen!"
Eine starke Familie.
Dienstmädchen (zn einer Nachbarin):
„Einen scheenen Gruß von Madame,
und unsre Else is noch nich nach Haus
jetommen: Sie möchten ddch so jut sein
und Ihre Kinder 'mal nachzählen, ol>
iich unsre Else damang is."
Dic Mode ist eine Köni >
zin, die den Geschmack zum Minister
hat.